Christa Wolfs Arbeit am Mythos

Ihr Roman „Medea“ schreibt die Erzählung „Kassandra“ fort

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als blutbesudeltes Weib wankt sie in einem Maskenzug dahin, wirft einen Pappschädel in die Höhe und fängt ihn mit gellenden Schreien wieder auf: Medea, die „ihren eigenen Bruder abgeschlachtet, den kindlichen Leichnam zerstückelt und den abgeschlagenen Kopf gegen die Felsen der Steilküste geschleudert hatte“. Das ist, in Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“, die Medea der verschollenen Tragödie Ovids.

Ihr Name steht für eine furchtbare Frau: eine vorzivilisierte Barbarin, giftmischende Hexe, liebestolle und rachsüchtige Mörderin. Ihren Vater hat sie verraten, den Bruder zerstückelt, der Nebenbuhlerin ein Kleid mit tödlichem Gift geschickt. Eine frauenfeindliche Männerphantasie? Zum maßlosen Ungeheuer, das auch noch die eigenen Kinder mordet, hat sie jedenfalls erst Euripides mit seiner Tragödie gemacht. Ovid und Seneca folgten ihm. Und auch noch Grillparzer und, trotz einschneidender Verwandlungen des Stoffes, Hans Henny Jahnn oder Heiner Müller. Sogar Psychiater benennen inzwischen Partner-Konflikte, bei denen, in der Realität oder bloß in der Phantasie, durch die Tötung der Kinder Rache am anderen geübt wird, nach ihrem Namen.

Ein ganz anderes Medea-Bild zeigte ein „Monolog“, den Dagmar Nick 1988 veröffentlichte. Hier wehrt sich eine Frau gegen die diffamierenden Geschichten, die man über sie erfunden hat. „Am Ende halten die Leute alles für wahr. Auch daß Medea ihre Kinder eigenhändig erwürgt hat. Ich! Eine kolchische Mutter!“ In Wirklichkeit hatte man ihr die Kinder genommen und zu Tode gesteinigt. Das entspricht in der Tat Versionen des Mythos, wie sie vor der Tragödie des Euripides existierten. Das Muster jedoch, dem Dagmar Nicks Rehabilitierung der Medea vor allem glich, war nicht mehrere tausend, sondern fünf Jahre alt: Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“.

In vielen Anlehnungen an sie hat Christa Wolf jetzt ihre eigene „Medea“ vorgelegt. Wie schon in „Kassandra“ befreit sie eine weibliche Mythenfigur von den Denunziationen, denen sie in einer patriarchalisch geprägten Kultur ausgesetzt war und mit denen kulturelle Konstruktionen eines ‚typisch weiblichen‘ Charakters gestützt wurden. Wieder ist sie um jene aufklärende Psychologisierung der Mythen bemüht, die sich unter Berufung auf Thomas Mann vom Mythenkult der „faschistischen Dunkelmänner“ absetzt. Und wieder wird der Mythos zum Modell gegenwärtiger Konflikte und kultureller Kontraste.

Alles, aber auch alles, was der Königstochter von Kolchis bislang angelastet wurde, revidiert Christa Wolf in ihrer literarisch sorgfältigen, überlegten und systematischen Neukonstruktion des tradierten Mythos. Den Vater hintergeht und die Heimat verläßt die angebliche Verräterin nicht aus blinder Leidenschaft zu dem Argonautenführer Jason, sondern weil die Stadt Kolchis hoffnungslos verdorben ist. Der Bruder der vermeintlichen Mörderin ist nicht durch ihre Hand, sondern durch den fundamentalistischen Fanatismus alter Weiber und durch das Kalkül eines verbrecherischen Systems umgekommen. In Korinth tötet nicht sie die Nebenbuhlerin, sondern diese sich selbst. Und ihre beiden Söhne werden nicht von ihr, sondern von einer Meute rachsüchtiger Korinther umgebracht.

Natürlich geht es Christa Wolf nicht darum, wie es wirklich gewesen ist, und nur zum kleinen Teil versucht sie, ältere, matriarchatsnähere Schichten der Mythenüberlieferung gegenüber jüngeren wieder ins Recht zu setzen. Es geht vielmehr darum, wie die historische Realität hinter den Konstruktionen verschwindet, die man sich über sie zurechtgelegt hat, wie alles auch ganz anders gewesen sein könnte und wie sich die Geschichte Medeas neu erzählen läßt. Daß dabei eine Frauenfigur von einem über die Jahrhunderte hinweg überlieferten Makel befreit wird, dient nicht der platten Gegenüberstellung von guten, verkannten Frauen und schlechten, überschätzten Männern.

