Der weite Raum und die Sackgassen des Lebens

Über Thea Sternheims „Tagebücher“

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Momente, da will man mit den Tagebüchern der Thea Sternheim (1883-1971) nichts mehr zu tun haben. Zu aufreibend gestaltet sich die Lektüre der fast 3.000 Buchseiten, die freilich nur etwa ein Drittel des gesamten Bestandes der Eintragungen ausmachen, die auf uns gekommen sind: In etwa 30.000 kleinformatigen Seiten. 19.211 Tage Chronik eines Lebens, das immer wieder in weite Räume ausschreitet, besonders beglückt in die Räume der Kunst und der Literatur, aber auch, messerscharf analysierend, in die Räume des Sozialen und Politischen, um dann jedoch, mit einer den Leser bisweilen in Verzweiflung stürzenden Folgerichtigkeit, einzumünden in die Sackgassen einer beklemmend-düsteren Existenz: Ehehölle, Sorgenkinder, kontinuierliche Verarmung, das Leiden an der Ignoranz und Dummheit des Intellektuellen- und Großbürgertums, Krankheit und nicht zuletzt die Krallen einer ihre Wege ins Offene immer wieder (durch-)kreuzenden, aus den Fugen geratenen Zeit.

„Warum, um alles in der Welt, das jetzt, Thea Sternheim!“, will man bisweilen ausrufen, wenn die klugen Ausführungen, die Gesprächs- und Begegnungsprotokolle, die gewissenhaft abgeschriebenen Briefzeugnisse, die Kommentare zu akkurat auf die Seiten geklebten Zeitungsausschnitten und Fotos, also etwa Bemerkungen zu klassischer und moderner Kunst und Literatur, zu Van Gogh, Picasso und Max Ernst, zu Dostojewskij, Flaubert, Benn, André Gide, Franz Blei und Julien Green, jäh durchbrochen und durchsetzt werden von der Tristesse eines Alltags, den die Tagebuchschreiberin eben nicht beschönigt oder ausspart, sondern aufzeichnet: Unbarmherzig sich selbst gegenüber – unbarmherzig jetzt auch uns Lesern gegenüber.

Thea Sternheim, geborene Bauer, ist Tochter aus reichem katholischen Haus. Ihr Vater findet Gefallen an militärischem Drill, lässt die Tochter strammstehen, macht mit ihr Sprechübungen, maßregelt und belehrt sie, wo er nur kann – und erholt sich vom Industriellen-, Bürger- und Zuchtmeisterleben dann in den Armen anderer Frauen, während sich seine Gattin zu Hause grämt. Thea flüchtet zu ihrer warmherzigen Großmutter, trifft dort auf deren bigotte Schwester, die mit dazu beiträgt, den väterlich-strengen Katholizismus des ‚Vaterhauses’ zu überwinden: An die Stelle der Zucht tritt die Bildwelt biblischer Geschichten und Heiligenlegenden, sowie die eines barock verstandenen katholischen Rituals. Hinzu kommt ein scharfer, analytischer Verstand, der sich schon früh an Werken der Literatur und Kunst abarbeitet, wobei es Thea bereits in ihrer Internatszeit entscheidend auf den intellektuellen Austausch über diese Gegenstände ankommt, auf gemeinsames Erleben, Diskussion, gegenseitige geistige Bereicherung. Bis zu ihrem Tod wird sie einen solchen Austausch suchen – und finden. Doch der Preis, den sie dafür zu entrichten hat, ist gerade in den ersten Lebensjahrzehnten hoch! Denn mit dem Rechtsanwalt Arthur Löwenstein und dem Dichter Carl Sternheim treten zwei Männer schicksalhaft und bestimmend in ihr Leben, deren Verhalten in zum Teil grotesken Übersteigerungen zurückweist – auf das des Vaters.

Mit dem 25-jährigen Arthur Löwenstein verlobt sich Thea Bauer mit nur fünfzehn Jahren, lässt uns jedoch in ihren (momentan leider vergriffenen) „Erinnerungen“ rückblickend wissen, sie habe Arthur in erster Linie aus Pflicht geliebt. Und weiter: „Nur um die Lust zu empfinden, Vater […] zu strafen, muss ich die Pflicht auf mich nehmen, Arthur zu lieben!“ Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf: Die Ehe, die 1901 heimlich in London geschlossen wird, ist nicht glücklich. Arthur erweist sich als stumpfe Waffe gegen den Vater, denn er ist diesem zu ähnlich: Ein Bevormunder, ein Fremdgeher, ein Kulturbanause. Thea ist verzweifelt, flüchtet sich in Düsseldorf-Obercassel in die Welt der Literatur und kümmert sich um Agnes, ihre 1902 geborene erste Tochter. Im Frühjahr 1903 lernt sie dann den Dichter Carl Sternheim kennen und lieben, zeugt mit ihm ihre zweite Tochter Dorothea, die unter dem Namen „Löwenstein“ im Januar 1905 zur Welt kommt, trennt sich dann jedoch 1906 von Arthur, dem nach der Scheidung im April 1907 allerdings beide Kinder zugesprochen werden. Damit ist Thea endgültig allein, denn im August 1905 war zunächst ihre Mutter, im Mai 1906 dann auch der Vater gestorben. 1907 heiratet sie, mit einem Erbe von fast sechs Millionen Mark auf dem Konto, Carl Sternheim, der im Gegensatz zum Vater und zu Arthur zwar ein Geistesmensch ist, ihnen in Sachen Bevormundung und Fremdgeherei jedoch in nichts nachsteht.

