Größere Brüste, ein eigenes Haus, ein Freundschaftsdienst

Zeitgenossen auf der Suche nach Anerkennung

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Größere Brüste

Warum wollte Mandy Sandy L. größere Brüste haben? In dem einschlägigen Zeitungsbericht vom 17. Januar 2012 war nicht mitgeteilt worden, welche Körbchengröße sie besaß, bevor sie Körbchengröße C ansteuerte, was als „mittelgroße Brust“ definiert wird. Dem Bericht zufolge ging es ihr vor allem darum, ihren Freund Jörg S. damit zu erfreuen. Dieser musste ihr bereits genug Geld dafür gegeben haben, denn kurz vor der geplanten Operation konnte sie ihm eine SMS schicken: „Nächste Woche gibt’s neue Titten.“

Dazu kam es leider nicht mehr, denn die Polizei überwachte ihr Telefon und verhaftete sie wenig später. Mandy Sandy L. arbeitete bei der Sparkasse Werl im Kreis Soest in Nordrhein-Westfalen. Sie hatte am Freitag, dem 20. Mai 2011 Dienst, in der Geschäftsstelle in der Engelhardstraße 4, zusammen mit der Auszubildenden Maren K., die weiteren Kollegen waren wohl schon in den Feierabend gegangen. Nachdem Mandy Sandy L. die vorher vereinbarte SMS an ihren Freund abgeschickt hatte – „Ja, das mit den Felgen geht klar“ – machte sich Jörg S. auf den Weg zur Bank, fuchtelte mit einer ungeladenen Softair-Pistole herum, fesselte die Auszubildende mit Kabelbindern an einen Stehtisch. Er bedrohte seine Freundin mit der Pistole, die ihn ungehindert zu den Geldschränken gehen ließ, denen er etwa 95.000 Euro entnahm, mit denen er durch den Angestelltenausgang verschwand.

Das Ganze kam der Auszubildenden „komisch“ vor, so dass die Polizei sehr bald von Insiderwissen ausging. Sie überwachte das Telefon von Mandy Sandy L., durchsuchte ihre Wohnung und griff zu, als sie die SMS über die bevorstehende Vergrößerung ihrer Brüste an den Freund schickte.

Dieser Freund brauchte selbst dringend Geld, nicht nur für größere Brüste seiner Freundin. Das Geschäft in seiner Autowerkstatt lief nicht gut, er plante den Kauf eines größeren Kastenwagens – an einen T4 von Volkswagen hatte er gedacht – zudem wollte er seinem Vater beweisen, dass er es auch ohne abgeschlossene Berufsausbildung schaffen würde.

Die SMS und die dadurch aufgeflogene Komplizentat führten nun dazu, dass das Landgericht Arnsberg Mandy Sandy L. und Jörg S. beide gleichermaßen zu drei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilte. Beiden Angeklagten kam zugute, dass sie die gesamte Beute bereits zurückgezahlt hatten und der Nebenklägerin – der Auszubildenden Maren K. – ein Schmerzensgeld versprachen. Es müsse nicht immer alles verwirklicht werden, was an Wünschen auf einen einprasselt, zitierte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den Richter in ihrem Bericht über diesen Prozess. Zu dem verhinderten Bonnie-und-Clyde-Pärchen aus dem Sauerland sagte er: „Man kann auch mal ein bisschen Geduld aufbringen, dann sieht manches anders aus.“

Ein eigenes Haus

Warum wollte Christian W. unbedingt ein eigenes Haus in Großburgwedel bauen und besitzen? In den vielen einschlägigen Zeitungsberichten, mit denen wir seit langem bedrängt werden, war nie mitgeteilt worden, wo er und seine Ehefrau, Bettina W., geborene K., vorher gewohnt hatten. War das bisherige Haus oder die Wohnung zu klein geworden, nicht zuletzt seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes im Sommer 2008? Oder wohnte die erste Ehefrau mit der Tochter noch darin? Sollte deswegen nun ein neues, eher mittelgroßes Haus angesteuert werden? Den vielen Berichten zufolge ging es wohl vor allem darum, dass Christian W. seine zweite Ehefrau Bettina W. damit erfreuen wollte. Schon weil diese in Großburgwedel aufgewachsen ist und seit 2009 halbtags als Pressereferentin der Drogeriemarktkette Rossmann GmbH in Großburgwedel tätig war, die dort ihren Hauptsitz hat. Ob Christian W. seiner Frau damals wohl auch eine SMS geschickt hat: „Ab nächste Woche gibt’s ein neues Häuschen“? Seit Juli 2010 jedenfalls wohnt das Paar nun in Berlin, in einem schmucken Haus, das ein wenig größer ist als das „Häusl, wo einer ein paar hundert Euro im Monat Zinsen sparen will“ (Helmut Dietl) in Großburgwedel.

