Geißeln sind wir uns selbst

Byung-Chul Han analysiert die Gewalt der Gegenwartskultur

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der zeitgenössische Mensch als depressives, überfordertes Wesen, das Herr und Knecht seiner selbst ist, „Gefangener und Aufseher zugleich“ – dies ist das Bild, das der Philosoph Byung-Chul Han zum Abschluss seines Werkes zeichnet. Bis dahin widmet sich seine im Feuilleton sehr positiv aufgenommene „Topologie der Gewalt“ in Auseinandersetzung mit (vor allem) postmoderner Philosophie der Frage, was Gewalt ist und wie sich ihre Erscheinungsformen mit dem Übergang zur spätmodernen „Leistungsgesellschaft“ gewandelt hat. Das Buch bietet luzide Beobachtungen und treffende Analysen, wenn auch dieser Eindruck an mancher Stelle durch Redundanzen und eine Rhetorik des Apodiktischen überschattet wird.

Han vertritt die These, dass das von Michel Foucault in der Beschreibung der Disziplinargesellschaft zur Verfügung gestellte analytische Instrumentarium nicht in der Lage ist, die zeitgenössischen Formen der Gewalt zu fassen. Gewalt werde nicht mehr von einem Souverän gegen den Untertan ausgeübt, sie diene nicht mehr der Disziplinierung und Formierung des Subjekts – „die Gesellschaft der Souveränität gehört längst zur Vergangenheit“. Vielmehr sei die äußere Macht in der Leistungsgesellschaft vom Subjekt internalisiert worden, die Unterdrückung werde vom Subjekt selbst gegen sich gewendet – mehr noch: als „Souverän“ und „Unternehmer seiner selbst“ entstünde für das Individuum die Illusion von Freiheit, wo nur Zwang ist.

Diese Wende geht, so Han, einher mit einer Abkehr von der „Gewalt der Negativität“ hin zu einer „Gewalt der Positivität“. Während erstere sich in der Spannung zu einem Außen, in der Dichotomie von Freund und Feind in Ge- und Verboten artikuliere, sei letztere die Gewalt einer generalisierten Affirmation. Während die „Gewalt der Negativität“ auf der Anwesenheit eines Anderen, eines Außen basierte – damit auf einem antagonistischen Verhältnis –, ist dieses Andere im Zeitalter der Positivität verschwunden. An die Stelle des Verbots und der Unterwerfung trete die totale Identifikation mit der Gesellschaft und die Neutralisierung des Fremden, des Konflikts. Die Bezugnahme zum Nicht-Ich ist nicht mehr möglich, das spätmoderne Subjekt sei „unfähig, aus sich herauszutreten, draußen zu sein, sich auf den Anderen hin, auf die Welt hin zu verlassen“. Stattdessen „verbeißt es sich in sich selbst […] verschleißt sich in einem sich immer schneller um sich selbst drehenden Hamsterrad“. Der Mensch begreife sich als „Projekt“, als Gegenstand der Optimierung und Leistungssteigerung – die Folgen davon sieht Han in den Zivilisationskrankheiten des Burnout-Syndroms und der Depression. Und wie das Subjekt ist auch die Gesellschaft von Phänomenen des Exzesses heimgesucht: Die „Spamisierung“ und Entropie der Kommunikation, die Obszönität der absoluten Transparenz, die Überproduktion und -konsumtion bestimmen den „Weltinnenraum, in dem die Gattung Mensch mit sich selbst Krieg führt“.

Viele dieser Thesen sind vertraut – sei es die Internalisierung der Herrschaftsinstanzen, die bereits Jean Baudrillard und Gilles Deleuze als Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontroll- beziehungsweise Terrorgesellschaft beschrieben haben, sei es der Status des Subjekts als potentielles „nacktes Leben“, wie Giorgio Agamben es behauptet. Zu guter Letzt kennt man die Thesen auch von Han selbst, der sie 2010 in dem Essaybändchen „Müdigkeitsgesellschaft“ formulierte. Das schmale Vorgängerwerk wagte, der Form angemessen, die steile These – und so wäre zu erwarten, dass die „Topologie der Gewalt“ als umfangreiche Fortführung strittige Punkte argumentativ stützt. Dieser Forderung kommt Han nur zum Teil nach. So beschäftigt sich der Essay umfangreich mit den illustren Gewährsleuten seiner Thesen – hier seien nur Foucault, Agamben, Benjamin, Deleuze und Baudrillard genannt. Zugleich aber ist gerade diese Auseinandersetzung nicht immer überzeugend: Während beispielsweise die Ersetzung von Foucaults Machtbegriff durch die Differenzierung von Macht und Gewalt als setzendes oder ent-setzendes Phänomen analytischen Mehrwert besitzt, erfolgt die Kritik an den Standesgenossen leider manchmal über selektive Lektüre und Zuspitzung. So lehnt Han Baudrillards These von der „viralen Gewalt“ als zeitgenössische Erscheinungsweise der Gewalt mit dem Hinweis ab, diese beruhe auf einer „antagonistischen Spannung“, sei somit eine Gewalt der Negativität, während doch dieses Andere nicht mehr vorhanden sei.

Dabei stellt Baudrillard gerade jene Identität von Gefängnis und Gesellschaft – das Verschwinden der disziplinierenden Institutionen durch ihre Generalisierung – fest, die die Grundlage für die von Han beschworene Gewalt der Identität ist. Wenn Han etwa schreibt, dass die systemische Gewalt „alle zu Eingeschlossenen, zu Gefangenen des Systems“ mache, so ist dies beinahe eine Baudrillard-Paraphrase. Die Frage, ob Baudrillards Metapher des Viralen als Negativität zu fassen sei oder nicht doch jene Immanenz – wirksam wird der Virus schließlich im Organismus – der Positivität impliziert, dies ist letztich Geschmackssache. Ähnliche Schwierigkeiten bringt auch Hans Auseinandersetzung mit Deleuze und Agamben mit sich. Die Differenzen zwischen der „Topologie der Gewalt“ und den Vorgängern sind marginal, werden jedoch von Han über Gebühr betont.

Dieser rhetorische Kniff gehört gewissermaßen zu den Spielregeln postmoderner Theorie, die über unterschiedliche Argumentationsgänge zur nahezu deckungsgleichen Gegenwartsanalysen kommt – in diesem Sinne ist er nicht an sich verwerflich. Störend wird diese Eigenart aber durch Hans apodiktischen Gestus; kurze, knackige, konstative Sätze reihen sich aneinander, setzen scheinbar klare Dichotomien und wiederholen die zentralen Thesen in fast redundanter Manier. Während Han das Verschwinden des Anderen zur Grundlage der zeitgenössischen Form der Gewalt erhebt, ist seine Argumentation ironischerweise gerade bestimmt von dem „bipolaren Spannungsverhältnis von Ego und Alter“.

Trotz ihres rhetorischen Übermuts bietet die „Topologie der Gewalt“ so manche treffende Einsicht in die spätmoderne Lebensform. Ihre Ergebnisse sind kein revolutionäres Novum, dennoch ist ihr Beitrag zu den zeitgenössischen philosophischen Diskursen um Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen; die „Topologie der Gewalt“ ist zu lesen im Kontext von Michel Foucault, Giorgio Agamben, Gilles Deleuze und Slavoj Žižek – hier zeigt sie, und manchmal nur in Marginalien, nicht nur ihre Schwächen, sondern benennt auch die Schwachpunkte der „Konkurrenz“.

Titelbild

Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882214956

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