Bäume umarmen bringt auch nichts

Sollten wir jetzt doch wieder Karl Marx lesen? Wir meinen: ja! Die Dezember-Ausgabe von literaturkritik.de widmet sich dem Thema Kapitalismus

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Es ist eine der größten Krisen in der Geschichte des Kapitalismus – und ihr Ende ist nicht abzusehen. Die Hiobsbotschaften in den Medien überschlagen sich. Viele Menschen in Europa scheinen dennoch immer noch nicht so recht begriffen zu haben, was in Zukunft alles auf sie zukommen könnte.

Europas Staatengemeinschaft mit ihrer gemeinsamen Währung scheint tatsächlich kurz davor zu stehen, auseinanderzubrechen. Selbst bornierte deutsche D-Mark-Fans mit Immobilienbesitz und vollen Sparkonten, die immer noch glauben, ihnen könne sowieso nichts passieren, werden sich möglicherweise bald wundern. Denn mit einem Scheitern Europas in seiner jetzigen Form wären nicht nur die außenpolitischen und internationalen Einigungs-Anstrengungen von Jahrzehnten umsonst gewesen, sondern auch die Wirtschaft des „Exportweltmeisters“ Deutschland würde früher oder später ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen.

So wie mit der Politik Angela Merkels und ihrer Vorgänger die strukturschwächeren europäischen Nachbarn lange Zeit als bloße Absatzmärkte betrachtet wurden, droht dieselbe Strategie nunmehr ihre Geldquellen eigens zum Versiegen zu bringen. Durch die rigiden, geradezu erpresserisch durchgesetzten Sparvorgaben, die der schwarz-gelben Regierung Deutschlands im Rest Europas so unerlässlich erscheinen, werden angeschlagene Staaten wie Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland lediglich in einen Teufelskreis hineingezwungen, der den baldigen totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch unausweichlich macht. Doch auch die „Elite“, das sogenannte „Kerneuropa“, steht kurz vor dem Kollaps: Selbst Deutschlands engster Partner Frankreich ist bereits angezählt und befindet sich in einer wirtschaftlichen Krisensituation, die sich von jener der perfiderweise bereits seit Längerem als „P.I.G.S.“ verhöhnten Staaten nur noch mittelbar unterscheidet.

Das hegemoniale System der deutschen Finanz- und Währungspolitik in Europa funktioniert also letztlich genauso wie jener verlässliche Selbstzerstörungsmechanismus, als der sich der Kapitalismus mit seinem ‚Wachstumszwang‘ und der rücksichtslosen materiellen Ausbeutung des Planeten nun einmal erwiesen hat. Karl Marx hatte also irgendwie doch Recht, so staunt man nun allerorten, und angeblich haben mittlerweile sogar Frank Schirrmacher und Lorenz Jäger von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eingesehen, das die Linken vielleicht doch gar nicht immer so falsch lagen. Ob der Kapitalismus in Zukunft trotzdem noch einmal gute 500 Jahre weiter fortbestehen könnte oder nicht, ist allerdings auch unter linken Wirtschaftstheoretikern umstritten. Soviel ist klar: Man mag noch so sehr vorspiegeln, die Krise sei im Prinzip kalkulierbar und mithilfe irgendwelcher auf- und zugeschnürter „Spar-Pakete“ oder „Rettungsschirme“ zu beheben – wir können jeden Tag in den Nachrichten sehen, dass dies eben offensichtlich nicht so ist.

Nicht nur in schwer angeschlagenen Ländern wie Griechenland, sondern auch in Deutschland stehen schon sehr bald weitere Verschärfungen der ohnehin rapide angestiegenen Altersarmut, der Kinderarmut sowie extreme Verschlechterungen im Bereich der Sozialleistungen ins Haus. Mittelständische Ersparnisse drohen zu verpuffen, während Raubüberfälle, Einbrüche und Kidnapping demnächst auch in Europa zu ganz neuen Hobbies der Exkludierten, Abgehängten und Verzweifelten avancieren dürften. Gleichzeitig tun die unbelehrbaren Gläubigen jener Religion namens Kapitalismus immer noch so, als sei ihre Ideologie „alternativlos“. So stellte einer der wichtigsten Historiker des letzten Jahrhunderts, der kommunistische Intellektuelle Eric Hobsbawm, bereits 2009 in einem Interview mit stern.de fest: „Wir haben vor allem Theologen des Marktes mit einem kindlichkindischen Glauben, dass der Markt alles von allein regeln wird. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit, das macht sie so gefährlich für die Menschheit. In den vergangenen Jahren weigerten sie sich einfach, die Krisen, die sich immer mehr aufbauten, überhaupt wahrzunehmen. Verblendete. Ignoranten.“

Die Folgen dieser kollektiven Blindheit und Unvernunft liegen auf der Hand: Die USA, lange Zeit der wichtigste Gradmesser und Motor des Weltmarktes, gehen unaufhaltsam pleite, und selbst in China hat man begonnen, sich ernsthafte Sorgen zu machen – also in jenem Land, über das der US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni zuletzt bemerkte: „Keiner hat mehr Spaß am Kapitalismus, ausgenommen China.“

Nebenbei erzeugt der derzeitige Aufschwung, den Schwellenländer wie Indien und Brasilien verzeichnen, erst recht eine unaufhaltsam erscheinende Zuspitzung der globalen Krise des Klimawandels, die uns mit geradezu apokalyptisch anmutenden, gleichzeitig aber durch die weltweite Industrialisierung provozierten Naturkatastrophen bedroht. Fast scheint es so, als werde der Untergang der Menschheit, wie ihn etwa Reinhard Jirgl in seinem pessimistischen Roman „Die Stille“ (2009) so ‚farbenfroh‘ ausgemalt hat, bald Wirklichkeit.

