Zu zweit fast stärker als der Tod

Michael Kumpfmüller zeigt uns in seinem neuen Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ Franz Kafkas letztes Lebensjahr im Licht von Lebensmut und neuer Liebe

Von H. Ernst StöckmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von H. Ernst Stöckmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.“ Ist es nicht verwegen, ja paradox, dass ausgerechnet dieser Tagebucheintrag Franz Kafkas aus dem Jahr 1921 für den Titel eines biografischen Romans herhält, dessen Spielraum durch ein tragisches Ende vorgezeichnet und begrenzt ist? Ist es nicht. Heroen jedenfalls sprechen nicht so, Kämpfer vielleicht, Wissende sicherlich; zu diesen Letzteren hat Kafka zeitlebens unbedingt gehört, und als solcher wird er uns im vorliegenden Roman aus wechselnden Perspektiven gezeigt: Hier leidet einer, und ist doch nicht unglücklich, denn immer weiß und sieht er.

Schon ein näherer Blick in Kafkas Tagebücher zeigt, dass der mit Werk und Persönlichkeit des Dichters wohlvertraute Autor Michael Kumpfmüller mit diesem Titel eine weitreichende, geradezu credohafte Sicht Kafkas aufgespürt hat; sie erscheint charakteristisch ebenso für dessen Schreiben wie als Formel des (Er-)Lebens. Denn nur wenige Zeilen über der genannten Tagebuchstelle hat dieser von der Gewissheit gesprochen, dass es „keine für mich günstige Lösung“ gibt – ein Satz, der sich ebenso auf Kafkas Selbsteinschätzung als gescheiterte Schriftstellerexistenz beziehen lässt, wie er den seit 1917 chronisch Kranken nachgerade prophetisch auf Tuchfühlung bringt mit seinem schicksalhaften Ende durch Kehlkopftuberkulose im Sommer 1924. Und doch ist Herrlichkeit möglich! Nicht allein im Sinn des schriftstellerischen Trotzdem gegenüber äußeren wie inneren Lebensbedrängnissen, die Kafka auf geradezu beispiellose Weise zeitlebens unüberwindbar schienen: „Gespenster“. Sondern auch in einem ganz konkreten, erlebbaren Sinn. Als Herrlichkeit, die einen rufbaren Namen hat: Dora Diamant, die letzte große Liebe und Gefährtin des Dichters in seinem letzten Lebensjahr.

Sommer 1923, Ostseebad Müritz, „Pension Glückauf“, der seit einem Jahr wegen chronischen Lungenleidens pensionierte „Doktor“ Franz Kafka – so führt ihn der Erzähler leicht distanzierend ein – verbringt hier für ein paar Wochen seinen Erholungsurlaub: So war der Plan, und alles kommt anders. Denn am Strand das verliebt-bezaubernde Augenpaar jener schönen Fünfundzwanzigjährigen, die in Sichtweite von Kafkas Quartier ein Ferienheim des Berliner Jüdischen Volksheims betreut, es gehört nicht irgendeiner, nur mit Blicken Bezaubernden. Dieses den Dichter mit Zukunft beschenkende Lächeln gehört Dora, orthodox erzogene, hebräisch betende Jüdin aus eben jenem Osten, von dem Kafka seit Jahren wie von seiner heilsbringenden Heimat träumt: Palästina. Der Fortgang des Geschehens – immer behutsam drängend, nie überstürzt – lässt keinen Zweifel aufkommen: Für Franz wie seine schon bald „gute Fee“ zählen weder Krankheit noch beruflich-materielle Nöte, kein Hindernis ist zu unvernünftig hoch, damit das Wunder geschehen kann – dem Käfig des Prager Elternhauses (mit vierzig Jahren!) endgültig zu entfliehen mit einer liebenden Frau an der Seite.