Nicht nur für dieses brauchte der ehemalige Rechtsanwalt und Berufspolitiker dringend Geld: Es gab die neue Ehefrau, deren neunjährigen Sohn und den vierjährigen gemeinsamen Sohn, gewiss auch die Folgekosten seiner Scheidung von Christiane W., geborene V., mit der er eine gemeinsame Tochter hat, die jetzt auch bereits 19 Jahre alt ist: Das kostet alles Geld, auch wenn man eine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Nicht jeder will seinem Vater beweisen, dass man es schafft, sondern mancher vor allem der neuen Frau. Ob die wohl wusste, dass er so klamm war, dass er bei Freunden um einen günstigen Kredit bitten musste? Oder hat er einfach gesagt: „Ach, Schatz, gerne bau ich uns ein Häuschen in Deiner Heimatstadt, so mit allem Drum und Dran, mit Ziegelmauerwerk, mit Knüppelwalmdach, mit Sprossenfenstern und Dachgaube“?

Die versammelte deutsche Architekturkritik spottete nur noch über das Banale im präsidialen Häuschen, für das der Bauherr satte 500.000 Euro hinblätterte. Wer sich bei „Google Bilder“ das Schmuckstück ansehen möchte, muss unter 4.210.000 Ergebnissen auswählen. Mein persönliches Lieblingsbild ist nicht das, auf dem der stolze Hausherr seine Classic Multifunktions-Brause von Gardena über den grasgrünen Rasen hält – mit dem immerhin die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ihre Leserschaft erfreute – sondern jenes, auf dem man die jeansbehosten Christian W. und Bettina W. mit dem Söhnchen im Garten sitzen sieht. Besonders das eine Glas von IKEA – wieso nicht zwei? – vor diesem Ehepaar Biedermann erheiterte mich, haben wir selbst doch auch sechs davon – schade eigentlich, dass die Schweden sie schon lange aus dem Programm genommen haben. Aber vielleicht kommen sie jetzt bald wieder, so wie „Billy“ ja auch wieder lieferbar ist.

Wer wohl die Gläser in den neuen Haushalt in Großburgwedel mitgebracht hat? Selbst wenn man vielleicht mal neue Gläser haben möchte, die alten tun’s doch auch, kann der- oder diejenige gesagt haben, es muss ja nicht immer alles verwirklicht werden, was an Wünschen auf einen einprasselt.

Wer weiß, vielleicht sitzt das Ehepaar mit den beiden Jungen schon bald wieder im Garten in Großburgwedel, diesem begehrten Wohnort mit seinen knapp über 20.000 Einwohnern, nur zwanzig Kilometer vor den Toren der Landeshauptstadt Hannover gelegen: Der Papa sprengt dann den Rasen und die Mama schenkt den Apfelsaft in die alten geriffelten IKEA-Gläser. Die Zeiten im Berliner Schloss mit der schönen Aussicht sind dann zwar vorbei, aber wenn man mal ein bisschen Geduld aufbringen kann, dann sieht manches anders aus, wie der Richter dem Pärchen Mandy Sandy und Jörg so richtig sagte.

Ein Gruß an die Heimat des Freundes

Warum wollte Francesco Schettino am frühen Abend des 13. Januar – schon wieder ein Freitag, wie jener in Werl, als Jörg S. die Bank betrat! – mit dem ihm anvertrauten Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“ mit mehr als 5.000 Menschen an Bord so nah an der Küste in der Höhe der Insel Giglio fahren, dass er dabei einen Felsen rammte, der das Schiff auf einem Viertel seiner Länge aufschlitzte? In den vielen einschlägigen Zeitungsberichten, mit denen wir seit der daraus entstandenen Katastrophe bedrängt werden, gab es bislang diverse Antworten auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Autopilot des Riesenschiffes ausgeschaltet wurde und dieses – wie sich zeigte – lebensgefährliche Manöver gefahren wurde.

