Spektrum organisierter Gewalt

Dierk Walter und seine Mitautoren versuchen in ihrem Buch „Imperialkriege von 1500 bis heute“, die Tragfähigkeit eines neuen Leitgedankens in der Erforschung militärischer Konflikte auszuloten

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Können der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg oder der Burenkrieg tatsächlich noch als Kolonialkriege bezeichnet werden? Zwar fanden sie im kolonialen Raum statt, doch die Kontrahenten waren, abgesehen von einigen autochthonen Kombattanten und Hilfskräften mehrheitlich Europäer oder deren direkte Nachfahren. Ebenso wenig aber lassen sich diese beiden Auseinandersetzungen wie auch die Kriege des Zarenreiches im Kaukasus und in Zentralasien als klassische Staatenkriege einordnen, da sie eben nicht wie die Konfrontationen der europäischen Großmächte von ökonomisch und militärtechnisch gleichrangigen Gegnern ausgefochten wurden. Es erscheint daher zweckmäßig, für die Mehrzahl der seit dem Beginn der westlichen Expansion um 1500 in Übersee und an der europäischen Peripherie ausgetragenen militärischen Konflikte ein neues Forschungsparadigma zu entwickeln, dass außer den Kolonialkriegen auch alle anderen transkulturellen und asymmetrischen Konflikte unter Beteiligung westlicher Staaten in die Betrachtung einbezieht.

Der Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung Dierk Walter hat daher mit seinen beiden Mitherausgebern versucht, unter dem Leitbegriff „Imperialkriege“ all jene militärischen Auseinandersetzungen an den umkämpften Rändern des westlichen Einflussbereiches zusammen zu fassen, die darauf abzielten, benachbarte Territorien und Ethnien dem heute weltweit dominierenden System der europäisch-nordamerikanischen Ökonomie einzugliedern. Aus dieser weiter gefassten Perspektive lassen sich sogar noch die aktuellen Interventionen der westlichen Staatengemeinschaft in Afghanistan und im Irak als Imperialkriege definieren, da sie – bei gleicher Zielsetzung – transkulturell und zumindest von der strukturell unterlegenen Seite auch irregulär geführt werden.

In seiner Einleitung hat Dierk Walter insgesamt sieben Kriterien entwickelt, die nach seiner Überzeugung prägende Elemente von Imperialkriegen waren und sind. Dazu gehört auch das Paradox, dass fast alle imperialen Konflikte trotz ihres – im Vergleich zu klassischen Staatenkriegen – meist geringen Mitteleinsatzes entgrenzt und total sind, also dazu tendieren, vor allem die Zivilbevölkerung oder sonstige Unbeteiligte in die Auseinandersetzung einzubeziehen. Der von Walter und seinen Mitherausgebern moderierte Band protokolliert die Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, die das Potsdamer Militärgeschichtliche Forschungsamt zusammen mit dem Deutschen Historischen Institut London sowie dem Hamburger Institut für Sozialforschung im Sommer 2009 veranstaltet hat.

Während der erste Teil des Sammelbandes versucht, mit den vorgegebenen Kriterien die Abgrenzungen zu imperialen Konflikten nicht westlicher Mächte wie China, das frühe Spanien oder das Zarenreich auszuloten, befassen sich die drei übrigen Hauptteile mit den Charakteristika von Imperialkriegen, mit ihren typischen Kombattanten und den damit verbundenen Lernprozessen auf Seiten der westlichen Mächte. Dabei ist es nun nicht unbedingt eine neue Erkenntnis, dass die meisten Imperialkriege von örtlich verfügbaren Truppen geführt wurden, die sich in ihrer Struktur und in ihren Einsatzgrundsätzen erheblich von den metropolitanen Armeen unterschieden. Anders als die großen Auseinandersetzungen des europäischen Staatensystems seit 1648 hatten Imperialkriege gewöhnlich keinen klar definierten Anfang und sie endeten auch nicht mit einem Waffenstillstand oder Friedenschluss, sondern allenfalls mit einer vorrübergehenden „Befriedung“ des Gegners oder eben dem mehr oder weniger geordneten Abzug der Interventionstruppen. Tatsächlich war und ist es ein prägendes Element der meisten Imperialkriege, dass sie in ständigen Konfliktzonen mit wachsender oder nachlassender Intensität geführt werden und dabei das gesamte Spektrum organisierter Gewalt von der einfachen Polizeiaktion über gezielte Verwüstungen privaten Eigentums und Folter bis hin zu regelrechten Gefechten aufweisen können. Gerade mit dieser „unzivilisierten“ Vielfalt von Erscheinungsformen militärischer Gewalt in Imperialkriegen taten sich jedoch europäische und amerikanische Offiziere besonders schwer, die in den beiden vergangenen Jahrhunderten an ihren Akademien und Kriegsschulen das klassische Muster des kurzen Krieges und der entscheidungssuchenden Schlacht verinnerlicht hatten.

