Kleist, Kleist, Kleist.

Drei Bände zu Sprache und Gewalt

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Faszination, die von Kleist ausgeht, ist ungebrochen - sowohl für die Leser, für die Theaterbesucher seiner Stücke (noch heute zählt "Der Zerbrochne Krug" zu den meistgespielten deutschen Komödien), als auch für Literaturwissenschaft. Woher das rührt, insbesondere Faszinosum für die Literaturwissenschaft, ist schwer zu sagen. Es hängt sicherlich damit zusammen, dass Kleist ein besonderer Klassiker ist - ein Klassiker zweifellos, aber eben doch kein Dichterfürst, kein Repräsentant seiner Epoche, keine Repräsentationsfigur für eine Nation. Auf den Sockel zu Goethe und Schiller durfte er nie steigen - Goethe selbst hat es verhindert -, sein Werk lässt sich nicht eindeutig literarhistorisch einordnen und steht zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik, allerdings mit markanten Unterschieden zu allen drei Literaturprogrammen. Schließlich gilt er als traumatisierter Dichter, der nicht zuletzt mit seinem Selbstmord am Wannsee zu einer entsprechenden Aura beigetragen hat.

Jedoch ist er keineswegs abgehoben von den gesellschaftlichen, politischen und literarhistorischen Entwicklungen seiner Zeit. Doch all das, was er vorfindet und in seinem Werk verarbeitet, wird mit einer einzigartigen Radikalität in Frage gestellt und immer im Moment der höchsten Krise zwischen Bewährung und Scheitern vorgeführt; sei es die Aufklärungsidee von Glück und Freiheit, die transzendentalphilosophische Konzeption von der Erkennbarkeit der Welt, sei es die politische Entwicklung im Ausgang der Französischen Revolution und sei es die gesellschaftliche Entwicklung Preußens am Vorabend der Befreiungskriege. Dieses Spannungsfeld reduziert Kleist zu fundamentalen Experimentalanordnungen, denen er seine Figuren unterwirft und in denen die Grundlagen ihres Subjektsseins und ihrer Individualität radikal in Frage gestellt werden.

Nachdem solche radikalen Infragestellungen durch die entsprechenden theoretischen Vorgaben von Diskursanalyse, Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Intertextualitätsdebatte und Psychoanalyse/Psychosemiotik vorbereitet waren, wurde Kleist unter diesen Voraussetzungen in den 1970-er und 1980-er Jahren zu einem Musterbeispiel für eine Literatur, an der nicht nur diese Theorie ihre Interpretationskraft oder ihre Interpretationsverweigerung demonstrieren konnten. Kleist wurde zum exemplarischen Anwendungsfall für den neueren Methodenkanon. Das hatte schließlich auch zur Folge, dass Kleist bisweilen lediglich dazu diente, diese Theorien zu illustrieren.

Es scheint, dass sich die Zeiten geändert haben. Dies zeigen die drei vorliegenden Bände. Sicherlich, aus der kaum zu überblickenden Fülle der Kleistforschung sind die drei Titel willkürlich ausgewählt, aber sie weisen dennoch Gemeinsamkeiten auf, die auf grundlegende Tendenzen schließen lassen. Die Büchern der renommierten Kleist-Forscher Grathoff und Stephens enthalten Aufsätze, die in der langen Entwicklung ihrer je eigenen Auseinandersetzung mit diesem Autor, seinem Werk und seinem Leben, entstanden sind. Aus den Sammlungen der Publikationen entstehen zwar keine systematischen Monografien, doch lassen sie Forschungsinteressen erkennen, die für die Kleistforschung heute und in Zukunft richtungsweisend sein können.

An diesem Punkt treffen sich diese Arbeiten mit dem Kleist-Jahrbuch, das den zweiten Teil jener Arbeiten abdruckt, die sich - ausgehend von der Hamburger Jahrestagung 1998 - mit Kleists Duellen beschäftigen. Die Zeit der theoretisch-methodischen Vereinnahmung Kleists ist vorüber, sie ist aber nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat ein Sensorium und ein Reflexionsniveau hinterlassen, das den Zusammenhängen zwischen dem nachspürt, was Literatur grundlegend mit bestimmt - nämlich ihre je spezifische sprachliche Qualität und die Themen, die sie behandelt. Dieser Zusammenhang ist bei Kleist deswegen so prekär, weil das Thema immer unmittelbar mit der Verwendung von Sprache selbst zusammenhängt, handelt es sich doch um Formen der Unaussprechlichkeit in der Erkenntnis der Welt und der Erfahrung des eigenen Ichs. Der Titel des Buches von Stephens, "Sprache und Gewalt", könnte alle drei Bücher charakterisieren. Immer sind es Formen zum Teil extremer Gewalt, die in Kleists Texten Unaussprechlichkeit markieren, aber in eine literarische Sprache eigener Art überführt werden.