Am häufigsten wurde bislang genannt, dass er damit dem Oberkellner seines Schiffes, Antonello Tievoli, eine Freude machen wollte, den er darum kurz vorher auf die Brücke gerufen hatte, weil er dessen Geburtsort mit Lichtern und Sirene – mit einer „Verbeugung“ – grüßen wollte. Und dessen Schwester, Patrizia Tievoli, soll kurz zuvor bei Facebook einen Eintrag gepostet haben: „In Kürze wird die Concordia sehr, sehr nah an uns vorbeifahren. Einen Riesengruß an meinen Bruder…“.

Sollte es so gewesen sein, dann hätte hier wohl jemand alles verwirklichen wollen, was an Wünschen auf ihn einprasselte und der nicht das bisschen Geduld aufbringen konnte, diese Wünsche zu überprüfen. Und der es hinterher ebenso wenig wie Mandy Sandy, Jörg und Christian fertigbrachte zu sagen: „Leute, ich habe einfach Mist gebaut, nicht sonderlich nachgedacht, es war sehr blöd von mir.“ Nein, er ist im Gedrängel der Rettungsmaßnahmen ins Boot gefallen und konnte erst dann, als ihn ein Taxifahrer zu sich nach Hause nahm, als erstes die Mama anrufen und (wenigstens) ihr sagen: „Mama, es ist eine Tragödie passiert.“

Anderen zur Freude und sich selbst zur Anerkennung durch andere

Eine junge Frau will ihrem Freund eine Freude machen, ein junger Mann will bei seinem Vater Eindruck machen, ein nicht mehr ganz so junger Mann will seiner jungen Frau eine Freude machen, ein Freund will einem Freund eine Freude machen. Und alle bugsieren sich mit diesen Vorhaben in erhebliche Kalamitäten, bei denen auch andere in große Schwierigkeiten geraten. Warum machen Menschen sowas?

Weil die Theorie der rationalen Entscheidung, die Rational-Choice-Theorie, eben nicht von einer realistischen Einschätzung des menschlichen Handelns und Verhaltens ausgeht. Es trifft eben nur sehr selten – wenn überhaupt je – zu, dass handelnde Subjekte (die „Akteure“) ein „rationales Verhalten“ an den Tag legen, bei dem sie aufgrund ihrer Präferenzen ein „nutzenmaximierendes“, das heißt „kostenminimierendes“ Verhalten praktizieren. Oder handeln Menschen immer noch „rational“, wenn sie Banken überfallen, sich durch ein Geflecht von teilwahren Aussagen und Drohgebärden um ihr Amt bringen, oder ihnen anvertraute Leben für die Zuneigung ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen? Auf solche „Rationalität“ kann das Wort Vernunft nicht mehr angewendet werden. Eine Theorie, die das behauptet und die sich vor allem in den Wirtschaftswissenschaften besonderer Beliebtheit erfreut, ist vollkommen unbrauchbar für die wissenschaftliche Erklärung des Handelns und Verhaltens von Menschen.

Aber, eine andere Theorie aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften könnte das sehr viel besser. Es geht, so postulieren diese Ansätze, bei menschlichem Verhalten und Handeln wesentlich darum, dass wir alle darum kämpfen, Anerkennung bei anderen zu gewinnen. Die gegenseitige Anerkennung gilt als notwendig für jede Art von menschlichem Zusammenleben. Wer nicht genügend Anerkennung erfährt, gerät in Gefahr, zum Außenseiter zu werden, was zu sozial gefährlichem Verhalten und Handeln führen kann, wie man in den Fällen von sogenannten „Amok-Läufern“ sehen kann. Das Ringen um Anerkennung durch andere Menschen schränkt die Handlungsfreiheit des Subjekts teilweise ein, muss es doch Verpflichtungen eingehen, um diese Anerkennung zu gewinnen. Das können größere Brüste sein, ein schmuckes Häuschen oder ein riskantes Steuermanöver: Der Preis kann zuweilen hoch sein, der Lohn unvorhersehbar.