Thea Sternheims Tagebuch, das 1905 einsetzt und, von einigen kleineren Unterbrechungen abgesehen, 65 Jahre kontinuierlich fortgeführt wird, gibt auf beeindruckende Weise Aufschluss darüber, wie eine geistig und emotional intelligente, schöne, gebildete, musisch begabte und reiche Frau im Spannungsfeld von Prägung und Begabung, Fremdbestimmung und Freiheitsstreben denkt, agiert und reagiert. Und was der Leser da in den vier voluminösen, sorgfältig und wunderschön gestalteten Bänden, die flankiert werden von einem in jeder Hinsicht hilfreichen, aber nicht aufdringlichen Kommentarband, zu lesen bekommt, ist wirklich das ganze Leben, keine zurechtgestutzte und aufgeschönte Auswahl besonders „interessanter“ oder „geistreicher“ Eintragungen.

So werden Bemerkungen zu Kunst, Literatur und Politik durchzogen von Klagen und Trauer über das zunehmend rücksichtslosere Verhalten Carl Sternheims ihr gegenüber, über das Abdriften der beiden Kinder Dorothea und Klaus (dem zweiten Kind mit Carl Sternheim) in die Drogensucht, über Einsamkeit und Krankheit und nicht zuletzt über den kontinuierlichen Verlust gesellschaftlicher und finanzieller Sicherheit. Dabei wird die Geduld des Lesers zugegebenermaßen oft auf eine ziemliche Probe gestellt. Denn Thea Sternheim reflektiert ihr Leiden und ihre Verzweiflung bis in die späten Jahre hinein, bevorzugt mit Blick auf ihre tief erlebte, unendlich entbehrungs- und sorgenreiche Mutterschaft, mit der sie ihre zweite Tochter Dorothea, genannt „Mopsa“, geradezu einspinnt: Mopsa hier und Mopsa da. Dabei ist klar: Der Kokon aus Sorge um das Kind soll nicht zuletzt die Mutter umgeben, schützen, stabilisieren. Gleiches gilt auch für die schwülstig-überspannten religiösen Gedanken, die das Tagebuch von Anfang bis Ende durchziehen. Sie konstituieren keine Privatreligion, sondern sind vielmehr Beschwörungsformeln, die Halt geben sollen in Zeiten der Not und der Ratlosigkeit.

Doch neben diesen Litaneien zeigt sich zur Freude des Lesers immer wieder das andere Gesicht der Thea Sternheim: Das Gesicht einer vitalen, unerbittlichen und unbestechlichen Frau, die ihre Meinung sagt und auch danach handelt. Es tritt besonders deutlich in den Aufzeichnungen über die sie umgebenden Männer hervor: Ihre Bewunderung bleibt immer kritisch und kann auch in zeitweilige Verachtung, ironische Distanzierung oder scharfzüngige Ablehnung umschlagen: In Carl Sternheim etwa, dem Autor des Komödienzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“, erkennt sie – bei aller letztlich unverbrüchlichen Liebe – zu ihrem wütenden Entsetzen immer wieder den „Bürger Schippel“: Brutal, erotoman, lügenhaft, ein Mann mit „entformtem Körper“ und offenem Hosenlatz, nicht mehr ernst zu nehmen, lächerlich, verachtungswürdig – aller Kunstbegabung zum Trotz. Dem Theaterkritiker Friedrich Luft, der 1952 in Berlin eine Ansprache bei der Buchpremiere von Thea Sternheims Roman „Sackgassen“ hält, aber nahezu ausschließlich über Carl spricht, entgegnet die Autorin mit feiner Ironie, sie fühle sich kaum im Recht, „Ihnen [Luft] in seinem [Carls] Namen zu danken“. Und eindeutig fällt ihre Ablehnung der Bücher Klaus Manns aus:„Kaffeehausatmosphäre, Cigarettendunst, Beischlaf ohne Sinnenlust, dafür aber Heroinspritze“, eine emsige Arroganz, wie in der Mann-Sippe üblich, in die leider auch die Tochter Mopsa hineingeraten sei und jetzt für diese „Klan Klique“ Modell stehen müsse.

Das ganze Leben: Das private und privateste und das öffentliche und politische Leben. Unzählige Begegnungen mit für uns zunächst unbekannten Menschen, die uns jedoch, bei fortschreitender Lektüre, zunehmend vertrauter werden. Begegnungen aber auch mit Menschen, die wir kennen und die in den Aufzeichnungen Thea Sternheims in einem ganz eigenen Licht erscheinen: Julien Green etwa oder André Gide oder eben – in einem sehr kühlen Licht – Klaus Mann. Darüber hinaus sind die Tagebücher eine einzigartige gesellschafts- und mentalitätsgeschichtliche sowie literatur- und kunsthistorische Quelle, insbesondere was die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs angeht. Wie aufmerksam Thea Sternheim die Ereignisse zwischen den Kriegen verfolgt und kommentiert, in welchen Kreisen sie sich mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt, was für Kunstwerke sie (allerdings nicht allzu lange) ihr Eigen nennen kann (Gemälde von Van Gogh, Renoir, Matisse, Gericault) oder was sie alles liest, das lässt den Leser tief beeindruckt und berührt zurück.

In diesem Zusammenhang ist es eine gute Tat der Herausgeber, auf einer mitgelieferten CD den Volltext der Tagebücher (verbunden mit einer attraktiven Suchoberfläche) in einer Arbeitsfassung zugänglich zu machen. Damit können wir das Leben der Thea Sternheim in ihrer Zeit mit großem Gewinn immer weiter ausloten und vertiefen, aber auch bisweilen innehalten, aus allen engen und weiten Bezügen heraustreten und mit dieser starken Frau nach oben schauen zum Mond, „noch fast in vollem Rund, diamantklar, magisch“.

Titelbild

Thea Sternheim: Tagebücher 1903 - 1971.
Herausgegeben von Thomas Ehrsam und Regula Wyss.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
3699 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307483

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