Kindheit als Gedächtnisraum

Rainer Moritz führt auf den Spuren von Hermann Lenz durch Künzelsau

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenig gelesen, oft unterschätzt und beinahe schon vergessen: Der schwäbische Erzähler Hermann Lenz (1913-1998) ist auch posthum geblieben, was er schon zu Lebzeiten war – ein Außenseiter des Literaturbetriebs. Daran vermochten weder die langjährige Fürsprache des Kollegen Peter Handke noch die generöse Förderung des Mäzens Hubert Burda etwas zu ändern. Und dass der Büchnerpreis seinem Träger zwar Ansehen, aber nicht unbedingt viele neue Leser verschafft, hat nicht erst das Beispiel Hermann Lenz gezeigt.

Nun ist in der von der Marbacher Schillergesellschaft herausgegebenen Reihe „Spuren“ ein gerade mal 16-seitiges Heft erschienen, das die Beziehung des Dichters zu Künzelsau beleuchtet, einem Ort im Hohenlohischen, in dem er zehn prägende Kindheitsjahre verbrachte. Die Aufmachung erinnert in ihrer Mischung aus Abbildungen, historischen Fotografien und Textlayout an das bewährte Muster der rororo-Bildmonografien und verdeutlicht dadurch zugleich schmerzlich, dass Hermann Lenz einer solchen (bislang?) nicht für würdig erachtet wurde.

Den kenntnisreichen Essay hat Rainer Moritz beigesteuert, der einst über Lenz promovierte, heute das Hamburger Literaturhaus leitet und – wie wir spätestens seit seinen eigenen Jugenderinnerungen „Ich Wirtschaftswunderkind“ wissen – aus dem Künzelsau benachbarten Heilbronn stammt. Statt sich mit topografischen Details aufzuhalten (das haben eifrige Lokalhistoriker an anderer Stelle schon vor ihm getan), schildert Moritz die kaum zu überschätzende Bedeutung, die Künzelsau für das Werk des Schriftstellers zukommt. Schließlich basiert die groß angelegte Romanfolge um sein Alter ego Eugen Rapp, von „Verlassene Zimmer“ (1966) bis „Freunde“ (1997), auf einem autobiografischen Fundament.

Peter Hamm schrieb schon vor über 20 Jahren, Hermann Lenz sei vom Zeitgeist weiter entfernt als irgendein anderer deutschsprachiger Autor. Und bringe mit seinen Büchern immer wieder das Kunststück fertig, auch seine Leser für eine gute Weile dem Zeitgeist zu entfremden. Legt man diese Erkenntnis zu Grunde, so scheint Künzelsau mit seinen Naturschönheiten, seiner abgeschiedenen Lage und seiner verzögerten Entwicklung ideal zu sein für Fluchtversuche in die Kindheit. Rainer Moritz stellt überzeugend dar, dass Lenz zwar gegen die Zeit anschreibt, aber kein biedermeierlicher Idylliker ist, der sich aus einer beklagenswerten Gegenwart in die Vergangenheit zurückzieht. Ganz im Gegenteil: Der Gedächtnisraum, den Lenz erkundet, bringt laufend neue Bilder hervor, die sich in der Literatur zu einem authentischen Erinnerungstableau verdichten, das die Kindheit insgesamt weder idealisiert noch verwirft.

Wenn der Autor stets aufs Neue an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, in seinen Büchern mit verschiedenen Zeiträumen spielt, das Heute mit dem Gestern vergleicht, so geschieht dies, um die Wandlungen der Erinnerung schreibend zu fixieren, die Zeit still stehen zu lassen. Nur aufmerksame Leser können die so gebannte Vergangenheit wieder lebendig werden lassen. So lässt sich diese gelungene Studie als erneute Einladung verstehen, Hermann Lenz zu lesen.

Titelbild

Rainer Moritz: Hermann Lenz und Künzelsau.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2011.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783937384511

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