Wie lässt sich nach Auschwitz noch philosophieren?

Zu Kurt Wolfs Einführung in die neuere französische Religionsphilosophie und Sozialontologie

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Überblickt man die neuere französische Religionsphilosophie und Sozialontologie, so scheinen im wesentlichen zwei Prinzipien vorherrschend zu sein: das Selbst und das Andere. Das Oszillieren zwischen Einheit und Differenz, die Wiederentdeckung des Seins in einer Schnittmenge von Gesagtem und Ungesagtem, Stummem und Sprechendem rekurriert dabei auf einen diskursiven Umgang mit kultureller Alterität. In der okzidentalen, von der griechischen Antike her logozentrisch geprägten Denktradition gelten u. a. Bewusstsein und Sprache, die Sinneswahrnehmung der Visualität sowie die durch ein binär operierendes Schema formal erzielte Eindeutigkeit der Aussage als positiv konnotierte Werte und damit als Charakteristika der Identität. Sie werden abgesetzt von den der kulturellen Alterität zugeschriebenen Gegenpolen des Unbewussten, der Sprachlosigkeit, der leibzentrierten Sinneswahrnehmung des Taktilen oder des Diffusen und Amorphen. Als weitere kulturelle Strategie fungiert die Setzung von Schlüsselmodellen der okzidentalen Epistemologie und Metaphysik als normativer Maßstab der anders codierten Weltbilder, wie z. B. die Universalisierung des okzidentalen Subjektbegriffs, eine universalistisch ausgelegte, evolutionär und teleologisch konzipierte Zeit- und Wirklichkeitsdefinition, die die kulturelle Alterität als eine moralische, biologische, intellektuelle, ökonomische und religiöse Vorstufe der Ausgangskultur erscheinen lassen.

Demgegenüber verweist Kurt Wolf in seiner Einführung auf die seit einigen Jahren zu beobachtende Primordialität des Anderen, wobei der Andere "an erster Stelle der 'ganz Andere'" der "seinsgebende Rückbezug aller Beziehungen" ist und daher als "der Unendliche" erscheint. Zurecht hebt Wolf in diesem Zusammenhang hervor, dass "ein unbewegtes höchstes Sein der sog. 'Ontotheologie'" im Rahmen einer Philosophie nach Auschwitz zum Skandalon geworden ist. Deshalb kann gerade in den Texten französischer Religionsphilosophen nach 1945 die Rückkehr zu einem Denken beobachtet werden, das keine scharfen Grenzen mehr zieht zwischen der natürlichen Theologie der Metaphysik und der Offenbarungstheologie einer lebendigen und ansprechbaren Gottheit, "der man das 'Leiden der Welt' klagen kann, von der man jedoch auch eine 'eschatologische' Lösung der Sinnfrage in einer sich durch die solidarisch-wiederaufrichtende Hingabe an die 'Erfahrung der Ohnmacht' wahrhaft 'bewährenden Allmacht' erhofft."

Die Primordialität des Anderen manifestiert sich in der Religionsphilosophie im Zusammenwirken von Dialog- und Sprachphilosophie vor allem bei Emmanuel Lévinas, der die im Abendland übliche Trennung zwischen Theologie und Philosophie durchbricht, um aus einer immanenten Kritik an der Phänomenologie Husserls und der Existenzontologie Heideggers zur ursprünglichen Erfahrung zu gelangen, die in der Unvordenklichkeit des Anderen den Vorrang der Ethik vor der Ontologie darstellt. Lévinas praktiziert diese Hermeneutik in seinen Talmudlektüren, die Wolf allerdings unerwähnt lässt. In "L'au-delà du verset" etwa findet sich folgender Ansatz: "Der große Gedanke, der diesem Prinzip zugrunde liegt, besteht in dem Eingeständnis, daß das Wort Gottes in derselben Sprache [parler] Eingang findet, derer sich untereinander die Geschöpfe bedienen. Wunderbare Kontraktion des Unendlichen, Einwohnen des 'Mehr' im 'Weniger', das Unendliche im Endlichen." Die bedingungslose Verantwortung, die durch die freie Entscheidung des Menschen bedingt ist, jedoch als "Vorschrift" vorbedingt ist, ermöglicht die Einbettung des menschlichen Handelns am Anderen im Menschen und in Gott. Lévinas bringt so phänomenologische Ethik und normatives Judentum zusammen. Im Verhältnis zum Anderen wie auch im Verhältnis zu Gott fallen Objekt und Subjekt zusammen. Das menschliche Dasein ist für Lévinas unmittelbar verbunden mit der Sprache, beide sind ein "à-Dieu" - "Hin-zu-Gott".

