Krieg, Tod, Trauer und Dichtung

Walter Flex’ „Wanderer zwischen beiden Welten“

Von Volker MergenthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Mergenthaler

Im Oktober 1916, während an der Somme die bis dahin verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs geschlagen wird, kommt im Münchner Verlag C. H. Beck Walter Flexens „Wanderer zwischen beiden Welten“ auf den Markt: „Ein Kriegserlebnis“, wie es im Untertitel heißt. Das schmale, im blauen Pappband mit Goldprägung angebotene Bändchen wird umgehend zum Bestseller und erreicht eine Auflagenstärke, die auf dem Feld der deutschsprachigen Kriegsliteratur einzig von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ übertroffen wird.[1] Das Interesse der Literaturwissenschaft blieb indes eher verhalten und wird bis heute dominiert von der Frage nach dem Standpunkt, den Flex, seit 1914 Kriegsfreiwilliger, mit seiner deutlich autobiografischen Erzählung – das Sprecher-Ich der Erzählung wird als „Leutnant Flex“ (81) [2] adressiert – gegenüber dem Krieg einnimmt. Dass man es mit einem „großangelegte[n] Versuch einer verharmlosenden Ästhetisierung und Fiktionalisierung des Krieges“,[3] zu tun hat, mag prima facie vor allem deshalb überraschend anmuten, weil im Zentrum des Textes eine traumatische Verlusterfahrung steht, der als „sinnlos“ (81) empfundene Tod des Freundes „Leutnant Wurche“, und daher ein kritischer Blick auf den sogenannten Großen Krieg doch erheblich näher läge. Der Fokus der Erzählung liegt allerdings gar nicht so sehr auf dem Krieg, sondern auf der Entwicklung der Freundschaft zwischen „Wurche“ und „Flex“, auf der Traumatisierung durch den plötzlichen Tod des Freundes während eines Sturmangriffs und auf der im Anschluss daran verrichteten Trauerarbeit des Hinterbliebenen.

Die Erzählung setzt ein mit dem Hinweis auf eine als schicksalhaft bestimmte Koinzidenz: „Während“ der Kriegsfreiwillige „Flex“ „im Bois des Chevaliers“ die berühmten Verse von überhin fliegenden Wildgänsen „auf einen Fetzen Papier“ schreibt, registriert (unweit davon) der Kriegsfreiwillige Wurche „drüben im Vérines-Walde“ (2) dasselbe „wandernde Gänseheer“ (3), das zur Niederschrift der besagten Verse Anlass gegeben hatte. „Flex“ und „Wurche“ werden noch in derselben Nacht aus Lothringen zur Offiziersausbildung nach Posen abkommandiert und treffen beim Antreten in „Hâtonchatel“ (5-6) erstmals aufeinander: „the beginning of a beautiful friendship“.

Beschlossen wird der Text mit den ersten Anzeichen dafür, dass das Sprecher-Ich „Leutnant Flex“ die durch den Tod Wurches verursachte Traumatisierung überwunden hat.[4] Während man in literaturwissenschaftlicher Perspektive neben der biografischen Sättigung und dem literaturgeschichtlichen Ort der Erzählung vor allem zu klären versucht hat, ob und, wenn ja, wie es „Leutnant Flex“ und mit ihm dem empirischen Autor gelungen sei, den erlittenen Verlust nicht etwa dem Krieg anzulasten, sondern in ein notwendiges, heiliges oder sinnvolles Opfer umzudeuten, möchte ich meine Optik poetologisch einstellen und mich auf die Liaison konzentrieren, die die zur Rechtfertigung der Kriegsopfer aufgewendete Begründung mit der Dichtung eingeht.

„Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“ – der ,Link’ zur Literatur

