,Es‘ dichtet, denkt und heilt vor allem mit dem Bauche gut

Zu der von Michael Giefer besorgten Neuedition der Schriften psychoanalytischer Psychosomatik des Baden-Badener Schriftstellerarztes Georg Groddeck

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wörtchen „es“ ist den Philosophen lange schon, etwa dem Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg, aber auch dem Vordenker der (Post-)Moderne, Friedrich Nietzsche, ein willkommener Signifikant für das Undurchsichtige, Fremdartige im Bekannten, ja vertraut Eigenem gewesen. „Es“ entzieht sich, noch einmal philosophisch gesprochen, der eineindeutigen Kategorisierung, und ‚es‘ wird damit auch dem Linguisten suspekt, genauer dem am beobachtbaren Sprachmaterial interessierten Grammatiker. Er nennt ‚es‘ deshalb gerne auch das „expletive ‚es‘„. Denn: sofern ‚es‘ die Erstposition des Satzes einnimmt, ist ‚es‘ ein sogenanntes Scheinsubjekt, das bei der Satzumstellung so sicher und spurlos verschwindet, wie ‚es‘ anfangs, an vorderster syntaktischer Position also, aufzutauchen verstand. „Es isst sich nur mit dem Bauch gut“, das ist demnach ein grammatisch korrekter Satz, der in der Umstellung zugleich verkürzt wird auf: „Der Bauch isst gut“. Abermals entsteht ein syntaktisch richtiger Satz, den der Literaturwissenschaftler im Anschluss gern auch als Beispiel für die ebenso korrekte Verwendung des rhetorischen Stilmittels der Personifizierung und somit als ebenfalls semantisch korrekt beschreiben kann. Doch wo, um alles in der Welt, ist das „Es“ im zweiten Fall geblieben?

Dieses Pronomen ist fundamentaler Signifikant der psychosomatischen Theorie und ebensolcher, axiomatisch eingeführter Signifikat der manuellen und verbalen Therapie Georg Groddecks, der es laut Sigmund Freud von Nietzsche her übernommen haben soll, und dieses Pronomen ist ganz offenbar unstet. ‚Es‘ wechselt endlich wohl möglich noch die Wortart, wird Partikel oder ähnliches, sobald es als sogenanntes „Korrelat-es“ zum obligatorischen Begleiter vieler Verben wird und dann auch bei der Umstellung des Satzes nicht verschwindet. Hierzu, damit die Einleitung endlich zur Hauptsache der vorliegenden Rezension überleitet, ein allerletzter Beispielsatz in zwei Varianten, wobei die letzte nur noch anzitiert werden muss. Variante 1: „Es gelingt Sigmund Freud Groddecks ‚Es‘ aus dessen monistischem Modell zu entnehmen und es 1923, in seinem letzten großen theoretischen Werk „Das Ich und das ,Es‘“ dem eigenen dualistischen Modell einzuverleiben. Variante zwei: Gelingt es Sigmund Freud […]? So weit, so gut: Es ist offensichtlich zugleich es selbst und etwas anderes – und damit prädestiniert, Ambivalentes auszudrücken.

Georg Groddeck, der selbst ein so leidenschaftlicher, so gelegentlich grotesk anmutender Erforscher etymologischer Zusammenhänge war, stellte ‚es‘ wohl eher nicht zufällig in den Dienst der Heilung Kranker, erhob es aus sprachlogischen Gründen zum Stammhalter seiner kosmologisch ausgerichteten Hermeneutik und Therapie des Unbewussten. Wen die näheren Umstände dazu interessieren, und wer wissen will, warum man diesen Zugang mit Sigmund Freud bei aller vermeintlichen oder tatsächlichen Kuriosität dennoch als psychoanalytischen auffassen muss, da „Übertragung“ und „Widerstand“ Angelpunkte der Therapie sind, der sei auf den ebenfalls von Michael Giefer neu herausgegebenen Briefwechsel „Georg Groddeck-Sigmund Freud“ verwiesen. Auch er erschien im Stroemfeld Verlag, der seit 1986 eine von der Georg Groddeck Gesellschaft herausgegebene Werkausgabe betreut. Randständig sind Groddecks Betrachtungen schon, aber allein deshalb natürlich in Bezug auf die Geschichte der Psychoanalyse und die Geschichte der Literatur der Moderne nicht automatisch vernachlässigbar.

Literaturkritik.de präsentierte schon wiederholt Rezensionen zu Werken Groddecks. Viele der bisherigen zeichneten sich jedoch durch einen eher kritischen bis rauen Ton aus und verkannten die Bedeutung dieser eigenwillig unwissenschaftlich präsentierten Lehre vom Unbewussten. Ebenso wird die vermeintliche Affinität Georg Groddecks zu dem Nationalsozialismus zur Zeit noch sehr missverständlich thematisiert. Immerhin starb dieser approbierte Arzt bereits 1934. Zuletzt war er wohl nicht mehr ganz klar Herr seiner Sinne, weshalb seine Verwandten einen Brief abfingen, den er an Adolf Hitler tatsächlich geschrieben hatte, allerdings vor allem auch um dessen Antisemitismus zu rügen. Er war keineswegs jemals als Arzt im Dienste des nationalsozialistischen Regimes tätig, sondern hatte im Gegenteil zunehmend Schwierigkeiten mit der Diktatur. Viel mehr kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, als dies – dass Georg Groddeck ähnlich wie Martin Heidegger und Ernst Jünger durchaus einige Ideen mit diesem Terrorregimes vorrübergehend geteilt zu haben schien. Anders jedoch als C. G. Jung war Georg Groddeck niemals in dessen wahnwitzige und menschenunwürdige Seelenheilkunde institutionell und aktiv verstrickt. Mehr Vorsicht als bisher ist allein schon deshalb angebracht, weil der in Marbach aufbewahrte und archivierte Nachlass dieses Pioniers der Psychosomatik auch diesbezüglich längst noch nicht auch nur annähernd genug erschlossen ist.