Schon in „Kassandra“ vertrat Christa Wolf feministische Positionen, die von solchen Vereinfachungen weit entfernt waren. Gewiß: ihre Medea verkörpert vielleicht allzu bruch- und distanzlos das Idealbild einer Frau. In ihr vereinigen sich natürliche Wildheit und aufgeklärte Vernunft; sie ist Priesterin, Zauberin und Heilerin; mit ihren Fähigkeiten hat sie Jason zu seinem Heldenruhm verholfen und die Korinther vor der Hungerkatastrophe bewahrt; im Gegensatz zu Jason paßt sie sich den Mächtigen nicht an, durchschaut die Verbrechen, auf denen die Macht gegründet ist, ahnt den Niedergang von Kolchis und Korinth mit prophetischer Sensibilität voraus. Diese Medea hat zwar durchaus einige Schwächen, aber daß sie sich ihrer bewußt ist, beweist einmal mehr ihre Stärke.

Dennoch sind in „Medea“ die Frauen nicht grundsätzlich die besseren Menschen. Tugenden und Fehler sind auf beide Geschlechter gleich verteilt. Da gibt es neben Medea die fanatischen Frauen, die ihren Bruder umbringen, da ist ihre begabteste Schülerin Agameda, deren nur unvollkommen erwiderte Liebe zu Medea in die Wut einer gekränkten Konkurrentin umschlägt, oder ihre Patientin Glauke, die die verdeckten Aggressionen gegen Vater und Mutter in pathologischer Verblendung auf die Therapeutin überträgt. Und neben dem menschenverachtenden Zyniker Akamas, der in Korinth als erster Astronom des Königs Kreon die Techniken der Machterhaltung so souverän wie skrupellos handhabt, oder dem egozentrischen Kolcher Presbon, der mehr Lust bei seinen Redeergüssen als im Bett einer Frau empfindet und mit Selbstdarstellungstalent und Anpassungsbereitschaft in Korinth Karriere zu machen versteht, stehen Figuren wie der zwar handlungsgehemmte, doch kluge und einsichtsvolle Melancholiker Leukon oder Medeas Geliebter, der bedürfnislose, bescheidene und ungeheuer fleißige Künstler Oistros.

In Christa Wolfs Roman sind die Frauen nicht Opfer männlicher Lust oder Treulosigkeit, sondern aktive Subjekte ihres eigenen Begehrens. Medeas Freundin Arethusa „liebt zwei Männer, einen jeden auf andere Weise.“ Und ihre Feindin Agameda wechselt von einem Liebhaber zum anderen. Mit dem einfachen Kunstgriff, auch Medea einen Geliebten zuzuschreiben, unterläuft Christa Wolf die ganze psychologische Konstruktion, mit der Euripides die mörderischen Taten seiner Protagonistin motiviert hat: als haßbesessene Rache einer vormals treuen Ehefrau an Jason, der „das Weib und die Kinder verriet/ Um das Bett der Königstochter des Lands.“

Christa Wolfs Medea ist nicht mehr Opfer männlichen Liebesverrats, sondern eines gezielten Rufmords. Um eigene Verbrechen zu verbergen, versuchen die Machthaber Korinths, ihr einen Mord nach dem anderen anzulasten. Der Roman hat Spannungselemente eines modernen Polit- und Psychokrimis. Medea ist einem Mord auf der Spur. In finsteren Kellergewölben des königlichen Palastes entdeckt sie ein Höhlengrab mit dem Skelett eines Kindes und gelangt zu der Gewißheit: „Die Stadt ist auf einer Untat gegründet.“ Die Thronfolgerin des Königs Kreon wurde ermordet, damit dessen Herrschaft ungefährdet bleibt. Das Wissen um dieses Geheimnis wird Medea gefährlich.

Christa Wolf erzählt den Mythos so, daß er zum Modellfall von Mechanismen öffentlicher Diffamierungen und grotesker Verkehrungen der Wahrheit wird. Natürlich liegt es nahe, den Roman als literarische Reaktion einer zutiefst gekränkten Autorin zu lesen, die die massive Kritik an ihr während und nach der Wende nicht anders als eine „bewußte, gezielte Demontage“ und haßerfüllte „Hetzkampagne“ wahrzunehmen vermochte. Der Text läßt sich in der Tat auch als ein Schlüsselroman lesen. Wie schon in „Kassandra“ der Kampf zwischen Troja und Griechenland Modell des Ost-West-Konfliktes war, so gleicht in „Medea“ der Gegensatz zwischen dem archaischen Kolchis und dem modernen Korinth dem von östlicher Kultur und westlicher Zivilisation. In Kolchis lebt man arm und bescheiden, das reiche, glänzende Korinth ist „besessen von der Gier nach Gold“. Und während in Korinth ganz fraglos die sozialen Schichten nach Besitz unterschieden werden, hing man in Kolchis dem Traum vom Sozialismus nach: „Wir in Kolchis waren beseelt von unseren uralten Legenden, in denen unser Land von gerechten Königinnen und Königen regiert wurde, bewohnt von Menschen, die in Eintracht miteinander lebten und unter denen der Besitz so gleichmäßig verteilt war, daß keiner den anderen beneidete oder ihm nach seinem Gut oder gar nach dem Leben trachtete. Wenn ich, noch unbelehrt, in der ersten Zeit in Korinth von diesem Traum der Kolcher erzählte, erschien auf dem Gesicht meiner Zuhörer immer derselbe Ausdruck, Unglauben vermischt mit Mitleid, schließlich Überdruß und Abneigung, so daß ich es aufgab zu erklären, daß uns Kolchern dieses Wunschbild so greifbar vor Augen stand.“

