Anatomie einer Leerstelle

Hisham Matar erzählt in „Geschichte eines Verschwindens“ vom spurlosen Verlust eines Vaters

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt keine Grabstätte, und es gibt keine Todesnachricht. Der Mann bleibt einfach unauffindbar. In seinem neuen Roman „Geschichte eines Verschwindens“ erzählt der in London lebende libysche Autor Hisham Matar, wie ein Sohn seinen Vater verliert, ohne dass er je erfährt, wohin dieser gegangen oder wozu er gezwungen worden ist. Eine einfache Meldung in der Zeitung beschreibt das Geschehen: „In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages wurde der Exminister und bekannte Dissident Kamal Pascha el-Alfi aus der Wohnung der in Genf ansäßigen Béatrice Benameur entführt.“ Polizei und Politik vermögen dem nichts weiter hinzuzufügen. Der Mann ist spurlos verschwunden, der vierzehnjährige Sohn Nuri bleibt vaterlos zurück – eine Leerstelle im Herzen, die ihm die Selbstsicherheit raubt im Umgang mit andern Menschen.

Mit der kurzen Nachricht bricht eine Welt zusammen. Eine Weile noch hält sich die Hoffnung. Der Sohn glaubt zu spüren, wie ihn der Vater – ein unsichtbarer Schatten an seiner Seite – zurück an die Schule begleitet. Dann aber verebbt das Gefühl wie ein schwächer werdendes Echo und der Sohn fühlt sich immer häufiger einsam und allein.

Auf eine andere Probe wird Mona gestellt, die junge Frau des Vaters und Nuris Stiefmutter. Aus der kurzen Meldung muss sie herauslesen, dass sie nicht die einzige Frau im Leben des Verschwundenen gewesen ist. Ein Schleier der Melancholie überzieht auch ihr Leben.

Eine Revolution war es, die Kamal Pascha el-Alfi, den Diener des gestürzten Königs, aus Libyen vertrieb. Er ging mit seiner Familie nach Kairo ins Exil, war selbst aber nur selten zu Hause. Sein Sohn Nuri vermochte diese Reisen nicht recht zu verstehen, doch erst als er mit zwölf seine Mutter verlor, wurde die väterliche Abwesenheit zur Quelle einer schmerzlichen Sehnsucht. Später bilanziert er dieses schwierige Verhältnis: „Unserer Beziehung fehlte, was ich immer für möglich gehalten habe, wäre uns genug Zeit geblieben […]: emotionale Offenheit und Leichtigkeit.“ Das treue Kindermädchen Naima, das ihn rührend umsorgt, ist nur ein unzulänglicher Ersatz.

Hisham Matar verklammert, aus Nuris Optik erzählt, zwei Geschichten, die zeitlich verschoben eine vergleichbare Bewegungsrichtung haben. Nach seinem Vater verliert Nuri allmählich auch Mona, der anfängliche Zauber zwischen ihnen verliert unaufhaltsam seine Kraft. Dabei war es Nuri, der Mona zuerst entdeckte. Zusammen mit seinem Vater verbrachte er im Hotel „Magda Marina“ unbeschwerte Ferien – als ihm Mona ins Auge sprang. Die hübsche Europäerin, die arabisch sprach, zog den Jungen unwillkürlich an, ohne dass dieser sich der Reize des weiblichen Geschlechts ganz bewusst gewesen wäre. Mona reagierte auf das stille Werben Nuris – und so wurde auch sein Vater auf Mona aufmerksam. Sie kamen miteinander ins Gespräch. Er war 41, sie 26, der Junge 13. Wenig später heirateten sie und nahmen in London Wohnsitz, derweil Nuri in ein exzellentes englisches Internat kam. Distanzen blieben so ein zentrales Moment ihres Familienlebens, einzig einen Teil der Ferien verbrachten sie gemeinsam – bis der Vater in Genf verschwindet. In diesem Moment der Trauer und Bestürzung kulminiert auch die intime Beziehung zwischen Nuri und Mona, bevor sie unaufhaltsam zu erodieren beginnt.

Einen ähnlichen Stoff hat Hisham Matar bereits im ersten Roman „Im Land der Männer“ (2007) behandelt, damals noch in Libyen angesiedelt. Gegenüber dem kleinen Suleiman, der aus naiver Kinderperspektive einen scharfen Blick auf politische und patriarchale Verhältnisse wirft, ist Nuri ein paar gewichtige Jahre älter. Zu Mona zieht ihn ein noch unbestimmtes erotisches Verlangen, das gewissermaßen auf den bewunderten Vater übergeht und von diesem besetzt wird. Mit dessen Verschwinden schwindet auch die Anziehung Monas. Die Familie zerfällt, verliert sich im Nebel des englischen Exils.

Eine zweite Differenz zum Debütroman liegt in der zeitlichen Verschiebung des Geschehens. Während „Im Land der Männer“ den tatsächlichen Ereignissen näher ist – von Matars Vater fehlt seit 1995 jedes Lebenszeichen –, vollzieht sich das Geschehen im neuen Roman einige Jahre früher, in den 1970er-Jahren. Stärker fiktionalisiert legt Matar hier den Fokus auf Nuri und sein engstes Beziehungsnetz. Er fühlt sich frühzeitig auf sich selbst gestellt, verraten und verlassen. Darob verunsichert, möchte er am liebsten selbst unsichtbar werden, in der Menge verschwinden.

Mona steigert schließlich diese Einsamkeit, indem sie ihm auch noch die leibliche Mutter raubt: Nicht die verstorbene Gattin des Vaters habe ihn geboren, wie er natürlich glaubt, sondern das Hausmädchen Naima, das ihn wie ein eigenes Kind umsorgt. Seit Vaters Verschwinden hat er sich allerdings nicht weiter um Naima gekümmert und ihren Schmerz gering geschätzt.

So legt sich ein Deckel des Verrats und der Melancholie über diesen Roman, der sich erst gegen Ende ein wenig hebt, als Nuri mit 25 beschließt, in die väterliche Wohnung nach Kairo zurückzukehren. Unvermittelt kehrt Naima in sein Leben zurück. Sie bleibt aber das Hausmädchen, das sie immer war, und führt lediglich treusorgend den Haushalt. Derweil stellt sich Nuri vor den Spiegel, um die väterlichen Anzüge anzuprobieren.

Matars Roman leistet eine sanfte, melancholische Entzauberung des Vaterbildes, ohne diesem Charme und Leidenschaft zu rauben. „Geschichte eines Verschwindens“ ist ein beeindruckendes Buch, das nur hin und wieder ein wenig idealisierend wirkt. Am Ende schlüpft Nuri selbst in die väterliche Rolle und verwandelt sich so in sein verlorenes Vorbild. Vielleicht liegt darin ein Weg, auf dem die Abwesenheit, das Nichts auszuhalten wäre.

Titelbild

Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
191 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630872452

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