Unter dem Titel „Vom Menschenbauch und dessen Seele. Schriften zur psychoanalytischen Psychosomatik“ legt Michael Giefer sämtliche Aufsätze und Beiträge Georg Groddecks vor, die zwischen 1917 und 1934 entstanden sind. Nicht aufgenommen sind jene, die in der „Arche“, der Hauszeitschrift seines Sanatoriums von 1925 bis 1927, erschienen sind. Diese werden allerdings in einem Extraregister aufgelistet. Die „Arche“ ist zudem bereits wiederaufgelegt innerhalb dieser Werkausgabe. Einiges von dem, was hier versammelt ist, so etwa auch der aus dem Jahre 1933 stammende Beitrag „Vom Menschenbauch und dessen Seele“, der nun auch als Gesamttitel fungiert, erschien bereits andernorts und früher, meistens jedoch in gekürzter Form. Anderes liegt hiermit aber erstmals publiziert vor.

Alle diese assoziativ-etymologischen Spurensuchen sind höchst lesenswert, anregend, intendiert widersprüchlich und ambivalent. Es sind Variationen eines unendlichen Themas: Ist „Es“ wirklich das, was in mir wirkt und schreibt und krankt und heilt und wenn ja, wie viele „Es“ gibt es? Und: Ist „Ich“, verstanden als „selbstbestimmtes, freies Individuum“, nur eine lebenssichernde Illusion des eigentlich unfreien und multipel gespaltenen, etwas anderen Tieres ‚Mensch‘? Wer hält das Steuer dieser systemisch vernetzten Kybernetiken, als die Teile eines Subjekts eben auch erscheinen können?

Allein deshalb sind diese eigenwilligen Erkundungen lesenswert, nehmen sie doch Vieles poetisch-burlesk aufs Korn, was poststrukturalistische Theorien dann später höchst analytisch und komplex thematisieren sollten. Der aus dem Jahre 1917 stammende Essay „Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden“ etwa, mit dem der Reigen um das dichtende, erkrankende und heilende „Es“ einsetzt, das in jeder einzelnen, noch so unbedeutend wirkenden Zelle als eine Art essentielles Mitochondrium wirkt, präsentiert eine Form der Selbstanalyse, die sich zu der Sigmund Freuds anachronistisch verhalten mag, doch deshalb nicht weniger reizvoll ist – weder in literarischer, noch in psychoanalytischer Hinsicht.

Der 1933 entstandene, jetzt erstmals ungekürzt präsente Beitrag „Vom Menschenbauch und dessen Seele“ setzt mit dem ersten Satz schon Maßstäbe prinzipieller Unverständlichkeit, die freilich gerade einen Arzt nicht vom Handeln suspendieren kann: „Jede Betrachtung ist einseitig, jede Meinung eine Fälschung“ heißt es da. Endlich erfahren wir, dass das Wort Kopf schon verrate, was die Sprache von diesem Körperteile hält, indem sie ihn als ein Vakuum, als einen Hohlraum darstelle. So nachzulesen in dem kurzen Prosatext „Vom Kopf und dessen Seele“, das aus dem Jahr 1934 stammt, und das in der Handschrift Groddecks mit dem Vermerk ‚Fragment‘ versehen ist. Dies verrät ein Blick in den exzellenten, detaillierten und jeweils auf der gleichen Seite zu findenden editorischen Anmerkungsapparat. Allein für ihn und die anderen ihn komplettierenden editorischen Subtexte lohnte sich schon die Anschaffung dieses Buches. Zu nennen sind hier noch die beeindruckend informativen und ausführlichen Register: das ‚Sachregister‘, ,Namenregister‘ und ‚Symbolregister‘, dann der Nachweis der Fallgeschichten und endlich auch ein im Anhang präsentes, ausgesprochen informatives Nachwort zu „Georg Groddeck. Pionier der psychoanalytischen Behandlung organischer Leiden“. So wird dieser psychoanalytische Diskurs einer poetischen Medizin der Moderne verständlich.

Er ist unter dem Namen Georg Groddecks, natürlich zugleich als ein „wilder“ Weg der „Analyse“ etikettiert. Als einer freilich, der von Sigmund Freud expressis verbis als Psychoanalyse, als Teil des „wilden Heers“ autorisiert und getragen wurde – bis zuletzt.

Um das typisch Groddeck’sche, das verschmitzt Selbstkritische dieser Beiträge des Schweninger Schülers und Mitglieds der Berliner psychoanalytischen Vereinigung lesend erfahren und genießen zu können – dazu muss allerdings des Lesers oder der Leserinnen Blick irgendwann einmal von den Paratexten des Fußnotenapparats wieder zu dem zentralen Essaytext zurückfinden, um festzustellen: ‚Es‘ liest sich unbedingt mit Gewinn!

Titelbild

Michael Giefer / Beate Schuh (Hg.): Georg Groddeck-Werkausgabe. Briefwechsel Groddeck-Freud (1917-1934).
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
347 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000292

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Georg Groddeck: Vom Menschenbauch und dessen Seele. Schriften zur psychoanalytischen Psychosomatik.
Herausgegeben von Michael Giefer.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
570 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000810

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