Mauern in Berlin und anderswo

Über Olaf Brieses Kulturgeschichte der räumlichen Grenzziehungen: „Steinzeit“

Von Marc SchweskaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Schweska

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch wie ein Baustein, ein Geschenk. Es liegt gut in der Hand und sieht gut aus. Der Verlag Matthes & Seitz, in dem Olaf Brieses „Steinzeit“ erschienen ist, leistet sich mit dem Künstler Falk Nordmann seit Jahren einen ungewöhnlichen Illustrator. In Zeiten, in denen Verlage in Gestaltungsfragen auf Plakatives oder Verzicht setzen, muss das unbedingt erwähnt werden.

Auch inhaltlich ist „Steinzeit“ außergewöhnlich. Bei „Mauern in Berlin“ im Untertitel denkt jeder pflichtschuldig an den Eisernen Vorhang und meint alles zu wissen. Doch man findet eine Kulturgeschichte, die so reich, gut geschrieben und aufregend ist, dass man jede Wand, jeden Ziegelstein, jede Grenze mit neuen, faszinierten Augen ansieht. Und das in Deutschland, denkt man überrascht, in dem Wissenschaftler angeblich nicht schreiben können, ohne sich die Hand zu verstauchen.

„Steinzeit“ ist eine Kulturgeschichte von Mauern, für die Berlin der Ausgangspunkt ist. Geschildert werden Formen räumlicher Grenzziehungen, die die politischen, sozialen und kulturellen Felder hervorbringen. Mauern und Grenzen, so wird schnell klar, schützen ebenso wie sie unterwerfen. Wortwörtlich sind sie für Bewohner und Reisende ein harter Sachzwang. Nicht nur 1961 schuf er auf brutalste Weise Tatsachen, wie die absolutistische Akzisemauer zum Steuereintreiben und Desertionsschutz eindringlich belegt. Das Volk jedoch versucht, wo immer es geht, dies zu unterlaufen. Häufig ist es so, dass der Demonstration von Macht die Ohnmacht auf dem Fuße folgt. Wenn etwas an Geschichte versöhnlich ist, dann ist es diese Ironie. Es ist verdienstvoll, dass Briese das deutlich herausstellt.

Dem Doppelgesicht aus Kultivierung und Disziplinierung, Produktivität und Versagen geht das Buch in vielen Verästelungen nach. Von ihr bezieht es seinen Ton. Das Spektrum reicht von den Gräbern der Steinzeit, über Stadt-, Garten-, Friedhofs- und Festungsmauern bis hin zur Berliner Mauer. Behandelt werden Dämme und Wälle, ebenso wie Seuchenkordons und Barrikaden, aber auch Ghetto-, Gefängnis- und Fabrikmauern.

Textlich ist „Steinzeit“ ein Wagnis. Briese bindet Persönliches, Fiktionales und Literarisches wie Franz Kafkas chinesische Mauer in den Fortgang ein und leistet sich eine erhellende Subjektivität, sodass man sicher sein kann, dass ihm das viele Kollegen nie verzeihen werden. Brieses einfache Frage, warum wohl die Quadriga des Brandenburger Tores mit ihrer Siegesgöttin in die Stadt hinein- und nicht herausreitet, wirkt auf den ersten Blick respektlos gegenüber der Bedeutungshuberei der Historiographie. Doch wie auch sonst ist die Analyse geschichtlich solide abgesichert. Man wundert sich, warum die vielen, überaus aufschlussreichen Details, die Briese ausgegraben hat, solange übersehen worden sind. Im Ergebnis wirkt dies, als hätte Briese für sein Buch die Kulturgeschichte neu erfinden müssen, so frisch, unverbraucht und souverän kommt es da her.

„Steinzeit“ ist auch ein Buch zur Berliner Geschichte und eine empfehlenswerte Einführung. Briese, der nicht in Berlin geboren wurde, aber seit langem ein Berliner ist, hat ein durch und durch berlinisches Buch geschrieben. Ton, Witz, Bodenständigkeit und Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten liefern ein Beispiel bester Berliner Mentalität, die von Nicht-Berlinern häufig missverstanden wird. Briese, der Wahlberliner, hat Berlin besser verstanden, als manche, die in Berlin geboren wurden oder sich für Berliner halten.

Titelbild

Olaf Briese: Steinzeit. Mauern in Berlin.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
408 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215366

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