Ein solches Vorhaben wird durch die Erzählung selbst legitimiert, und zwar bereits in der Sphäre paratextueller Sinnbildung. Die Schmutztitelrückseite ziert nämlich ein berühmtes Diktum des preußischen Generalfeldmarschalls August Wilhelm Antonius Graf Neidhardt von Gneisenau, das den Leser (anders als man vielleicht erwarten könnte) nicht etwa auf das Feld des Militärischen, sondern zunächst auf dasjenige des Ästhetischen führt: „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“ (o. P.). Freilich, wer mit dem Anspielungshorizont vertraut ist, wird schnell gewahr, dass Gneisenaus „Poesie“ nicht auf Literatur, nicht auf Dichtung abzielt, sondern als Metapher einer patriotischen Gesinnung zu bestimmen ist. Gneisenau hatte dem preußischen König in einer Denkschrift zur Initiation eines Volksaufstandes geraten, um auf „Frankreichs Unterjochungsplan“,[5] gemeint ist die mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für Preußen verknüpfte Kontinentalsperre Napoleons, reagieren zu können. Eine der Empfehlungen Gneisenaus bestand darin, die preußischen Geistlichen zur Indoktrination der Bevölkerung anzuhalten – damit diese „auf […] Widerstand zu denken“ lerne. „Als Poesie gut“, hat Friedrich Wilhelm III. daneben geschrieben und seinen Berater Gneisenau damit zu folgender Replik veranlasst: „Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland, zur Tugend sind nichts anderes als Poesie, keine Herzenserhebung ohne poetische Stimmung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet. Wie so mancher von uns, der mit Bekümmernis auf den wankenden Thron blickt, würde eine ruhige glückliche Lage in stiller Abgezogenheit finden können […], wenn er statt zu fühlen berechnen wollte. Jeder Herrscher ist ihm dann gleichgültig; aber die Bande der Geburt, der Zuneigung, der Dankbarkeit fesseln ihn an seinen alten Herrn; mit ihm will er leben und fallen; für ihn entsagt er den Familienfreuden und giebt seine Lieben einer ungewissen Zukunft Preis. Dies ist Poesie und zwar von der edelsten Art. An ihr will ich mich aufrichten mein Lebelang.“[6]

Aus ihrem Kontext gelöst und dem literarischen „Kriegserlebnis“ Flexens als Motto vorangestellt, wirkt die Replik allerdings in eine etwas andere Richtung. Sie sucht die Metapher des Patriotismus wieder aufzulösen und „Poesie“ als Literatur, als Dichtung zu bestimmen. Gleichwohl bleibt Gneisenaus Anmerkung für eine in dieser Weise profilierte Literatur alles andere als folgenlos, da metaphorisches Sprechen eine wechselseitige Bedeutungsanreicherung zur Folge hat[7] und das Feld der Literatur unweigerlich patriotisch aufgeladen wird. Von Beginn an ist die im verschobenen „Poesie“-Begriff des Gneisenau-Diktums mitschwingende Literatur hinter das Vorzeichen des Patriotismus und damit in den mächtigen Horizont der Sinnbildungsmaschinerie während und nach dem Ersten Weltkrieg gestellt.

„Dem Gedächtnis meines lieben Freundes“ – der ,Link’ zur Sinnstiftungsproblematik

Das wird spätestens dann klar, wenn man einen weiteren Paratext, den Widmungsvorsatz nämlich, zur Kenntnis nimmt, der zwischen Titelblatt und Erzählung geschaltet ist:

„Dem Gedächtnis meines lieben Freundes
Ernst Wurche,
Kriegsfreiwillig im 3. Niederschlesischen Inf.-Rgt. 50
Leutnant d. R. im 3. Unterelsässischen Inf.-Rgt. 138“

Als Besonderheit kann in diesem Fall angesprochen werden, dass der Paratext eine ostentativ motivierte Beziehung zum ,eigentlichen‘ Text unterhält, denn er greift die Inschrift auf, die das Grabkreuz des gefallenen „Leutnant Wurche“ ziert: „Über dem offenen Grabe sprach ich ein Vaterunser, zu dem mir nun freilich wieder die Worte in Tränen versagten, und warf die ersten drei Hände Erde auf ihn, danach sein Bursche, dann die andern. Dann schloß sich das Grab, und der Hügel wuchs. Eine Sonnenblume steht darauf und ein Kreuz. Darauf ist geschrieben: ,Leutnant Wurche. I.R. 138. Gefallen für das Vaterland. 23.8.1915.‘“ (86)

