Systematische Antisystematik

Karl Heinz Bohrer setzt in seinem Buch „Selbstdenker und Systemdenker“ Form- gegen Sinnfragen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Selbstdenker und Systemdenker“ – Karl Heinz Bohrer lässt in seiner Sammlung von zwischen 2005 und 2011 erschienenen Essays und Vorträgen keinen Zweifel daran, auf welcher der beiden Seiten seine Sympathie liegt. Das Systemdenken erscheint als platt, vorhersehbar, reduktionistisch. Gegen die Geschichtsphilosophie setzt Bohrer Augenblick und Plötzlichkeit, gegen das zielstrebige Subjekt Zerstreutheit, gegen die gesellschaftliche Verankerung von Kunst verabsolutiert er deren Autonomie. Konsequent fordert er, „Sinnfragen durch Formfragen zu ersetzen“. Als Gewährsleute bietet er immer wieder Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche auf, fallweise assistiert von Michel de Montaigne, Claude Baudelaire und Louis Aragon.

Die grundlegenden Gedanken ziehen sich durchs ganze Buch und sind bei Bohrer auch nicht neu. Die Kategorie der Plötzlichkeit gab schon einem Buch von 1981 den Titel, der Affekt gegen jede geschichtliche oder gar geschichtsphilosophische Deutung von Kunst bestimmte zuletzt sein Buch über das Tragische von 2009. Man ist versucht, Bohrer einen Systemdenker des Antisystematischen zu nennen.

Natürlich lässt Kunst sich so nicht erfassen. Mit ziemlicher Beharrlichkeit kümmern sich Leser oder Tragödienzuschauer um Inhalte; Autonomiepostulate beeindrucken sie wenig. Das mag ärgerlich stimmen, gerade wenn man es mit allzu platten Aktualisierungen zu tun bekommt. Grundsätzlich aber hat recht, wer nach dem Sinn fragt. Man braucht hier keine moralische Argumentation, ein Blick auf die Maßgaben der Kunst genügt. Die Innovationsmöglichkeiten der sinnentleerten Form sind beschränkt und schnell durchgespielt. Künstler, um Neues zu schaffen, brauchen Inhalte und eine Rückmeldung der Gesellschaft.

Am Ende von Bohrers Band stehen zwei Essays, in denen es konkret um Werke geht; hier hat sich die Tragfähigkeit seines Konzepts erwiesen. Es gelingt ihm relativ gut, Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ gegen eine moralisierende Kritik, die die Darstellung der NS-Verbrechen unangemessen findet, zu verteidigen. Die Hauptfigur, der SS-Offizier Max Aue, ist erkennbar als Kunstfigur angelegt, der kein Nazi in der Wirklichkeit entsprochen haben dürfte. Allerdings sollte man Aue auch nicht umgekehrt als Imagination eines abstrakt Bösen lesen. Vielmehr bezeichnet die Figur mentalitätsgeschichtliche Faktoren, die den Völkermord des deutschen Faschismus befördert haben.

Fragwürdiger noch ist Bohrers Mythisierung der Westernhelden als Figuren eines überzeitlich gültigen Heroismus. Bohrer hat natürlich gelesen, dass im Western zeitgenössische Probleme der US-Gesellschaft verhandelt wurden, will das aber gar nicht wissen. Warum seine Abwehr des Historischen nicht funktionieren kann, zeigt sich besonders da, wo er genau hinschaut und beschreibt. Die Gehweise verschiedener Schauspieler von John Wayne bis zu Robert Mitchum ist eindrucksvoll beobachtet. Doch dann rutscht Bohrer die Bewegungsart von Henry Fonda in „Spiel mir das Lied vom Tod“ dazwischen, in einem Italo-Western, der es gerade unternimmt, die Werte-Welt der früheren Western zu demontieren.

Bohrer kennt nur den einzelnen Moment – nämlich den Auftritt des Helden – und das überzeitlich Gültige – das Heldische überhaupt. Vermittlungsebenen, seien sie gesellschaftlich oder filmgeschichtlich, erwähnt er zwar en passant, doch fallen sie aus seiner Systematik heraus. Genreregeln gibt es bei ihm gar nicht. Dadurch wird seine Ästhetik ein wenig steril. Es ist paradox: Je entschlossener Bohrer den Augenblick, den plötzlichen Einfall, in den Mittelpunkt stellt, desto vorhersehbarer werden seine Ergebnisse.

Die Problematik entgeht ihm nicht. So fällt auch Bohrer auf, dass Avantgarde-Kunst, die heute entsteht, bei weitem nicht mehr den Eindruck hervorruft wie die Vorgänger-Werke ein Jahrhundert zuvor. In Postmoderne und Poststrukturalismus sieht er Friedrich Nietzsches antisystematisches Denken derart heruntergekommen, dass er sogar für seinen Gegner Jürgen Habermas Verständnis zu entwickeln beginnt. Wirklich ist ja auch nicht zu übersehen, dass alles, wogegen sich Schlegel und Nietzsche richteten, heute in Trümmern liegt und wie das Spontane zu einer leeren Geste verkommen ist. Nach einer Geschichtsphilosophie, die diesen Namen verdient, muss man dagegen lange suchen.

In dieser Lage scheinen zwei Auswege möglich. Der eine, den Bohrer vorschlägt, besteht darin, weiter auf den „genuinen Einfall“ zu hoffen und mit Nietzsche zu rufen: „auf keinen Fall Gedanken!“ Aus Form und Stil soll irgendwie das Neue aufblitzen.

Nun ist aber das Neue nicht unbedingt das Bessere. Vielmehr braucht man Kriterien, um den Wert eines neuen Gedankens zu beurteilen. Ohne ein Weltbild sind Kriterien nicht denkbar; ohne einen Begriff davon, was Geschichte ist oder doch wenigstens sein sollte, gibt es kein begründetes Weltbild. Daher scheint, gegen Bohrer, allein der andere Ausweg gangbar: zu einem streng geschichtlichen Denken zurückzukehren. In dieser Sicht wird klar, dass der Verfall des antisystematischen Denkens seit Nietzsche historisch notwendig war: Wer auf das Wahrheitskriterium verzichtet, verzichtet auf eigene Substanz und beschränkt sich auf die Provokation. Eine Provokation aber wird desto schwächer, je schwächer der Gegner ist. Und Kunst, die Rezeptionsgewohnheiten zerlegt, kann nur irritieren, solange es diese Gewohnheiten überhaupt noch gibt. Hat sie sich erst einmal durchgesetzt, so hat sie damit ihre eigenen Grundlagen zerstört.

Es ist der Mangel an geschichtlicher Bewusstheit, der Bohrer an der Erkenntnis hindert, dass sein Programm des „Selbstdenkens“ sich heute als undurchführbar erweist. Sein Buch, trotz mancher interessanter Beobachtung im Detail, zeigt, der Absicht des Autors entgegen, immerhin dies.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
223 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237582

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