Last Man Standing in Mumbai

Aravind Adigas Roman „Letzter Mann im Turm“ handelt von Ungerechtigkeit, Armut und Brutalität

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bewohner von Turm A der Vishram Society in Mumbai (ehemals Bombay) sind stolz darauf, eine anständige Wohnungsgenossenschaft zu sein, auch wenn sich der Slum Vakola krakenartig um sie herumgebildet hat, sie in der Einflugschneise des Flughafens liegt, das Haus renovierungsbedürftig ist und die Gemeindeverwaltung zweimal täglich das Wasser abstellt. Aber die Bewohner, vor allem ältere Mittelschichtler, kennen sich seit vielen Jahren, respektieren sich und leben trotz unterschiedlicher Religionen in mustergültiger Gemeinschaft.

Bis der Immobilientycoon Dharmen Shah mit seiner linken Hand, dem ehrgeizigen Shanmugham, der Eigentümergemeinschaft ein lukratives Kaufangebot macht, das 250 Prozent über dem Marktwert liegt. Er will die beiden Türme abreißen und einen Luxusapartment-Komplex bauen. Die Bewohner von Turm B, alles jüngere Angestellte, fallen schnell um, doch in Turm A gibt es Widerstand. Man hat seine Gewohnheiten, Traditionen und alte Freundschaften, die man nicht gerne aufgibt.

Aber Shah ist gewieft und kennt die Schwachstellen der Menschen: Geldgier und Existenzangst, Bestechung und Schmeicheleien, Gruppendruck und Einschüchterung lassen die Bewohner unterschreiben. Nur der pensionierte Lehrer Masterji, der vor einigen Monaten seine Frau verloren hat und nun ganz allein lebt, weigert sich und droht die Träume der Nachbarn zum Platzen zu bringen. Denn das Geld gibt es nur, wenn alle zustimmen. Masterji wähnt sich sicher, denn die Menschen respektieren und bewundern ihn wegen seiner Intelligenz und Integrität. Doch je näher die Deadline für seine Unterschrift rückt, desto feindseliger werden seine Nachbarn.

Die Lektüre des neuen Romans von Adiga weckt Erinnerungen, erzeugt nahezu automatisch Anschlüsse an das Kino (aus Hollywood: „Last Man Standing“, aus Bollywood: „James“), an die Literatur („Red Harvest“) und an das Theater („Der Besuch der alten Dame“).

Einem geflügelten Wort gemäß hat jeder Mensch seinen Preis. In einem System der Korruption wird dieser entlang einem Suchpfad sukzessive erhöht, bis alle „ihren“ Preis realisiert haben. Sollte es einen Akteur geben, der diese Systemlogik sabotiert, indem er ihre Gültigkeit für sich verneint, dann ist er so etwas wie der „Last Man Standing“. Im gleichnamigen Film von Walter Hill, der bislang getreusten Adaption des Romans „Red Harvest“ von Dashiell Hammett, verfügt die Hauptfigur, gespielt von Bruce Willis, über die nötigen Ressourcen und das Know How, auch tatsächlich stehen zu bleiben. Ebenso wie seine Bollywood-Entsprechung in Rohit Jugrajs „James“.

Adiga hingegen zeigt uns einen Mann, der höchstens davon träumen kann, eine Willis-Figur zu sein, wenn er in Bedrängnis gerät. Einen Mann, der in einer korrupten Welt nicht korrupt ist und eben nicht über die Möglichkeiten zur Verteidigung seiner Position verfügt. Und Adiga zeigt, was der Mann davon hat: Er fährt früher zur Hölle, als die, die ihn dort hinschicken.

Noch einmal das Theater: Die katalanische Künstlergruppe La Fura dels Baus hat auf der Ruhrtriennale 2004 – in einer Übernahme von den Salzburger Festspielen 1999 – „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz inszeniert. Im Zentrum der Aufführung befindet sich ein gläserner Turm. In diesem ist die Entblößung, die Offenlegung der menschlichen Seele zu beobachten, natürlich auch die Höllenfahrt.

Bei Adiga ist dieser gläserne Turm ein Wohntower. Darin lebt ein kunstvoll orchestriertes Figurenensemble aus beinahe fünfzig Personen, von denen ungefähr ein Dutzend das Kernpersonal bildet. Dazu gehört die Sozialarbeiterin und allein erziehende Mutter Georgina Rego, das „Kommunisten-Tantchen“. Ihr Mann hat sie wegen einer Jüngeren sitzengelassen, sie beneidet ihre besser gestellte Schwester. Dazu gehört der ängstliche, nach Anerkennung heischende Moslem Ibrahim Kudwa, dessen Speed-Tek Internet-Café im Gegensatz zur Werkstatt seines erfolgreicheren Bruders kaum Geld abwirft. Und die Hauptfigur ist der belesene, würdevolle Masterji, der den Tod seiner Frau mit Haltung trägt und deshalb von den Nachbarn, die alle Kummer und Enttäuschungen erlebt haben, aber zum Jammern neigen, noch mehr geachtet wird. Dieses Figurenensemble innerhalb des Wohnturms konstituiert einen Handlungsstrang. Einen weiteren Handlungsstrang bildet die Quasi-Belagerung des Turms durch Shah und seine Leute von außen.

Shah bietet den Bewohnern einen Preis, der so absurd hoch ist, dass ihn kein rational denkender Mensch ablehnen kann. Er setzt einen grotesken persönlichen Korruptionsprozess in Gang, vor allem der Selbstkorruption. Masterji lehnt anfangs aus Solidarität zu Mitmietern ab, schließlich, weil er sich nicht zwingen lassen will. Er will sich sein Recht auf freie Entscheidung nicht abkaufen lassen und durch seinen Widerstand gegen brutale, korrupte Geschäftemacher wie Shah Indien zu einem besseren Land machen, wobei er erfahren muss, dass die Polizei und selbst sein eigener Anwalt und wohl auch der Priester korrupt sind. Sein politisches Ziel ist edel, aber auch pathetisch und lässt Masterji mitunter auch arrogant, egozentrisch, narzisstisch und weltfremd erscheinen.

Masterji ist wie Adigas Protagonist Balram in „Der weiße Tiger“ kein sympathischer Mann, sondern eine ambivalente Figur, die mehr mit ihrem Gegner Shah gemein hat als sie denkt: Shah, der sich durchaus für einen guten Menschen und Förderer Indiens hält, spiegelt sich in Masterji in grotesker Vergrößerung.

„Letzter Mann im Turm“ ist ein in unverschnörkelter Prosa erzählter, provokativer, symbolreicher Roman über Ungerechtigkeit, Armut, Brutalität und Korruption in Indien, mit vielen lebendigen Vignetten des Alltagslebens, der tiefen Ernst mit düsterer Satire und Farce verbindet.

Titelbild

Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Susann Urban und Ilija Trojanow.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
515 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406621567

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