Fahrstuhl zum Schafott

Über den Zusammenhang zwischen dem Skyscraper-Index und den Wirtschaftskrisen

Von Stefan FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 2008, die Börsenpanik steuerte auf ihren Höhepunkt zu, gab Dubais staatliche Projektgesellschaft Nakheel bekannt, einen Wolkenkratzer mit einer Höhe von mehr als einem Kilometer bauen zu wollen, den Nakheel Tower. Schon mit dem Bau künstlicher Inseln in Palmenform hatte das Unternehmen gezeigt, dass es vor keinem Wahnsinn zurückschreckt. Der Nakheel Tower mit seinen mehr als zweihundert Stockwerken sollte im Zentrum des Emirates entstehen und Wahrzeichen eines neuen Stadtquartiers werden.

Im Parkhaus des Gebäudes, in dem außer Wohnungen auch Geschäfte und Hotels geplant wurden, sollte Platz für zehntausend Autos sein. Der Außentemperaturunterschied zwischen der untersten und der obersten Etage des Hochhausturmes hätte nach den Berechnungen der Ingenieure bis zu zehn Grad Celsius betragen, die Architektur sollte islamische Design-Elemente enthalten und unter anderem Bezug auf die Alhambra in Granada und die Promenade der marokkanischen Stadt Tanger nehmen. Doch Allah sei’s geklagt, daraus wurde nichts, die Wirtschaftskrise hat einen Strich durch die luftigen Pläne gemacht.

Aber bereits jetzt steht in Dubai das höchste Gebäude der Welt, der Burj Dubai. Anfang 2009 war er schon über siebenhundert Meter hoch – und es sollten noch mindestens hundert oder zweihundert Meter hinzukommen. Auch in Paris werden wieder Wolkenkratzer geplant, nachdem der Stadtrat im Jahr 2008 eine unter dem früheren Bürgermeister Jacques Chirac erlassene Verordnung außer Kraft gesetzt hat, die seit 1977 die Höhe neu errichteter Gebäude auf 37 Meter begrenzt hatte. Zwanzig Hochhäuser werden die Pariser Skyline in den nächsten Jahren verändern, doch in einer Liste der höchsten Gebäude der Welt werden sie nicht auftauchen. Von den zwanzig größten Wolkenkratzern, die derzeit im Bau oder in Planung sind, wird nur einer in Europa stehen, der über vierhundert Meter hohe Föderationsturm in Moskau. Drei werden in den USA errichtet, sechs in Ostasien und zehn allein in der Golfregion, wo seit einigen Jahren ein fieberhaftes Wettrennen um das höchste Bauwerk im Gange ist. Die Höhe des Burj Dubai wird möglicherweise übertroffen werden, denn der saudische Prinz Al-Waleed bin Talal möchte sein in der saudischen Stadt Jeddah geplantes, 20 Milliarden Euro teures Projekt „Kingdom City“ ebenfalls mit dem höchsten Wolkenkratzer der Welt zieren. Al-Waleed hat tiefe Taschen, doch angesichts eines stark gefallenen Ölpreises und eines für den Scheich etwas unglücklich verlaufenen Engagements bei der Citigroup kann man auch in diesem Fall nicht sicher sein, was daraus wird.

Die größte Finanzkrise der Nachkriegsgeschichte trifft zusammen mit dem größten Wolkenkratzerboom. Ein Zufall? Vielleicht. Doch möglicherweise gibt es einen Zusammenhang. Dies behauptete Andrew Lawrence schon 1999. Lawrence war damals Immobilienanalyst bei der Investmentbank Dresdner Kleinwort Benson in Hongkong und hatte eine bemerkenswerte Korrelation entdeckt: Immer wenn jemand ankündigt, einen Wolkenkratzer mit Rekordhöhe bauen zu wollen, ist eine große Wirtschaftskrise nicht weit entfernt. Damals war die Asienkrise gerade überstanden. „Die hellsten Köpfe der globalen Ökonomie, die des Internationalen Währungsfonds eingeschlossen, haben Prügel dafür kassiert, dieses große Ereignis nicht vorhergesehen zu haben. Wenn Sie wirklich wissen wollen, was mit der Weltwirtschaft vor sich geht, dann schauen Sie einfach nach oben“, empfiehlt Lawrence. „In den letzten 100 Jahren fiel die Errichtung des höchsten Gebäudes der Welt in einer unheimlichen Weise zusammen mit den Krisen der Weltwirtschaft.“[1] (Übersetzung der Zitate durch den Autor.)

Nicht also erst der Bau, sondern das bloße Vorhaben ist schon ein Zeichen größter Gefahr. Warum? „Ich glaube, es markiert einen ausgedehnten Boom, der Leuten die Möglichkeit gibt, das weltgrößte Gebäude zu entwerfen, seine Finanzierung zu sichern und es zu bauen“[2], sagt Lawrence. Einem solchen Boom folgt in der Regel ein jäher Absturz. Historische Beispiele scheinen die Theorie zu bestätigen.