Hobsbawms düstere Ausblicke jedenfalls klangen bereits vor Jahren, als die Dinge noch lange nicht so dramatisch aussahen wie heute, wenig ermutigend: „Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.“

Auch die derzeitige, vollkommen heterogene „Occupy-Bewegung“, die sich aus empörten Stéphane-Hessel-Lesern, romantischen Hippies und Happening-Junkies, vor allem aber aus unverbesserlichen Mondphasen-Esoterikern, eliminatorisch denkenden Verschwörungstheoretikern und also tumben Gelegenheits-Antisemiten zusammensetzt, die meinen, sie gehörten zu den „99 %“ des „Volkes“, wird diese drohenden Gefahren mangels analytischer Durchdringung der grundsätzlichen Funktionsweisen des virtualisierten globalen Marktgeschehens unserer Tage nicht aus der Welt schaffen. Das scheint das Problem der sogenannten „Wutbürger“-Proteste allgemein zu sein, die in diesem Jahr für einige Aufregung gesorgt haben und manch einen Beobachter dazu bewogen, zu glauben, die Revolution stünde nunmehr kurz bevor: Auch die Demonstrationen gegen das milliardenschwere Bahnhofs-Umbauprojekt „Stuttgart 21“, das nun nach einem baden-württembergischen Plebiszit dennoch mitsamt den notwendigen Abrissarbeiten am alten Bahnhofsgebäude fortgeführt werden soll, verpufften quasi wirkungslos. Wes Geistes Kind zudem einige bürgerliche Kritiker und auch Befürworter der Großinvestition im Musterländle gleichermaßen waren, konnte man dieses Jahr am legendär gewordenen Stuttgarter ‚Protestzaun‘ nachlesen (siehe Fotos). Let’s face it: Auch wenn Schwaben plötzlich Bäume umarmen, um die Juchtenkäfer am Stuttgarter Bahnhof zu retten, werden die ureigenen Mechanismen des Kapitalismus nicht urplötzlich ausgehebelt.

Selbst in Ländern wie Spanien, wo sich die Arbeitslosenzahlen unter jungen Leuten bereits der 50%-Marke nähern, brachten die diffus begründeten Besetzungen zentraler Plätze in den Großtädten im vergangenen Sommer gar nichts, verschwanden ebenso schnell wie sie entstanden und mündeten schließlich im November sogar in die Abwahl der Sozialisten, um die Rechtskonservative Partido Popular (PP) Mariano Rajoys zur neuen Regierung zu machen. Offensichtlich glaubte die Mehrheit der spanischen Wähler, ausgerechnet mit einer konservativen Regierung, die sie vielleicht mit derjenigen Merkels in Deutschland assoziierten und die sie womöglich als ‘erfolgreiches Vorbild’ wahrnahmen, doch noch den Ausweg aus der Krise gewiesen zu bekommen. Es bedarf nicht allzugroßer prognostischer Fähigkeiten, um anzunehmen, dass sie darauf noch lange werden warten können.

Ratsam wäre es da wohl, endlich mit der Lektüre zu beginnen und den Funktionsweisen unseres globalen Wirtschaftssystems einmal profunder auf den Grund zu gehen. In aller Bescheidenheit versucht unsere Zeitschrift literaturkritik.de dazu zum Jahresende zumindest einen kleinen aufklärerischen Beitrag zu leisten: Damit Ihnen unter dem Weihnachtsbaum nicht der Gesprächsstoff ausgeht oder sie gar in vollkommene Lethargie verfallen, haben wir für Sie schon einmal einen kleinen Themenschwerpunkt zum Thema „Kapitalismus“ zusammengestellt. Und keine Sorge: Solange in der Marburger Uni noch nicht alle Lichter ausgegangen und wir alle entlassen sind, werden wir auch im kommenden Jahr weiter für Sie da sein, um Sie mit Essays, Interviews, Artikeln und Rezensionen zu versorgen.

Mit den besten Wünschen für den Jahreswechsel
grüßt Sie herzlich
Ihr
Jan Süselbeck

Anm. der Red.: Die Fotos in dem vorliegenden Beitrag hat der Autor im vergangenen Sommer selbst am Stuttgarter Bahnhof gemacht, als ihm einmal wieder der Anschlusszug nach Tübingen davongefahren war, der bekanntlich niemals auch nur eine Minute auf den ICE aus Frankfurt am Main (via Mannheim) wartet, welcher seit Jahr und Tag durch unnötige und unerläuterte Stopps auf offener Strecke immer jene ca. 12 Minuten Verspätung bekommt, die exakt der Umsteigezeit in Stuttgart entsprechen: An diesem ehernen, unumstößlichen Naturgesetz dürfte selbst „Stuttgart 21“, falls das Projekt jemals abgeschlossen werden sollte, nichts mehr ändern.