Aufbruch mit letzter Kraft, keine Verzweiflungstat, und Berlin soll es sein, ausgerechnet Berlin! Detailreich und drastisch genug sind in dem ruhig sich ausbreitenden Erzählgeschehen die existenziellen Nöte des Paars ausgeführt: In der inflationsgeplagten kalten Metropole wärmt fast nur Liebe das lange Zeit heimliche Paar, den täglichen Überlebenskampf diktieren der Mangel an Nahrungsmitteln und Kleidung, unfassbare Geldnot, mehrfache (für den Dichter im Patientenstatus nachgerade tödliche) Wohnungswechsel, immer wieder Hustenanfälle und Bettlägerigkeit, Fieber und streikender Appetit, die Franz’ Körper bereits auf jeden Anblick erschütternde 50 Kilogramm abgeschwächt haben: Nichts von alldem, das die beiden überreden könnte, das so teuer erkaufte, so bescheidene Berliner Glück aufzugeben für Sicherheit und neue (alte!) Abhängigkeit. Und diese ganze Unruhe des Lebens trägt beharrlich ein ruhiger, fast beruhigender Erzählfluss aus Monologen und Perspektiveinblendungen, der nahezu ohne beschleunigende Dialoge auskommt. Selbst als Kafka zum Unrettbaren wird – Kranken-Stationen einschließlich des verhassten Prag bilden den Schluss der Odyssee –, bleibt die Atmosphäre beherrscht wie tobende See in einem Aquarellgemälde. Und da sehen wir Dora, die Hingebungsvolle, wie sie hoffend, nicht zerstört bis zum Ende am Krankenbett wacht. Es gilt schließlich den gemeinsamen Traum von der Herrlichkeit des Lebens zu bewahren.

Eine Liebe, die mit dem Rücken zur Wand der Lebenszeit steht, und in der die Kräfte so ungleich verteilt sind, dass die klassischen Erzählmuster des Liebesromans von vornherein ausscheiden. Noch einmal gefragt: Lässt sich, wie lässt sich aus diesem Stoff ein Gewebe gewinnen, das durch alle spröde Vergeblichkeit hindurch immer wieder Herrlichkeit hervorschimmern lässt? Sämtliche Elemente dieser aufwühlenden Lebensgeschichte Kafkas – sie finden sich so beispielsweise auch in der exzellenten Biografie von Reiner Stach (2002, 2008). Was bei Stach jedoch – biografisch authentisch – zunehmend die Züge einer bedrückenden Ausweglosigkeit annimmt, das hält sich in Kumpfmüllers Roman – biografisch wie literarisch authentisch – in einer bis fast zum Schluss durch Leid und Erfüllung ausgewogenen Atmosphäre. In ihr kann selbst auf dem Höhepunkt der Berliner Nöte samt der rapid steigenden Fieberkurve des Patienten von einem beiderseitigen Glück die Rede sein, sind für eine Zeit lang die penetranten Prager Alpträume gebannt, ist Nicht-mehr-Schreibenkönnen kein wirklicher Verlust für das Leben. In ihr erscheint alles Partnerschaftliche, Verliebte (im höchsten Maß dezent die wenigen Momente probierter Zärtlichkeit) als ebenso überlebenswichtig wie die Butterpakete der Eltern aus dem inflationsverschonten Prag.

Der erzählerischen Kunstgriffe, die zu diesem ausbalancierten Tonfall führen (freilich: ohne dass jemals der Eindruck von Alltagsatmosphäre entsteht), sind gleich mehrere; auf harmonische Weise hat Kumpfmüller sie miteinander zu einem glaubwürdigen und vollen Lebensbild des Paars verknüpft. Augenfällig nicht nur die Vielzahl der permanent wechselnden, äußeres wie inneres Geschehen mitteilenden Perspektiven: Neben Franz und Dora sind es Kafkas Eltern und Schwestern, der Onkel, die Freunde Robert und Max und teilweise sogar deren jeweilige Freundinnen, deren Blickwinkel das vielstimmige, farbenreiche und engmaschige Geflecht des Erzählstrangs bilden. Den Verliebten vorbehalten ist dabei ein stilistisch eigener Raum, in dem sich Zugehörigkeit so empathisch wie unaufdringlich ausspricht, weniger in Dialogen als in Perspektiven, die auf engstem Raum ineinanderfließen und sich ergänzen, als dürfte man leibhaftig dabei sein: „Würde sie ihr Leben aufschreiben, würde sie nur Kleinigkeiten notieren, denn am größten, findet sie, ist das Glück, wenn es winzig klein ist, wenn er sich die Schuhe bindet, wenn er schläft, wenn er ihr durchs Haar fährt. […] Ihre Haare, sagt er, riechen nach Rauch und Schwefel, nach Gras, ab und zu nach Meer. Er sagt, dass er nicht fertig wird mit ihr. Wäre er eines Tages fertig, müsste er auf der Stelle tot umfallen, und so bin ich im Grund unsterblich.“

