Ausbruch zum Ich

Mit ihrem Roman „Kleiner Vogel, klopfendes Herz“ greift Miriam Toews erneut ihr Lebensthema auf

Von Dorothea HansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Hans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein komplizierter Akt der Liebe“ machte die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews international bekannt. Über Monate hielt sich der Roman in ihrem Heimatland Kanada auf den Bestsellerlisten. Wie Toews selbst, bricht auch ihre Protagonistin aus der engen Welt der mennonitischen Glaubensgemeinschaft aus. Ihren neuen Roman setzt Miriam Toews ebenfalls vor diesen Hintergrund und verleiht ihm nicht nur deshalb starke autobiografische Züge.

Mit Gott gebrochen, vom Vater verstoßen, vom Ehemann verlassen. „Wie komme ich auf dieser Welt zurecht, ohne mich an die Anweisungen von meinem Vater, meinem Mann oder Gott zu richten?“ fragt sich das junge Mädchen, deren Geschichte erzählt wird. Mit knapp 19 Jahren erwartet Irma Voth nichts mehr von der Welt. Trist und trostlos ist ihr Alltag. Sie ist verheiratet mit einem Mann, der von ihrer Familie nicht akzeptiert wird und ihr selbst zu verstehen gibt, dass er erst wieder zurückkommt, wenn sie eine bessere Ehefrau geworden ist. So steht Irma ganz allein da in der mexikanischen Wüste.

Die Mennoniten im Norden Mexikos gehören zu den striktesten Religionsgemeinschaften der Welt. Sie ist patriarchisch, fundamentalistisch, erzkonservativ und ultraorthodox. Das Leben besteht allein aus harter Farmarbeit und Beten. Es gibt keinen Austausch mit der mexikanischen Bevölkerung. Die Welt der Mennoniten bleibt hermetisch abgeriegelt. In dieser Gesellschaft bleibt gerade für junge Mädchen und Frauen nichts als Anpassung und treue Gottergebenheit.

Wer nichts mehr zu erwarten hat, hat auch nichts mehr zu verlieren. So lässt sich Irma von der aus Mexiko City eingetrudelten Filmcrew als Dolmetscherin engagieren. Abermals zieht sie den Zorn des Vaters auf sich. Davon unbeirrt lässt sie sich auf die freizügige Welt der Filmleute ein, die im krassen Kontrast zu ihrem sonst so sittenstrengen Leben steht. Und so wächst in Irma langsam die Erkenntnis, dass sie raus muss aus dem abgeschotteten Leben in der mexikanischen Pampa. Raus aus einer Welt die aus Kontrolle, Strafe, Glaube und das Warten auf das Jenseits besteht.

Getrieben von ihrer Angst, Verzweiflung, Schuld und dem Wunsch nach einem „happy end“ flieht sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Aggie nach Mexiko City. Die Mutter überlässt den beiden ihr Neugeborenes, ebenfalls ein Mädchen. Irma schafft es ihre beiden Schwestern und sich selbst durchzubringen. Sie findet Unterschlupf und Arbeit bei liebenswürdigen Leuten, sie kann Aggie zur Schule schicken und das Baby versorgen. So bewerkstelligt sie es auch letztendlich, sich dem schrecklichen Geheimnis der Familie und der Frage nach ihrer eigenen Schuld zu stellen.

Autobiografisch ist der Roman nicht nur, weil die Schriftstellerin Miriam Toews selbst Mennonitin ist. Toews ist auch Hauptdarstellerin in dem Film „Stellet Licht“ des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas. Der Film erzählt von einem Mennoniten, der neben seiner Ehefrau eine zweite Frau liebt. Dies führt bei ihm zu kaum zu ertragenden Gewissensqualen. Die Dreharbeiten zu diesem Film inspirieren Toews zu ihrem Buch. Vor allem aber die Bekanntschaft mit einer jungen Mennonitin, die sie am Set kennenlernt. In einem Interview berichtet Miriam Toews, wie die authentische Figur der Irma Voth sie in ihrer Einsamkeit faszinierte. Aus ihr heraus entwickelt Toews Irmas schwierigen und leidvollen Weg zur Selbstbestimmung.

Irma steht zwischen zwei Welten und sucht ihren Platz. Sie sucht nach Versöhnung mit ihrem Schicksal und nach Umgang mit der ihr auferlegten Verantwortung. Sie findet Trost in der Sprache, deren Macht sie bei der Übersetzungsarbeit für die Filmcrew entdeckt. So wird der Roman nicht zum Melodram, obwohl sein Stoff alles dafür bereit hält. Mit einem Schmunzeln wird erzählt, wie Irma die Fäden bei den Dreharbeiten in der Hand hält, indem sie nach ihrem Gutdünken übersetzt.

„Kleiner Vogel, klopfendes Herz“ erzählt vor allem von der zersetzenden Kraft die von der ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft, die keinen Platz für Individualität lässt, ausgeht. Bewegt von der Frage, wie man mit der Abgeschiedenheit und Einsamkeit umgeht, wenn einen selbst diese Gemeinschaft verstößt. Irma selbst stellt fest, sie lebt wie ein Geist, wird nicht gesehen. Und so stellt sich ihr die Frage, wie sie denn nun leben soll, wenn keiner mehr hinschaut, wenn man nicht mehr für andere existent ist. Auch Irmas Vater, der vermeintliche Unterdrücker, wird als Opfer, das aus den Zwängen dieser erzkonservativen Gesellschaft heraus handelt, dargestellt.

Am Ende will Irma ihre Schuld loswerden. Sie fährt zurück zum Elternhaus und sucht die Verständigung mit ihrem Vater, sucht ihr „happy end“. Daran glauben mag der Leser nicht. Genauso wenig wie an die zum Teil stark konstruierten Gegebenheiten auf Irmas Flucht. Ein selbstloser Taxifahrer, der sich zwei flüchtigen Teenagern mit Baby auf dem Arm annimmt. Oder die zufällige Bekanntschaft mit einer Studentin, die nicht nur intellektuelle Offenbarung für Irma bereithält, sondern auch Arbeit und Wohnung vermittelt. Dennoch glänzt Miriam Toews mit dem Porträt einer jungen Mennonitin, die sich auf der Suche nach sich selbst aus der zerstörerischen Macht der Glaubensgemeinschaft befreien kann.

Titelbild

Miriam Toews: Kleiner Vogel, klopfendes Herz. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Christiane Buchner.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827010292

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch