„Das Atmen ist Vertrauen ohne Sicht“

Christian Lehnert tastet sich mit seinem Gedichtsband „Aufkommender Atem“ in die mystische Mitte der Welt vor

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Lehnert tastet sich mit seinem Gedichtband „Aufkommender Atem“ in die mystische Mitte der Welt vor: Er befindet sich auf Wahrheitssuche und „gleite[t] durch ein Leben, ungeboren“. Ungeboren, unverstanden, ungehört und auf der Suche nach Antworten – Lehnert schaut in die Leere, lauscht in die Weite und ist sich seiner Vergänglichkeit bewusst. Die Vergänglichkeit des Lebens lässt beim lyrischen Ich Zweifel und „das Echo unverstandener Angst“ davor aufkommen, dass die Sehnsucht „ins Leere geht“ und „nur noch das, was ich gedacht“, übrig bleibt. Trauer, Todesfurcht und Trost verdrängen einander im Gebet. „Ich habe keine / Hoffnung, aber hier bin ich.“

Aus Träumen kehren, „verwundet auf der Flucht“, Bruchsteinmauern von Erinnerungen zurück. Zuversicht und Freude legen sich über drohenden Schwermut, der aufkommende Wind bringt Neues mit sich. Die Augen öffnen sich: „Sieh nur, dieses Schauen!“ Übergehend in ein gleichsam nur notierendes Sprachverhalten – und doch immer streng die Form wahrend – wendet Lehnert seine Blicke auf die Natur: Wind, Sonne, „von Eislast wie verglast[es]“ Gezweig, „die laue Nacht“ und das „dürre Schilf“.

Es wird gefragt, „was sich in den Zweigen regt, / wenn letzte Blätter aus dem Vorjahr fallen?“ Und wieder strahlt aus dem Inneren, „als löste sich der Baum / in Licht“ ein unendlicher Schein. ,Er‘ ist nicht nur ,er‘, nicht allein, nicht einsam, postuliert das lyrische Ich. „Ihretwegen gibt es die Präposition Gott.“ Gott ist der Anker, der gesucht wurde. „Es ist des Gottes Tun, das ich nicht fasse / und das mich birgt, das um mein Leben ringt.“ Das Unfassbare wird in der Natur erahnt, sodass das Fremde und der Glaube an die Existenz des Unbekannten zu einem neuen Verstehen führen.

Christian Lehnert ist Pfarrer an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt. Der Dichter und der Pfarrer bilden in ihm ganz im Sinne Friedrich von Hardenbergs alias Novalis eine Einheit der innigsten Gemeinschaft des Endlichen und des Unendlichen. In seiner besten Bedeutung romantisiert er die Welt, indem er dem Gemeinen einen hohen Sinn gibt. Lehnerts Gedichtband ist ein hoffnungsvolles Zeichen modernen Christentums, das es wagt, den Blick auf das Wesentliche zu lenken, nämlich das Wunder der Schöpfung, die transzendentale Natur, den Glauben und das Wort – ein „Geländer, / das ich mir selber halte, es ist fest.“ Mit frischem Tatendrang wischt er Putten und Tand beiseite. Gott ist nicht der alte Mann, der auf einer Wolke sitzt. „Ungewiß ist mir die Kraft, die / meine Herkunft formt.“

Jedoch: „Daß ich nicht bleiben kann, tröstet“. Denn nach dem Tode folgen der Morgen und das Erwachen. Die Angst wandelt sich im vorletzten Gedicht des letzten Kapitels, aber nicht nur dort, sondern immer wieder in Hoffnung, die Vorgabe einer Richtung und, die Kapitelüberschrift wiederspiegelnd, in Franz Schuberts vielfältige Gefühlswelt der „Moments musicaux“. Der Leser spürt den Pfingst-Geist, der die Seiten des Buches durchweht. Es ist für das Verständnis der Gedichte wichtig, nicht nur einzelnen Worten nachzuhängen und im Unvertrauten zu irren, sondern dem über sie hinausweisenden Zeichencharakter zu folgen. Lehnerts Gedichtband „Aufkommender Atem“ hat die Wirklichkeit in sich aufgesogen und in eine neue weiche Form gegossen. Herausgekommen ist ein lebensbejahendes und freudiges Buch. Es lohnt sich, sich auf die nicht einfache Reise einzulassen, mit Lehnert tief durchzuatmen, um die Sonnenstrahlen und das tauende Eis zu spüren.

Titelbild

Christian Lehnert: Aufkommender Atem. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
99 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422731

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