Die Tragfähigkeit des Ungesagten

„Die große Freiheit des Ferenc Puskás“ von Evelyn Schlag – ein raffiniert gebauter Roman, der einiges offen lässt und trotzdem die ganze Geschichte erzählt

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Handlung in Evelyn Schlags jüngstem Roman nimmt ihren Anfang im Ungarnaufstand des Jahres 1956 – ein Ereignis, das in der deutschsprachigen Literatur bislang kaum Beachtung gefunden hat. Gefragt, wie sie auf dieses Thema gekommen sei, antwortete die Autorin in einem Interview im Bayrischen Rundfunk, das sei vollkommen unerwartet während des Schreibens an einem anderen Roman geschehen, der noch ganz in den Anfängen steckte. In diesem Roman habe eine Frau einem bis dahin namenlosen Mann die Tür geöffnet und ihn als László angesprochen.

Überrascht von diesem Namen, begann Evelyn Schlag, László zu ergründen und ihm schließlich einen ganzen Roman zu widmen. Es stellte sich heraus, dass er 1956 zusammen mit seinen Eltern aus Ungarn gekommen war. Der Vater hatte bei einer Demonstration in ihrem Heimatort eine Schussverletzung erlitten, die seinen Widerstand Zeit seines Lebens bezeugen wird und eine Flucht unausweichlich macht. Familie Földesch landet mit ihren wenigen Gepäckstücken in einem niederösterreichischen Flüchtlingslager. Nach einer verhältnismäßig kurzen, aber quälenden Zeit im Lager finden die Eltern mit viel Glück und einer Prise Vitamin B Anstellungen in einer Lehranstalt für Milchwirtschaft. Die Mutter kann ihre Fähigkeiten als Übersetzerin in der Verwaltung einsetzen, während der halb invalide Vater auf einem Hausmeisterposten verkümmert. Der Vater kann sich weder mit der neuen Sprache noch mit der fremden Umgebung anfreunden, und auch der kleine László tut sich schwer mit dem neuen Leben. Die Mutter scheint sich am besten zurechtzufinden. Sie ist die Stütze der Familie, doch die Standfestigkeit in ihren roten Schuhen, die sie aus Ungarn mitgebracht hat, trügt: Ihr Verhältnis mit dem Direktor der Lehranstalt endet tragisch.

Das Buch beginnt mit einer irritierenden Szene, die sich allmählich als Traum erkennen lässt und deren Gehalt sich erst vollständig erschließt, wenn man den Roman gelesen hat. Auf den Traum folgt ein harter Schnitt, und wir landen im Jahr 2008 auf einer stillgelegten Tankstelle, wo zwei Herren fortgeschrittenen Alters sich zufällig begegnen. Einer der beiden hat eine seltsame Art zu reden, er wirkt etwas verwirrt. Es ist László. Auch diese Szene versteht man erst viel später, wenn sich herausstellt, dass die beiden Herren sich aus früheren Zeiten kennen. Der nächste Schnitt führt nach Ungarn ins Jahr 1956, und wieder geraten wir zunächst in eine unübersichtliche Situation, mitten hinein in die Demonstration, bei der István Földesch, der Vater Lászlós, verletzt wird.

Von der ersten Seite an vermittelt Evelyn Schlag das Gefühl unsicheren Grundes, auf dem man sich vorsichtig, zuweilen tastend voranbewegt. So mag es sich anfühlen, wenn man sich in einem fremden Land und einer fremden Sprache zurechtfinden muss, von heute auf morgen aus allem Vertrauten herausgerissen wird. Die zeitlichen Wechsel zwischen dem Jahr 2008 und den Anfangsjahren der Földeschs in Österreich, die den gesamten Roman durchziehen, tragen zu diesem Gefühl ebenso bei wie die zahlreichen, sehr geschickt eingesetzten Unschärfen und Leerstellen: Die Lehranstalt für Milchwirtschaft wirkt oft eher wie eine Kulisse als wie eine ernst zu nehmende Institution. In vielen Alltäglichkeiten äußern sich die Fremdheit und die Unmöglichkeit, in der neuen Heimat anzukommen. Mosonmagyaróvár, der Name des Ortes, aus dem die Familie Földesch kommt, ist ein Sinnbild dafür. Niemand versucht auch nur, ihn auszusprechen, man macht stattdessen abfällige Bemerkungen darüber. Der Tod der Mutter kommt ganz beiläufig durch die Hintertür, man mag es gar nicht glauben – und genau das verleiht ihm eine Authentizität, die es überflüssig macht, erschütternde Szenen auszuerzählen. War es tatsächlich Selbstmord? Ein Rest Zweifel bleibt.

Es gibt wenige Titelfiguren, die in einem Roman so selten und indirekt auftauchen wie in diesem Fall. Ferenc Puskás, der ungarische Nationalheld und begnadete Fußballspieler, hielt sich während des Aufstands von 1956 zufällig im Ausland auf, auch er entschied sich für ein Leben in der Emigration, für eine Freiheit, die ihn zum Heimatlosen machte – und zu einer Symbolfigur für alle Ungarn, die mit den politischen Verhältnissen in ihrer Heimat nicht einverstanden waren. Diese Symbolkraft macht es verzichtbar, Puskás persönlich im Roman auftreten zu lassen. László präsentiert ihn mit einem äußerst charmanten Aufsatz: „Goldene Elf besiegt England 6:3 in Wembley Stadium. So lang England hat alle Heimspiele gewonnen, jetzt Offensive von Ungarn macht Schluss mit Jubel und Heiterkeit in England. Kleiner Mann Puskás mit Bauch vom Bier besiegt alles mit seine linke Bein“. Obwohl es an der Grammatik hapert, bekommt László dafür einen Zweier, ein ungeheurer Erfolg für den Jungen, der in der Schule nicht besonders gut zurechtkommt.

Evelyn Schlag hat mit „Die große Freiheit des Ferenc Puskás“ einen raffiniert gebauten Roman vorgelegt, der noch lange nachhallt, nachdem man ihn zu Ende gelesen hat. Mit ihrer präzisen, klangvollen und fließenden Sprache zeigt sie, dass man einen sehr modernen Roman schreiben kann, ohne in die heute so verbreitete Aneinanderreihung kurzer und kürzester Sätze zu verfallen. Beim Lesen des Romans wird man noch viel Gehaltvolles entdecken, seinen feinen Humor etwa, die roten Schuhe der Mutter oder Lászlós Sprache mit ihren feinsinnigen Überraschungen.

Titelbild

Evelyn Schlag: Die große Freiheit des Ferenc Puskás. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.
237 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055162

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