1906 verkündete der Nähmaschinenhersteller Singer, in New York das höchste Gebäude der Welt errichten zu wollen. Ein Jahr später brach nach dem Zusammenbruch des Knickerbocker Trusts die große Bankenpanik von 1907 aus, woran eine schwere Rezession anschloss. 1908 wurde der Singer Tower fertiggestellt. Der in eine Höhe von 187 Metern emporragende schlanke Turm fußte auf einem schon vorher existierenden Gebäude und hatte eine üppig dekorierte Spitze, die sich wie die eines Leuchtturms optisch vom Rest des Baus abhob. In ihr residierte die Firma Singer, nur die Stockwerke unterhalb des 31. Stocks wurden vermietet. Für Besucher gab es im 40. Stock eine Aussichtsplattform, der Eintritt kostete vierzig Cent. Nur ein Jahr später wurde der Bau vom Metropolitan Life Tower (213 Meter) übertroffen (der Singer Tower erzielte 1968 noch einmal einen Rekord, nämlich als das höchste Gebäude, das jemals abgerissen wurde).

Ein damals sehr erfolgreicher Betreiber von Billigläden errichtete 1913 am Broadway das Woolworth Building. Die erklärte Absicht des Firmengründers Frank Winfield Woolworth war es, den Metropolitan Life Tower um mindestens fünfzehn Meter zu übertreffen und der Stadt ein neues Wahrzeichen zu geben. Das an eine gotische Kathedrale erinnernde Woolworth Building hat eine Höhe von 241 Metern und brachte „eine erste Blütezeit des Hochhausbaus in New York zu einem fulminanten Abschluss. Dem Architekten Gilbert gelang es, aus dem ehrgeizigen Vorhaben des Bauherrn genau jenen Typus des Hochhauses zu entwickeln, der in den nächsten Jahren prägend werden sollte. Architektur wurde zum weithin sichtbaren Symbolträger des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens.“[3] Wieder folgte eine Rezession.

Die Jahre von 1929 bis 1931 waren nicht nur der Beginn der Großen Depression, sondern auch des großen Wolkenkratzerbaus. Das von der Bank of Manhattan in Auftrag gegebene Gebäude 40 Wall Street (der heutige Trump Tower) war nach seiner Fertigstellung im April 1930 einen Monat lang der höchste Wolkenkratzer der Welt. Am 27. Mai 1930 übernahm das 319 Meter hohe Chrysler Building den Titel. Die Eröffnungszeremonien fanden in derselben Woche statt: „Die beiden höchsten Bürogebäude der Welt wurden letzte Woche in Manhattan eröffnet. Es sind das Chrysler Building, 1,046 Fuß und 1 ½ Inch, an der Lexington Avenue, 42. Straße, und das Bank of Manhattan Building, 927 Fuß und ½ Inch, an der Wall Street Nummer 40. Zu der Chrysler-Zeremonie kam Alfred Emanuel Smith, dessen Empire Trust Building, das sich gerade im Bau befindet, höher sein wird als das von Mr. Chrysler.

Das Chrysler Building hat 77 Stockwerke, ein in der Uptown dringend benötigtes elegantes Restaurant zum Mittagessen namens Cloud Club und eine Wandmalerei von Edward Trumbull (sie zeigt, Energie und ihre Anwendung durch den Menschen zur Lösung seiner Probleme‘). Im Bank of Manhattan Building gibt es 71 Stockwerke, einen Club in der 55. Etage und Wandmalereien von Ezra Winter (sie zeigen Szenen aus der Vergangenheit der Wall Street). Sehr modern ist die rostbraune Lobby des Chrysler Buildings. Schlicht in schwarzem und weißem Marmor ist das Erdgeschoss des Bank of Manhattan Buildings.

Das Chrysler Building ist ein großartiger Ausdruck eines Vermögens, das mit Automobilen aufgebaut wurde. Alteingesessene Manhattaniten erinnerten letzte Woche daran, dass der Bauplatz vor 50 Jahren eine Ziegenweide war. Moderne Manhattaniten erkennen es als das schönste Bürogebäude, das die Uptown haben kann, und bewundern Texas Co. für den Entschluss, 14 der Stockwerke für eine jährliche Summe von 583.000 Dollar zu mieten.“[4]

Schon ein Jahr später wurden beide vom Empire State Building übertrumpft, das auf 381 Meter kam und sogar einen Anlegemast für Luftschiffe hatte. Alfred Emanuel Smith, Chef der Empire State Building Company, hatte 1929, wenige Wochen vor dem großen Crash, geschwärmt: „Es wird 60.000 Menschen beherbergen können, das ist ungefähr die Hälfte der Einwohner der Stadt Syracuse, soviel wie die Bevölkerung der Stadt Troy und dreimal mehr als die der Stadt Watertown.