Die Interdependenz zwischen Religionsphilosophie und Judentum wird von Wolf in seinem Überblick - nicht nur zu Lévinas - allerdings meist nur kurz gestreift. Fast beiläufig zitiert er Lévinas' fundamentale Erkenntnis: "jede philosophische Erfahrung ruht auf einer präphilosophischen Erfahrung. [...] Ich habe im jüdischen Denken die Tatsache gefunden, daß die Ethik nicht eine einfache Seinsregion darstellt. Die Begegnung mit dem anderen Menschen bietet uns den ursprünglichen Sinn überhaupt, und in seiner Verlängerung findet man allen weiteren Sinn." Aus diesem Grund kann die sinnlose Vernichtung des europäischen Judentums als Frage nach dem Sinn, als Frage nach dem Sinn der abendländischen Vernunft, für Lévinas nur im Antlitz des Anderen - das für das Antlitz Gottes im göttlichen Wort "lo tirzach" ("Du sollst nicht töten") steht - befriedigt werden. Lévinas' Philosophie ist daher, wie Wolf zurecht anmerkt, als "Philosophie des erniedrigten Anderen (als 'Spur' des 'leidenden Gottesknechts' der Bibel), der noch die Kraft der 'Stellvertretung' für seine Peiniger aufbringt", ohne die schreckliche Zäsur von Auschwitz nicht denkbar. Derridas Auseinandersetzung mit der negativen Theologie und Ricœurs Versuch einer "fragmentarischen Theodizee" und Sinnlösung, die Wolf in weiteren Kapiteln seiner Einführung vorstellt, gehören ebenfalls in diesen Kontext.

Keine ausführliche Stellungnahme erfolgt zum Verhältnis von Lévinas und der Sprachtheorie Walter Benjamins auf der einen und dem Sprachdenken Franz Rosenzweigs auf der anderen Seite, wobei sich ohne Mühe zeigen ließe, dass Lévinas über beide Ansätze hinausgeht, indem er nicht nur Sprache und Zeit, sondern Sprache und Ethik verbindet. Offenbarung im biblischen Sinne heißt für Lévinas Offenbarung der Bedeutung der Welt, die ihre Grundlage im "ursprünglichen Geschehen von Angesicht-zu-Angesicht ist", wie er in "Totalité et infini" unterstreicht. Die Schöpfung der Welt durch göttliche Rede gewinnt ihre Bedeutung erst in der Offenbarung, einer Weisung, die eine ethische Beziehung zum Anderen als Sinn des Seins voraussetzt. Das Antlitz des Anderen als ethische Herausforderung verweist somit auf ein Jenseits, ein Jenseits des Seins wie auch ein Jenseits der Immanenz des Seienden. Es ist dabei das Verdienst Lévinas', einen glaubwürdigen philosophischen Diskurs zu entwickeln, der den Gott der Bibel, dessen Anwesenheit in Abwesenheit besteht, in der Spur zur Sprache bringt. Der Übergang zum Anderen erlaubt den Zugang zum Mitmenschen, der ebenfalls nur als Spur Gottes zugänglich ist. Dennoch ist, so Wolf, "der Überstieg in den Bereich der 'Offenbarung' prinzipiell jederzeit möglich, denn die 'Verstrickung des Menschen in Geschichte[n] (Ricœur) bietet ihm die Chance, 'narrativ' von Ereignissen zu hören, die in 'heiligen' Schriften (Derrida) erzählt werden und Autorität des 'Absoluten' aussagen wollen."

Neben der Schrift- und Daseinshermeneutik bei Lévinas und Derrida werden von Wolf vor allem der visionäre Evolutionismus Teilhard de Chardins, die phänomenologische Gestaltinterpretation Merleau-Pontys, die Sprachanalyse der persönlichen Fürwörter der Dialogphilosophie Marcels und Ricœurs sowie die phänomenologischen Studien zu Liebe, Gerechtigkeit und spirituellem Leben bei Marion und Henry und die Aphoristik Simone Weils, deren Betrachtungen sich permanent in der Nähe einer religiösen Mystik bewegen, mehr oder weniger ausführlich besprochen. Die von Wolf ausgewählten Autoren werden dabei in den meisten Fällen anhand eines religionsphilosophischen Hauptwerks vorgestellt; allerdings mit Ausnahme der Denker, die sich, wie etwa Derrida, nur als 'Randgänger mit sehr speziellen Detailfragen der Religionsphilosophie beschäftigt haben und deren Äußerungen bruchstückhaft über mehrere Texte verteilt sind. Trotz mancher Lücken ist Kurt Wolfs Einführung von hohem Nutzen, über weite Strecken gut lesbar und sollte sich einen Platz in der ersten Reihe der Standardwerke zu diesem Thema sichern können.

Titelbild

Kurt Wolf: Religionsphilosophie in Frankreich. Der "ganz Andere" und die personale Struktur der Welt.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
216 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 377053400X

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