Spätestens mit den philosophischen Schriften Immanuel Kants und seinem „kategorischen Imperativ“, wonach man sich oder andere Menschen jederzeit und unter keinen Umständen zum Mittel machen darf, wissen wir, dass man die eigene Willkür mit der Willkür der anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit in Einklang zu bringen hat. Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Achtung durch seine Mitmenschen – aber er muss auch etwas dafür tun. In den philosophischen Arbeiten von Johann Gottlieb Fichte und vor allem von Georg Wilhelm Friedrich Hegel finden sich zahllose Ausführungen über die Notwendigkeit gegenseitiger Anerkennung als einer unverzichtbaren Grundlage von Recht, Gesellschaft und Staat.

Aufbauend auf den Überlegungen von Jürgen Habermas, der bereits 1968 auf das Anerkennungs-Prinzip bei Hegel und dessen Aktualität hinwies, erarbeitete sein Schüler und Frankfurter Lehrstuhlnachfolger, Axel Honneth, eine ganze Sozialphilosophie, in deren Zentrum der Begriff der Anerkennung steht. In seiner Schrift „Kampf um Anerkennung. Zur Moralischen Grammatik sozialer Konflikte“, mit der er sich 1990 in Frankfurt am Main habilitierte, skizzierte er die Grundlinien seiner Gesellschaftstheorie, die er in den Folgejahren mit seinen Büchern „Das Recht der Freiheit“, „Von Person zu Person: Zur Moralität persönlicher Beziehungen“ und „Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie“ weiter ausbaute.

Der derzeit am Department of Philosophy der Columbia University lehrende Honneth versteht unter Anerkennung ein wechselseitiges Verhältnis der Zustimmung oder Affirmation des jeweils Anderen. Vom Beispiel des heranwachsenden Kindes ausgehend, zeigt Honneth in seinen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen, wie sich erst sehr allmählich eine Art von affektiver Anteilnahme an der Welt der Erwachsenen einstellt, in der die Anerkennung durch andere, zuerst zumeist die Eltern, eine entscheidende Station bedeutet. Wo machen, so die Frage Honneths, heranwachsende Gesellschaftsmitglieder die Erfahrung sozialer Anerkennung, damit sie als mündige Bürger, aber auch als selbstbewusste Personen später im öffentlichen Leben auftreten können?

In dem gemeinsam mit der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser herausgegebenen Band „Umverteilung oder Anerkennung?“ heißt es: „‚Anerkennung’ ist zu einem Schlüsselbegriff unserer Zeit geworden. Eine ehrwürdige Kategorie der Hegel’schen Philosophie, wieder zum Leben erweckt durch die politische Theorie, scheint dieser Begriff heute von zentraler Bedeutung für die Analyse von Kämpfen um Identität und Differenz zu sein.“

Auf der Grundlage der Überlegungen Hegels bemüht sich Honneth darum, eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die sowohl individuelles Verhalten und Handeln als auch Prozesse gesellschaftlichen Wandels zu erklären vermag. Die Basis dieser Theorie bildet für ihn die Anerkennung, sie ist für ihn der kleinste gemeinsame Nenner aller Interaktionen – alle Menschen bedürfen ihrer in solcher Weise, dass zwischenmenschliche Beziehungen wesentlich durch die Gewährung von Anerkennung gebildet werden. Die Subjekte streben nach einer schrittweisen „Erweiterung der Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung“, um sich als Individuen im gesellschaftlichen Kontext zu etablieren. In diesem Streben ist das Konfliktpotenzial eines „Kampfes um Anerkennung“ angelegt, der die Triebfeder gesellschaftlicher Veränderung ist. Die Verweigerung von Anerkennung ist es, nach Honneth, die einen Konflikt und damit gesellschaftliche Veränderung bewirkt. Es geht keineswegs nur um Anerkennung im sogenannten „privaten“ Bereich, als gewissermaßen erfreulicher Überschuss in Liebes- und Freundesbeziehungen, es geht Honneth ebenso und sehr viel mehr um ein notwendiges Element von Gerechtigkeit in gesellschaftlichen Verhältnissen, neben der gerechten Verteilung ökonomischer Güter und einer verlässlichen Rechtsordnung.

Es soll hier keine Einführung in diese Arbeiten angeboten werden, sondern eher die nachdrückliche Einladung, sich mit diesen Texten auseinanderzusetzen. Vielleicht versteht man dann sehr viel besser, was Mandy Sandy L., Jörg S., Christian W. und Francesco Sch. getrieben hat: Anerkennung wollten sie, vor allem von ihnen nahestehenden Menschen. Und nun bekommen sie diese nicht nur nicht, wir verweigern sie ihnen – verdientermaßen!

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13303