Die Crux mit den Vorfahren

Kolja Mensings Spurensuche nach den „Legenden der Väter“ wandelt auf oft mühsamen Pfaden

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer in diese Welt hineingeboren wird, hat sich, so glauben wir zumindest mehrheitlich, weder Zeit noch Raum und erst recht nicht die Familie ausgesucht, die die meisten von uns zunächst recht freundlich empfängt. Was diese lebende Familie an vergangener, aber deshalb noch lange nicht begrabener Familiengeschichte mit sich führt, erkennen wir erst nach und nach, und mit mindestens ebenso viel Zeitverzögerung wird uns klar, ob uns diese Familiengeschichte in irgendeiner Weise berührt, im guten wie im bösen Sinne, oder im Gegenteil kalt lässt wie das berühmte Fahrrad im fernen Reich der Mitte.

Stellen wir dann fest, dass uns bestimmte Dinge an unserer Familie stören, so meinen wir, vor allem in jüngeren Jahren, hier und da etwas oder etwas mehr verändern zu können; in den allermeisten Fällen muss man allerdings irgendwann einsehen, dass dies ein Trugschluss war – es ist, wie es ist, und damit muss man sich arrangieren, irgendwie. Nun kann dieses „Sich-Arrangieren“ die verschiedensten Ausprägungen haben – man kann sich beispielsweise überhaupt nicht für seine Familie, und vor allem für die Vorfahren interessieren, oder man kann Oma und Opa eben Oma und Opa sein lassen und sich, was den Kontakt betrifft, auf Geburtstags- und Weihnachtsgrüße beschränken, oder man kann, und das ist der mit Abstand mühsamste Weg, hinter Oma und Opa herforschen in dem Versuch, die schwarzen Löcher in der Familienerinnerung zu stopfen.

Es gibt aber kaum Familien, in denen sich das Bedürfnis nach Nachforschungen bei mehr als einer Person pro Generation gerückt wird – der Familienforscher ist damit fast per definitionem ein Einzelkämpfer, der im eigenen familiären Umfeld bestenfalls mit einem müden Lächeln, meist aber mit verschiedenen Stufen der Ablehnung bedacht wird. Und so macht sich der Privathistoriker auf die einsame Reise durch Archive und Erzählungen, durch Verwandtschaften und Freundschaften, durch die eigenen Erwartungen und Enttäuschungen, bis er, wieder im Idealfall, irgendwann sein Feld bestellt hat und im Reinen ist mit seinen Vorfahren. Das wäre dann quasi das Happy-End der Familienforschung, ein angenehmer Schlusspunkt und eine zeitlose Momentaufnahme, die nun für alle Zukunft Gültigkeit hat – bis der nächste in der Reihe der Familienforscher das Licht der Welt erblickt.

Dieses Happy-End ist aber dem Autor Kolja Mensing, so scheint es zumindest dem mitfühlenden Leser, bislang verwehrt geblieben. Denn seine Spurensuche, die hier erzählt wird, ist eine mühsame, eine holprige, und das Objekt dieser Suche, der oberschlesisch-polnische Großvater des Autors, ist nun auch alles andere als ein Sympathieträger, dessen Fährte man gerne verfolgt. Aber wie gesagt, seine Vorfahren sucht man sich nicht aus. Und deshalb ist ein alkoholkranker lügender Großvater, dem man einmal auf die Spur gekommen ist, immer noch besser (weil greifbarer), als einer, von dem man garnichts weiß. So gesehen wäre das Erzählte durchaus eine Erfolgsgeschichte, wenn nicht der dauernde Wirrwarr der Gedanken und Emotionen wäre, der sich als roter Faden durch die Kapitel zieht und den Leser gleichzeitig verwirrt. Der skeptische Leser wird sich mehrmals bei dem Wunsch ertappen, für ein Weilchen innezuhalten, um die besonders zu Anfang schwer zu durchschauenden familiären Verhältnisse in einer übersichtlicheren Figurenkonstellation festzuhalten, die dann als Spickzettel in Sichtweite neben dem Lesesessel platziert wird.

Leider erschließt sich nicht, ob das erwähnte Durcheinander die Probleme, Umwege, Sackgassen, falschen Fährten und im Sande verlaufenden Spuren repräsentiert, die Mensing bei seiner Suche zweifellos bewältigen musste. Falls ja, müsste man es folgerichtig als Stilmittel respektieren, auch wenn nicht allen Lesern immer alle Kunstgriffe gleich wertvoll oder gelungen erscheinen. Es ist zweifellos spannend, sich auf eine solche Recherche einzulassen, wenn sie nicht die eigene ist. Aber gerade weil es nicht die eigene ist, braucht man hin und wieder seine kleinen Erfolgserlebnisse, um weiter mitzusuchen, sonst verliert man zuerst die Lust und dann sich selbst in den fremden Familienirrungen und -wirrungen. Und dabei geht es weniger darum, auf große Erkenntnisse zu stoßen, sondern darum, Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar unabhängig davon, was man letzten Endes wirklich sieht. Kolja Mensing gelingt dies am besten am Ende seines ansonsten oft mühsamen Weges.

Titelbild

Kolja Mensing: Die Legenden der Väter. Eine Suche.
Aufbau Verlag, Berlin 2011.
304 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783351027346

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