Gleichwohl lassen sich auf französischer und britischer Seite in der Phase der Dekolonisierung seit 1945 auch Lernprozesse feststellen, die zur Entwicklung neuer und besonderer zivil-militärischer Einsatzdoktrinen beitrugen. Dieser gerade im Hinblick auf die Rolle der US-Armee spannenden Thematik ist der vierte und letzte Abschnitt des Bandes unter dem Leitmotiv „Lernen“ gewidmet. Während aber Franzosen und Briten aus ihren Einsätzen in Vietnam und Malaya immerhin begrenzte Erfahrungen in der so genannten Counter-Insurgency sammeln konnten, schienen die amerikanischen Streitkräfte aus ihrem Desaster in Vietnam kaum Lehren gezogen zu haben. Zwar spricht man auch in den US-Streitkräften gerne und oft von der Gewinnung der „Hearts and Minds“ der autochthonen Bevölkerung, doch tatsächlich scheint – wie die aktuellen Konflikte im Mittleren Osten zeigen – nach wie vor das Dogma von der überwältigenden Feuerkraft das Denken amerikanischer Militärs zu bestimmen.

Das so unverständlich wirkende Beharren auf dem überkommenen Bild des „Big War“ hat allerdings auch mit der Überlegung zu tun, dass Imperialkriege anders als die klassischen Staatenkriege für die europäischen Mächte nie eine existenzielle Bedeutung hatten. Gingen sie verloren, war dies zwar peinlich, wie der Verlauf der Suezkrise von 1956 für Frankreich und Großbritannien, oder wie im Falle des US-Rückzuges aus Südostasien 1973-75 sogar traumatisierend, aber nie substantiell bedrohlich. Walter bezeichnet diese ungleiche Interessenlage der Kontrahenten in einem Imperialkrieg als zweite Asymmetrie, die nun aber für die angegriffene Seite spricht: Eine Gruppe, die um ihre Unabhängigkeit kämpft, wird stets alle ihre Ressourcen in die Waagschale werfen, eine Imperialmacht dagegen kaum.

Wie alle Sammelbände dieser Art weist auch die vorliegende Aufsatzsammlung Redundanzen und Lücken auf. Es wäre zum Beispiel interessant gewesen, die erstaunliche und letztlich erfolgreiche Strategie britischer Truppen im Kampf gegen die IRA in Betracht zu ziehen, was allerdings auch die Frage aufgeworfen hätte, ob und wie sich Bürgerkriege und militärische Interventionen – etwa zuletzt in Libyen – von Imperialkriegen abgrenzen lassen. Auch wird nicht klar, ob die Verfasser ihr Konzept der Imperialkriege nur im Kontext der weltweiten Implementierung westlicher Normen und Verhaltensweisen sehen wollen, wie es zumindest Walter in seiner Einleitung beschreibt, oder ob die Expansionskriege Chinas und Russlands im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls dazu zu rechnen wären, wie es die beiden entsprechenden Aufsätze nahelegen.

Bemerkenswert ist jedoch zweierlei: Walter und seine Mitautoren leisten fraglos einen bedeutenden Beitrag zu einem Paradigmenwechsel der Militärgeschichtsschreibung. Nicht mehr der klassische Staatenkrieg mit seiner inzwischen genozidalen Zerstörungskraft gilt demnach als die Hauptform militärischer Konflikte in den vergangenen fünf Jahrhunderten und wohl auch davor, sondern eben der Typus des imperialen und transkulturellen Krieges. Auch zukünftige Konflikte dürften eher nach dem hier beschriebenen Muster lokal entgrenzter Gewalt, also irregulär und langwierig, aber dennoch mit geringerer Intensität geführt werden.

Ob sich die Verfasser damit auch Samuel Huntingtons vieldiskutierter These vom Kampf der Kulturen anschließen würden, bleibt offen. In gewisser Hinsicht rüttelt das Buch aber auch an einem zweiten historiografischen Dogma des „sine ira et studio“, wenn es vergangene Imperialkriege nicht mehr nur verstehen will, sondern mit dem Blick auf wahrscheinlich kommende Konflikte auch nach möglichen Lehren für die Zukunft befragt. So beendet Walter seine Einleitung mit dem Hinweis, dass imperiale Konflikte und ihre spezifischen Anforderungen keineswegs neue Erscheinungsformen des Krieges seien, und dass diese Einsicht den Streitkräften der westlichen Welt „vermittels historischen Lernens“ helfen könnte, sich besser darauf einzustellen. Praktische Nutzanwendung aber war auch schon das Anliegen des Großen Generalstabes an der Berliner Moltkebrücke, als die Militärgeschichte – damals Kriegsgeschichte – noch weithin unangefochten in den Händen der Militärs lag.

Titelbild

Tanja Bührer / Dierk Walter / Christian Stachelbeck (Hg.): Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen - Akteure - Lernprozesse.
Schöningh Verlag, Paderborn 2011.
524 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783506773371

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