Kein Zweifel: In der Stimme Medeas artikulieren sich Christa Wolfs eigene Hoffnungen, Enttäuschungen und Kränkungen. Im Unterschied zu ihr hat die Kolcherin ihr Land verlassen, doch die von Medea wiederholt gestellte Frage, ob es nicht besser gewesen wäre zu bleiben, liest sich im Zusammenhang mit den Debatten über das Verhalten kritischer DDR-Intellektueller wie eine Selbstrechtfertigung. Daß in Kolchis „ein alter, verknöcherter König“ das „größte Hindernis“ für die Realisierung der alten Wunschträume bildet, sollte nicht allzu eindeutig auf Honecker bezogen werden, doch zeigt sich hierin Christa Wolfs auch sonst angreifbare Tendenz, Fragwürdigkeiten eines politischen Systems auf persönliche Unzulänglichkeiten, auf moralische Schwächen und psychische Deformationen zurückzuführen. Medea steht dem Machtapparat in Kolchis ähnlich distanziert gegenüber wie dem in Korinth, doch als politischer Roman vermittelt „Medea“ nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn. Im Modell familiärer Beziehungskonstellationen sind die Machtkonstellationen moderner, hochkomplexer Gesellschaften nicht angemessen darzustellen.

Als psychologischer Roman indes entfaltet er etliche Qualitäten. In einem Essay über den Schweizer Psychoanalytiker und Ethnologen Paul Parin nennt Christa Wolf die Psychoanalyse ein „Abenteuer“ in dem Gang durch die „Wirrnis der Seelen“, einem Gang, „bei dem sich in diesem Jahrhundert Psychoanalyse und Literatur immer wieder aufeinander beziehen“ und „aufeinander angewiesen sind.“ Christa Wolfs neuer Roman versteht sich programmatisch als ein Projekt literarischer Psychonalyse. Bevor er in Form von zehn inneren Monologen sechs Stimmen sprechen läßt, in denen sich die Personen selbst und einander gegenseitig charakterisieren, formuliert die Autorin ihren Anspruch: „Unsere Verkennung bildet ein geschlossenes System, nichts kann sie widerlegen.“ Ein pathologisches Wahnsystem gilt es aufzubrechen, indem „wir uns in das Innerste unserer Verkennung und Selbstverkennung hineinwagen“. Wo der Roman diesem Programm folgt, geht es weniger um den Gegensatz zwischen Ost und West als um den zwischen Oberfläche und abgründiger Tiefe. In all diesen Figuren ist unter der Fassade ein Abgrund versteckt – wie in der glanzvollen, selbstbewußten, doch kranken Stadt Korinth, von der es heißt, daß auch sie ihre „unterirdischen Gänge mit ihren tief verborgenen Geheimnissen hat.“

Daß die sechs Stimmen ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten die gleiche, klare, wohlgeordnete Sprache sprechen, nämlich die der Autorin Christa Wolf, oder daß Medea sogar im Fieberdelirium ihre Fähigkeit zu elaborierten Formulierungen kaum verliert, mag ein Manko sein. Die stilistische Variationsbreite Christa Wolfs ist recht begrenzt. Wie der Roman jedoch psychopathologische Mechanismen der Selbsttäuschung, des Umschlags von Angst in Haß und von Haß in Gewalt, der Suche nach einem Sündenbock für allgemeine Fehlentwicklungen und nach einem die Gesellschaft entlastenden Blutopfer beschreibt, ist spannend und erhellend und führt über die bloß persönlichen Obsessionen der Autorin weit hinaus. Der Monolog der kranken Königstochter Glauke, dem ein trauriges Motto aus Ingeborg Bachmanns Franza-Fragment über die Vernichtung von Lebendigkeit vorangestellt ist, wird zu einer glänzenden Studie über das Scheitern eines psychotherapeutischen Prozesses, in dem die vatergeschädigte Angstneurotikerin nach befreiten und lichten Intervallen in ihr depressives System vollkommener Realitätsverkennung zurückfällt.

Medea selbst ist dagegen zu edel, hilfreich, gut und einsichtsvoll geraten, als daß sie eine tragische Romanfigur sein könnte, deren Schicksal Mitleid und Schauder hervorruft. Der Roman evoziert allenfalls Empörung über das ihr zugefügte Unrecht – und am Ende auch ein wenig Widerwillen gegen das pathetische Selbstmitleid, mit dem sie, die ihre Heimat verlassen hat und keine neue findet, beklagt, daß es für sie nirgends einen Ort gibt: „Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“ Christa Wolf und ihr Roman bieten mehr als solche Klagen.

Die Rezension ist in leicht gekürzter Form erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 2./3. März 1996.

Titelbild

Christa Wolf: Medea. Stimmen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008.
223 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518460085

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