Die seltsame Ehe zwischen dem Bauern und der Frau aus dem Meer

Andrea Camilleri erzählt ein altes Märchen neu

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sorgsam testet er die Erde: „Nach jedem Schritt bückte er sich, nahm ein Bröckchen Erde zwischen Daumen und Zeigefinger, legte es sich auf die Zunge und kostete es.“ Gut ist die Erde, wenn auch etwas hart und verwildert, und es steht ein alter Olivenbaum da, unter dem man liegen und vielleicht auch sterben kann: Nach fünfundzwanzig Jahren in Amerika kommt Gnazio Manisco im Januar 1895 zurück in die Heimat, nach Vigàta in Sizilien, am 3. Januar 1895. Dafür hat er hart gearbeitet, gespart und mit dem Geld von der Versicherung für einen Arbeitsunfall kann er sich seinen Traum erfüllen: ein eigenes Stück Land.

Ein paar Jahre lebt er allein, baut sich ein Haus, kauft Vieh, baut Weizen und Gemüse an. Dann will er heiraten. Nach mehreren Anläufen verkuppelt die Kräuterfrau und Heilerin Donna Pina ihn mit der wunderschönen 32-jährigen Maruzza. Als diese ihm ein Foto zeigt, dreht sich ihm der Kopf. Warum sie denn noch nicht verheiratet sei? Weil sie manchmal glaubt, eine Sirene, eine Meerjungfrau zu sein. Sie heiraten nach einem seltsamen Ritus, den Maruzzas hundertjährige Urgroßmutter initiiert, in einer Vollmondnacht. Er baut ihr zwei Zisternen voll mit Meerwasser, damit sie darin baden kann, wenn sie wieder denkt, eine Sirene zu sein.

Es ist eine mit eigenen Kinder gesegnete glückliche Ehe. Immer wieder baut Gnazio neue Räume an, nach einem strengen Maß, das auf der Zahl drei beruht: drei mal drei Meter ist das ursprüngliche Haus, sechs Meter davon entfernt der Stall, drei Meter daneben das Toilettenhaus… Nur in Richtung Meer gibt es keine Fenster, weil Gnazio das Meer nicht erträgt. Alle paar Monate badet Maruzza in den Zisternen, manchmal singt sie, später auch ihre Tochter, Lieder ohne Wörter in die riesige Muschel, die sie bei sich trägt.

Es ist wirklich ein Märchen, das Camilleri erzählt, eine uralte Geschichte von einem Bauern, der eine Meerjungfrau heiratet. Der Bauer Minicu habe ihm, wie Camilleri im Nachwort schreibt, „ans Herz gelegt, die Augen zu schließen, ‚um die zauberischen Dinge zu sehen‘, die nämlich, die man mit geöffneten Augen normalerweise nicht sieht.“ Und es geht gut aus, das Ehepaar ist glücklich miteinander, die Kinder sind mal brav, mal nicht, der eine Sohn sieht immer neugierig in die Sterne, bekommt vom Vater ein Fernrohr geschenkt, studiert später Astronomie und geht nach Amerika, um dort ein riesiges Teleskop zu bauen. Naja, nicht für alle geht es gut aus: Der neugierige Sohn eines Nachbarn verschwindet eines Tages, und Gnazio findet beim Säubern der Zisterne einen Knochen, den er nicht identifizieren kann. Wer weiß, was passiert ist?

Titelbild

Andrea Camilleri: Die Frau aus dem Meer.
Übersetzt aus dem Intalienischen von Moshe Kahn.
Kindler Verlag, Berlin 2011.
160 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783463405605

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