Der ewige Dalles

Ein Jahrhundertwerk kann endlich entdeckt werden: Der erste Band der Tagebücher Erich Mühsams ist erschienen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

22. August 1910, Château d’Oex: „Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen“, notiert der damals 32-jährige Erich Mühsam, dem seine geplagte Familie einen Kuraufenthalt in der Schweiz spendiert hat. „Es soll mein Tagebuch sein. […] Ich werde schwerlich jeden Tag zu Eintragungen kommen – und jedenfalls kaum je zu ausführlichen.“

Eine Ahnung, die sich zum Glück nicht bewahrheiten sollte. Mühsam wurde ein leidenschaftlicher Tagebuchschreiber: Anderthalb Jahrzehnte lang protokollierte der 1934 von den Nazis ermordete Anarchist sein abenteuerliches Leben. Sein letztes Wort, nach über 7.000 Seiten: „Frei!“ Es war der 20. Dezember 1924, der Tag seiner Entlassung aus bayerischer Festungshaft, die ihm seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik eingebracht hatte. Ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument also. Lange verstaubten die 42 dicken Journale in Moskauer und Ost-Berliner Archiven, bis 1994 zumindest eine kleine Auswahl bei dtv erschien. Nun wird Mühsams bedeutendstes Werk bis 2018 veröffentlicht, in 15 Bänden, die im Halbjahrestakt folgen sollen. Und die durch eine von den Herausgebern Chris Hirte und Conrad Piens betreute Online-Ausgabe ergänzt werden, die Volltextsuche, den Vergleich mit der Handschrift und das (laufend aktualisierte) Personenregister bietet – eine hoffentlich beispielgebende editorische Parallelaktion.

Schon das Register des ersten Bandes, der die Jahre 1910 bis 1911 enthält, liest sich wie ein „Who is Who“ der Schwabinger Bohème. In ihr war Mühsam, der Anarchist, Bänkelsänger, Dichter und Dramatiker, mit seinem Kneifer und seiner ungebärdig wuchernden Kopf- und Gesichtsbehaarung, ein bunter Hund. Getreu der Einsicht, dass bedeutend nur werden kann, wer sich auch dafür hält, hielt er – mit großer Erzähllust und in plastischen Szenen – seine Begegnungen mit „prominenten Leuten“ fest: „Schließlich denke ich doch, daß diese Blätter einmal von irgendwem gelesen werden könnten“. So liest man, wie Mühsam mit Frank Wedekind im Café Stephanie fachsimpelt, wie er den kokainsüchtigen Analytiker Otto Gross von seiner schmutzstarrenden Kleidung befreit, Emmy Hennings vor der „eifersüchtigen Megäre“ Else Lasker-Schüler beschützt oder sich mit der Puppenkünstlerin Lotte Pritzel, genannt „das Puma“, auf den Diwan begibt. Denn schonungslos ehrlich, wie der Anarchist sein will, macht er vor der „Entblößung meiner Geschlechtlichkeit“ nicht halt.

Von Momenten der Tragikomik war Mühsams privater wie öffentlicher Kampf gegen die wilhelminische Gesellschaft alles andere als frei. Mit Sinn für Selbstironie muss er ein ums andere Mal feststellen, wie sein Streben für eine von aller Unterdrückung und Heuchelei befreite Menschheit scheitert. Im August 1910 gilt es zunächst, das eigene Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Zehn zermürbende Jahre gelebter Anarchie liegen bereits hinter ihm, ein Gefängnisaufenthalt und ein glücklich gewonnener Gerichtsprozess inklusive. Neben einer ruinierten Gesundheit hat ihm das Bohèmedasein als ständigen Begleiter auch den „Dalles“ (ein jiddisches Wort für Geldnot) beschert.

Mühsams Tagebuch ist vieles: Der Zeuge seines Neuanfangs. Der Komplize seiner erotischen Eskapaden und seines Lebensstils („ich bin schon ein arges Faultier“). Eine Ersatzbühne für die ihm von der bürgerlichen Presse verweigerte Möglichkeit zur Theaterkritik. Und ein Ort der Rache, vor allem an seinem Vater, der seinem missratenen Sohn nur ein Taschengeld zugesteht. Weshalb Mühsam, wie er seinem Erzeuger vorwirft, nur das Hoffen auf den baldigen Erbfall bleibt, der ihn für immer vom „Dalles“ befreit. „Eine Karte von Papa aus Kudowa […] Die Handschrift immer noch fest und deutlich, nur in der Adresse […] etwas zittriger als früher. […] Immer wieder der gleiche Bescheid: Warte auf mein Ende!“

Einstweilen leiht sich Mühsam im Juni 1911 bei einem Berner „Wucherer“ den stattlichen Betrag von 3.000 Franken: „Mir ist, als wären die grauen Regenwolken, die den Himmel verhängen, Banknoten und die Regentropfen an den Telefondrähten blanke Silbermünzen“, jubiliert er im erstmals erlebten „Gefühl weltmännischer Sicherheit“. Und ahnt nicht, dass der Dalles schon nach drei Monaten seine triumphale Rückkehr feiern wird. Zurück in München gründet Mühsam seine allein von ihm verfasste Monatsschrift „Kain“, lässt sich von Bittstellern das Geld aus der Tasche ziehen, geht seiner Pokerleidenschaft nach und mit dem „Puma“ shoppen, wofür ihm, wie er mit Genugtuung vermerkt, ein „Piacere“ in Aussicht gestellt wird, und genießt überhaupt seine mit einem Mal gesteigerte Attraktivität.

Besser gesagt, dieser selbsternannte „Erotiker […], wie nicht viele herumlaufen“, würde sie gern genießen. Denn ironischerweise laboriert Mühsam gerade an einem Tripper und kann daher nur tatenlos dem wilden Treiben im Café Stephanie oder in der Torggelstube zusehen. Vor allem Emmy Hennings tut sich hervor. „Wenn nur Emmy verfügbar bleibt! Bei ihrem umfänglichen Liebesleben scheint sie sich auch etwas zugezogen zu haben.“ Als er selbst endlich wieder gesund ist, geht er mit dem „Puma“ auf eine große „Hochzeitsreise“ nach Weimar. „Und nun erzählen, was ich erlebte in 1 ½ Wochen, die zu den schönsten meines Lebens zählen? Nein! Alles beste soll bei mir bleiben, immer nur in der Verschwiegenheit meines Gedankens“, macht Mühsam genüsslich dem Leser den Mund wässrig – um dann doch das eine oder andere auszuplaudern.

Politische Reflexionen bleiben überraschenderweise die Ausnahme. Wirklich nur, weil sie Mühsam ohnehin selbstverständlich waren, wie die Herausgeber diesen Umstand deuten? Oder nicht doch, weil das Leben auf Pump vorübergehend die Sorge um die gesellschaftlichen Zustände verdrängte? Erst die Tripolisaffäre im September 1911, der Krieg zwischen Italien und der Türkei weckt den Anarchisten wieder aus seinem erotischen Schlummer: „Wenn nur der Horror vor dem Kriege ganz Europa ins Gebein fährt.“

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 1. 1910-1911.
Hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2011.
340 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426772

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