Neben der Sprache nennt Grathoff Politik und Geschichte. Überblickt man die Folge der Aufsätze, die in einen werkorientierten Teil und verschiedene biographieorientierte Abschnitte zusammengefasst werden, so wird deutlich, dass es insbesondere auch dort um Gewalt geht, wo die politischen und gesellschaftlichen Anforderungen mit denen des Indivdiuums kollidieren, wenn beispielweise die "Überlegungen zur Penthesilea" die Überschrift "Liebe und Gewalt" erhalten. Es fällt schwer, bei Grathoff einen exemplarischen Aufsatz herauszugreifen. So gibt es einige Aufsätze, die Spezialthemen behandeln, wie etwa die Würzburger Reise oder Kleists Beziehungen zu Napoleon oder Hegel. Die werkorientierten Beiträge haben allerdings die grundsätzliche Tendenz, nicht nur ihr Themengebiet zu bearbeiten, sondern auch die Texte umfassend interpretatorisch aufzubereiten. Gerade diese Tendenz macht die Aufsätze zu einer wertvollen Orientierung für diejenigen, die sich in die Kleistinterpretation des betreffenden Werkes einarbeiten wollen. Hinzu kommt, dass sich diese Arbeiten durch eine konzentrierte Werkimmanenz und eine hermeneutische Redlichkeit der besonderen Art auszeichnen. Jeder Aufsatz geht von einem sehr detaillierten Textbefund aus, bevor die Antworten für die Ausgangsfragestellungen entworfen werden. Theorie ist hier keineswegs Selbstzweck. Sie wird selbst dort zurückgedrängt, wo man sie erwartet. So wird die Problemstellung im Aufsatz "Die Zeichen der Marquise" nur im Ansatz und mit der rudimentären Begrifflichkeit von Saussure entworfen, wo es zahlreiche Ansätze weiterführender Zeichentheorien - insbesondere zu Sprache und Schrift - gegeben hätte.

Die Aufsätze zu Kleists Duellen im dem Jahrbuch implizieren Gewalt, doch konsequent dehnen alle Autoren diesen Begriff soweit aus, dass auch hier der Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt, zwischen kulturellem Ritual und naturhafter Aggression deutlich wird. Günter Blamberger spricht daher zurecht vom Duell als einer Gedankenfigur Kleists. Damit spannen diese Beiträge ein relativ klar umgrenztes Feld auf, aus dem heraus sich die Fragestellungen entwickeln. So zeigt es sich, dass die Gewalt immer die Krise der Subjektkonstitution der Kleistschen Figuren anzeigt. Das Duell - das ist nun in der Tat beeindruckend - modelliert anfangs dyadische und antagonistische Konfliktstellungen, die in den Texten mit Rekurs auf andere Instanzen zu einer triadischen Struktur erweitert werden. Die Duellsituation wird somit zum existentiellen Muster, dem nahezu alle Kleistschen Helden unterworfen sind. Subjekt, Individuum sein heißt, sich zu duellieren - und zwar immer auch sprachlich, jedoch am Rande der Sprachlosigkeit.

Die Abhandlung von Ulrich Fülleborn zu den frühen Briefen Kleists schafft eine enge Klammern zu den Überlegungen von Anthony Stephens. Beide Autoren gehen auf das Scheitern der Vorstellung von der Berechenbarkeit des Lebens beim jungen Kleist ein und arbeiten das gedankliche Muster des Besitzdenkens heraus, mit denen Kleist Werte der Aufklärung wie insbesondere das Lebensglück zu fassen versucht, um zu zeigen, welche Konsequenzen sich daraus für das Werk ziehen lassen. Stephens weist hier mehrfach hin auf jenes Übergangsmoment zwischen Kleists früherer Aufklärungshörigkeit und seiner späteren literarischen Produktion. Woran er als junger Mensch geglaubt hat, was er auch unbedingt seiner Verlobten - zumeist briefllich - vermitteln wollte, das wird später im Werk wieder vorgeführt, allerdings im Moment einer radikalen Krisensituation. Stephens Aufsätze behandeln die Themenfelder Macht, Sprache und Individualität. Doch wieder ist die Gewalt die unmittelbare Klammer, die diese Bewährungsfelder der Individualität umspannt. Stephens ist ein ausgezeichneter Kenner auch der kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, etwa der zum Opfergedanken (auch hier ein Ritual aus Sprache und Gewalt), die er kritisch und differenziert in die Interpretation einbringt. So finden sich bei Stephens Aufsätze von einer beeindruckenden literatur- und kulturwissenschaftlichen Virtuosität, die das Thema von Sprache und Gewalt auf eine neue Ebene heben. Ein Beispiel sei herausgegriffen, an dem er zeigt, dass die Verführungskonstellationen, die ein Text als erotisches Thema abhandelt, häufig mit Verführungssituationen auf der Erzählebene korreliert sind: dem Erzähler geht es darum, den Leser zu verführen.

Von interpretatorischer Grundlagenarbeit bis hin zu ihrer kulturwissenschaftlichen Verwertung - mit dieser Schwergewichtsreihung habe ich die Bücher vorgestellt - wird hier eine vielversprechende Literaturwissenschaft vorgeführt, der es gelingt, relevante Fragestellungen mit der Lust am Text zu verbinden. Es zeigt sich eine Symbiose, in der Literaturwissenschaft und Kleistforschung wechselseitig voneinander profitieren.

Zum Abschluß noch ein Satz, über den ich bei Grathoff gestolpert bin: "Der entscheidende und grundlegende Differenzpunkt in den Geschichtsauffassungen Kleists und Hegels liegt im Bereich der synthetisierenden Aufhebung der dialektischen Gegensätze, die Kleists Denken fremd bleibt." Wirklich? Was ist mit dem Marionettentheater, was ist mit dem Durchgang durch das Unendliche, auf den alle Hauptfiguren geschickt werden? Das ist nicht Hegel, das ist Dialektik und das ist Kleist!


Titelbild

Anthony Stephens: Kleist - Sprache und Gewalt.
Rombach Verlag, Freiburg 1999.
489 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3793092070

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dirk Grathoff: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1999.
300 Seiten, 30,60 EUR.
ISBN-10: 3531132474

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