In diesem Erzählmuster ist kein Platz für eine monolithische Leidensperspektive des akut kranken Dichters; mit ihm erfindet Kumpfmüller jene entdramatisierenden Züge in einem zunehmend beklemmenden Erzählgeschehens (man kann die Lebensuhr ticken hören), hält er alle Vorkommnisse in gleichmäßiger Tonlage: Keine abgrundtiefen Seelenoffenbarungen, keine missstimmigen Vertiefungen von Ungemach lässt dieses Erzählen zu, noch den drastischen Schmerz durchsetzt (wie bei Kafka) Humor bis hin zum protokollartig gedämpften, ja lapidar geprägten Leid am Ende („Gegen Mittag in ihren Armen stirbt er.“). Ließe sich zurückhaltender und teilnahmsvoller von schmerzhaft Endgültigem sprechen, ohne das immer wieder tiefe Durchatmen zu erübrigen?

„Seit ich dich kenne, bin ich ein anderer Mensch“, das sagt hier irgendwann mit der Stimme des Erzählers einer, der am wohl dramatischsten Wendepunkt seines Lebens angekommen ist, krank und verliebt zugleich. „Er schaut nicht mehr nur nach innen, hat er den Eindruck, wie nach einer leichten Drehung des Kopfes, als habe sich allen Ernstes etwas verändert, so erstaunlich das ist. Als hätte er immer nur den Kopf drehen müssen, und mit einem Mal schaut er nach draußen, wo Dora ist und die Erfahrung der Gemeinschaft, die er mit ihr verknüpft.“

Ein richtungsweisender Perspektivenwechsel in Kafkas Leben, hier ist er mit bestimmten Konturen angedeutet. Aus den weichen Zügen dieser und ähnlicher Einfühlungsbilder, soviel dürfte deutlich sein, ergeben sich keine neuen Deutungsbilder der singulären Schriftsteller-Existenz namens Franz Kafka, der – gespenstische Ironie des Schicksals – als fast schon Verhungerter noch über den Korrekturen zu seinem „Hungerkünstler“-Band sitzt. Kumpfmüller hat jene konkrete Lebenswelt Kafkas, die uns mit dem von den Nazis beschlagnahmten Briefwechsel mit Dora wohl auf immer verloren ist, nicht versuchsweise bebildert. Auf authentische und einfühlsame Weise führt er uns heran an die gelebte Kongruenz von Leben und Künstlertum eines beispiellosen Menschen und Dichters. Seine Zurückhaltung im Vorführen von biografisch belastbaren Details – eine wortwörtlich simulierte Kafka’sche Innenwelt etwa wäre gleichsam tollkühn gewesen – wahrt das bekannte Bild von Kafkas sozialer Unauffälligkeit (Max Brod). Zugleich unterrichtet sie uns mit den stets präsenten Innensichten aus Doras Wahrnehmungswelt wie in einem verlässlichen Spiegel über jene Frau, die in ihrer Aufopferung für den Gefährten am Leben wächst. Diese Lebenswende für beide, sie war nicht vergeblich. Und weil der Roman eben diese lebensverändernden Dimensionen aus gegenseitiger Hingabe, Verstehen und Hoffnung bekräftigt, bleibt am Ende der Lektüre daher auch nicht nur die bittere Erkenntnis eines absurden Lebensendes, sondern eine Einsicht: Die je empfundene Herrlichkeit des Lebens – sie ist etwas, durch das hindurch man tiefer in die Welt schaut.

Titelbild

Michael Kumpfmüller: Die Herrlichkeit des Lebens. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
256 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462043266

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