Prozesse und Räume extremer Gewalt

Christian Gerlach und Timothy Snyder versuchen, unterschiedliche Perspektiven auf die „Bloodlands“ des 20. Jahrhunderts zu werfen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass das 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) eines der gewalttätigsten der Geschichte war, ist mittlerweile fast schon zur Binsenweisheit verkommen. Auch Timothy Snyders Buch „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ kann man sie wieder entnehmen – ohne dass daraus irgendein analytischer Mehrwert resultieren würde. Das in den USA mit wahren Lobeshymnen bedachte Werk des Historikers von der Yale University wurde von den deutschen Rezensenten eher ablehnend besprochen: Dass Snyder die Millionen Toten, die aus dem NS-Vernichtungskrieg und der Shoah resultierten, ohne genauere Hinweise auf die historischen Zusammenhänge oder die grundlegenden Unterschiede dieser Massenverbrechen mit den Hungersnöten unter Stalin zusammendenkt, wurde – so etwa in der „Frankfurter Rundschau“ – hierzulande im Feuilleton bereits offen als ‚revisionistische‘ Tendenz kritisiert.

Dieser Eindruck entstand wohl vor allem deshalb, weil Snyder nicht die verschiedenen Systeme der Diktaturen, deren unterschiedliche Ideologie oder ihre spezifischen Gewaltformen untersucht, sondern einen einzelnen geografischen Großraum – Polen, die westliche Ukraine und die baltischen Staaten, die von ihm sogenannten „Bloodlands“ – ins Auge fasst. Dort wurden seiner Zählung nach insgesamt 14 Millionen Menschen unter der NS-Besatzung und der Herrschaft Stalins ermordet.

Erstaunlich ist also letztlich weniger Snyders Studie, die einmal mehr von einer nunmehr seit den 1980er-Jahren immer selbstverständlicher vertretenen Vergleichbarkeit und Gleichsetzbarkeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus ausgeht – sondern die in diesem Fall überraschend einhellige kritische Aufnahme des Buchs in Deutschland.

Stefan Reinecke etwa, der 1998 in der Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ in der „taz“ als Verteidiger von Stéphane Courtois’ aufrechnender „Geschichtsschreibung mit dem Taschenrechner“ (Wolfgang Wippermann) auffiel und sich seinerzeit unter der pietätlosen Überschrift „Don’t touch my Holocaust“ über die Annahme von Historikern mokierte, die Shoah sei das zentrale Verbrechen des 20. Jahrhunderts, schreibt nunmehr in seiner Snyder-Kritik in der „taz“: „Seit dem Historikerstreit vor 25 Jahren ist die Debatte um das Verhältnis von Stalinismus und NS-Regime hierzulande weitgehend stillgelegt. Jürgen Habermas’ Position, dass der Holocaust wegen seiner industriellen Barbarei ein singuläres Ereignis war, ist Common Sense geworden. Ernst Noltes Versuch, das Nazi-Regime als Antwort auf den stalinistischen Terror zu lesen, wurde zu Recht zurückgewiesen.“

Allerdings ist Snyders Arbeit auch gar nicht in einem solchen ‚aggressiven‘ revisionistischen Kontext anzusiedeln: Schon die erste Seite seines Buchs, die mit einer naiv anmutenden Collage von Leidensgeschichten aus der NS- und der Stalin-Zeit in den „Bloodlands“ anhebt, lässt erkennen, dass der Autor die Problematik seines Ansatzes selbst noch nicht einmal in Ansätzen reflektiert zu haben scheint.

Auch Christian Gerlachs Studie mit dem Titel „Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt des 20. Jahrhunderts“ folgt dem auffälligen Trend neuerer historiografischer Arbeiten, die versuchen, die „Genozide“ der Vergangenheit aus einer irgendwie ‚originellen‘ Perspektive neu zu betrachten und zu bewerten (vgl. dazu etwa auch das in der Januar-Ausgabe von literaturkritik.de vorgestellte Buch von Steven Pinker). Gerlach verweist auf die Beschränktheit des „Genozid“-Ansatzes und interessiert sich stattdessen für jene gefährliche Mechanik zwischen Staaten und ihren Gesellschaften, die zu Prozessen der Massengewalt führen können, ohne dass diese gleich in komplette Völkermorde münden müssten: „Warum beteiligen sich so viele und so verschiedene Menschen an Gewalt, und welche Folgen hat dies für die Opfer?“

Gerlach behandelt unter anderem den Massenmord der Türken an den Armeniern, geht aber auch auf weit weniger bekannte, exzessive Gewalt-Geschehnisse in Bangladesh, Griechenland und Indonesien ein, um die Rolle des krisenhaften sozialen Wandels und nationalistischer Narrative in der Entstehung extrem gewalttätiger Gesellschaften genauer zu untersuchen. Auf dem Weg zu einer „globalen Geschichtsschreibung der Massengewalt“, die um die Aufhebung „eurozentristischer Modelle“ bemüht ist, folgt Gerlach nicht zuletzt dem Gebot gegenwärtiger geschichtswissenschaftlicher Diskurse. Moniert wurde an seinem Buch jedoch bereits, dass in ihm wiederum die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus vernachlässigt würden (so etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“).

Gerlachs Arbeit hat gegenüber der von Snyder jedoch den Vorteil, wesentlich selbstkritischer und reflektierter mit den Problemen umzugehen, die ihre analytische Perspektive mit sich bringen kann, in dem sie die sozialpsychologischen Implikationen ihrer Thesen begrifflich genauer und also ohne jenes fatale „rhetorische Gewölk“ behandelt, das Reinecke dem US-Historiker Snyder in seinem „taz“-Verriss vorgeworfen hat.

Titelbild

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Martin Richter.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
522 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406621840

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Titelbild

Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
575 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783421043214

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