Nur 24 Gemeinden der 63, die es in diesem Staat gibt, haben eine Bevölkerung, die größer ist als die Zahl der Menschen, die dieses Gebäude unterbringen kann.“[5]

In der zweiten Welle des Wolkenkratzerbaus zwischen 1970 und 1974 wurden mehr als 25 Gebäude mit mehr als 50 Stockwerken errichtet. Die beiden höchsten waren das New Yorker World Trade Center (417 Meter) und der Sears Tower in Chicago (442 Meter). Die Zwillingstürme wurden 1972 fertiggestellt, der Sears Tower 1974. 1973 stürzten die USA und viele andere Länder der Welt in eine Wirtschaftskrise.

Das Jahrzehnt war geprägt von Stagnation – steigenden Preisen, stagnierender oder fallender Produktion und hoher Arbeitslosigkeit –, dem Verfall des US-Dollars, zwei Ölkrisen und dem Beinahebankrott der Stadt New York im Jahr 1975. Der Sears Tower blieb das weltgrößte Gebäude bis 1996, als er von den 452 Meter hohen Petronas Towers in Malaysia übertrumpft wurde – ein Jahr vor der Asienkrise.

Lassen sich also Finanzkrisen mit der von Lawrence „Skyscraper-Index“ genannten Theorie vorhersagen? Jeder weiß, dass nicht jede „Theorie“, die rückblickend eine hohe Aussagekraft zu haben scheint, auch auf einem ursächlichen und erklärbaren Zusammenhang fußt. Börsianer kennen den „Januar-Effekt“: So wie der Januar werde das ganze Börsenjahr, glauben manche. Tatsächlich ist dies überraschend häufig der Fall – ob es aber handfeste Gründe gibt, ist umstritten. Denn eine scheinbar hohe Trefferquote kann auch auf Zufall beruhen. Das gilt etwa für den „Superbowl-Indikator“. Er besagt: Gewinnt eine Footballmannschaft aus der American Football Conference (die frühere AFL) die wichtigste Footballtrophäe, dann wird das nächste Börsenjahr ein schlechtes. Siegt hingegen eine Mannschaft der National Football Conference (die frühere NFL), steigen die Aktien im folgenden Jahr. Seit Anfang der Sechzigerjahre war dieser Indikator in 85 Prozent der Fälle verlässlich, trotzdem handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Theorie.

War die Wolkenkratzertheorie in den letzten hundert Jahren eben falls nur zufällig richtig? Statistiker würden zumindest geltend machen, dass die Zahl der Beispiele zu gering ist, um relevant zu sein. Dennoch verdient die These Aufmerksamkeit, denn einen ökonomischen Zusammenhang könnte es durchaus geben. Freilich nicht dergestalt, dass der Turmbau die Krise auslöst. Es geht um die Bedingungen, die vorhanden sein müssen, damit ein tollkühner Mensch Geldgeber überzeugen kann, sein Rekordprojekt zu finanzieren. Denn Leute, die hoch hinaus wollen, gibt es zwar zu allen Zeiten, doch nur alle paar Jahrzehnte finden sie Kreditgeber, die ihren Traum finanzieren – und diese historische Ausnahmesituation könnte im Konjunkturzyklus einen Wendepunkt darstellen, der der Theorie einen Sinn gibt.

Die typische Situation, in der ein Rekordwolkenkratzer geplant wird, sieht so aus: Die Zinsen sind seit Jahren niedrig, die Wirtschaft boomt. In der Folge haben Unternehmen expandiert und benötigen mehr Büroraum, was stark steigende Büromieten nach sich zieht. Gleichzeitig ist Baugrund sehr teuer, was es finanziell attraktiv macht, in die Höhe zu bauen statt in die Breite. Die Finanzierung eines Megaprojekts ist in der Endphase eines Booms einfach, denn Kredite sind reichlich verfügbar und billig. Dass die Entwicklung der Büromieten in der Vergangenheit keine Gewähr für die Zukunft bietet, kommt weder dem Bauherrn noch den Banken in den Sinn, die höchst risikobereit sind, da sie sich an die letzte Krise kaum mehr erinnern können. In dieser Phase des kreditgetriebenen Booms und Übermuts ist der Absturz oft sehr nahe. Der Wolkenkratzer aber wird weitergebaut und womöglich mitten in der Krise fertiggestellt. So wie das Empire State Building 1931, das in den folgenden Jahren wegen der vielen leerstehenden Stockwerke auch „Empty State Building“ genannt wurde.

[1] „Investor´s Business Daily“, 6.5.1999.

[2] „South China Morning Post“, 18.3.2007.

[3] Andres Lepik: „Wolkenkratzer“, München 2005, S.39.

[4] „Time“, 9.6.1930.

[5] „Time“, 9.9.1929.

Titelbild

Stefan Frank: Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise.
Conte-Verlag, Saarbrücken 2009.
180 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783936950946

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