Trauerarbeit, kognitiv

In der lakonischen Formel „Gefallen für das Vaterland“ ist – zumindest in den Ohren robuster Gemüter – alles Erforderliche gesagt: Der Tod des jeweils zu Grabe Getragenen ist eingerückt in den übergeordneten Sinnzusammenhang der zu verteidigenden oder in ihrem Expansionsstreben zu unterstützenden Nation. Das individuelle Sterben erscheint folglich als Opfer, das in der Vorstellung der Nation aufgehoben, das heißt entschärft, archiviert und aufgewertet ist. „Leutnant Flex“ ist mit dieser Rechtfertigungsfigur bestens vertraut und vermag doch weder seinen Schmerz noch den Verdacht der Sinnlosigkeit im Rekurs auf dieses Muster zu zerstreuen. Dass „Wurche“ den Hinterbliebenen auf diese Situation nicht vorbereitet hätte, lässt sich dabei schwerlich geltend machen. Mehrfach gibt er, auch und gerade „Flex“ gegenüber zu erkennen, welcher Stellenwert dem Sterben, zumal fürs Vaterland, in seinen Augen zukommt: einmal, als einer der Offiziersanwärter erklärt, „Leutnantsdienst tun heißt: seinen Leuten vorsterben“ und „Wurche“ erwidert, „Leutnantsdienst tun“, heiße „seinen Leuten vorleben, […] das Vor-sterben“ sei „dann wohl einmal ein Teil davon“ (10), ein weiteres Mal in einem längeren Gespräch der beiden „über die Toten von Warthi. Ich redete“, so „Leutnant Flex“, „von diesem und jenem, den ich in seinem ersten Gefechte fallen sah, nachdem ein frischer und herzlicher Führerwille durch lange Monate unermüdlich an ihm gearbeitet hatte. Ein Sprung und Sturz – tot! Und für diesen einen Schritt so viele Mühe und Liebe – ,Nicht für diesen einen Sprung,’ unterbrach mich der Freund, ,sondern dafür, daß er ihn mit hellen und beherzten Augen, mit Menschenaugen tat! Und sollte das nicht genug sein?’ Ich sah ihn an und schwieg. Schwieg aus Freude und nicht aus Widerspruch. Aber er schien’s dafür zu nehmen und schob seinen Arm unter meinen. ,Haben Sie denn vergessen, was Sie Ihren alten Klaus von Brankow in der einen Bismarcknovelle sagen lassen?‘ Und er holte die Worte aus seinem frischen, jungen Gedächtnis: ,Umsonst –? Es mag enden, wie es will – Ihr werdet Euer Brandenburg, Brandenburg! nicht umsonst gejubelt haben. Hat nicht der tote Begriff Vaterland lebendige Schönheit und Taten gezeitigt? Haben nicht tausend junge Menschen durch tausend Stunden menschlichen Lebens nicht an Leichtes und Leeres und Arges gedacht, sondern sind mit warmen und festen Herzen durch Tage und Nächte gegangen? Kann eine Zeit umsonst sein, die aus dem sprödesten der Stoffe, aus dem menschlichen, Kunstwerke gemacht und sie auch denen offenbart hat, die sie wie Barbaren zertrümmern mußten?‘“ (76-77)

„Leutnant Wurche“ zitiert hier einen 1913 unter dem Titel „Zwei Bismarcks unter schwedischen Fahnen“ veröffentlichten Erzähltext des empirischen Walter Flex,[8] führt also gegen die vermeintlichen Zweifel des Freundes dessen ,eigenen’ Text über „Christoph Friedrich von Bismarck, [den] Kapitän Seiner kurfürstlichen Durchlaucht von Brandenburg“,[9] und das darin entfaltete Modell patriotischer Sinnstiftung ins Feld. Dass die Formel „Gefallen für das Vaterland“ an „Leutnant Flex“ ihren Dienst aber offenbar versagt, dass er den erlittenen Schmerz und die aufgekommenen Zweifel am Sinn des Krieges kognitiv nicht zu überwinden vermag, ja dass dem Trauernden das Argumentationsmuster vertraut ist und trotzdem nicht greifen will, wird am deutlichsten, als er „an die Eltern des Freundes schreibt“ (87): „,Glauben Sie mir: Sie tun ihm die letzte Liebe, wenn Sie seinen Tod so tragen, wie es seiner würdig ist und wie er es wünschen würde! Gott lasse seine Geschwister, an denen er so brüderlich hing, aufwachsen, ihm gleich an Treue, Tapferkeit und Weite und Tiefe der Seele!‘ Aber ach, wie fern war ich selbst, während ich dies schrieb, von solcher Ergebung und Herzenstapferkeit, die ich andere lehrte! –“ (87-88)

Trauerarbeit, rituell

Auch zu Friedenszeiten bedarf es nach dem Tod eines nahestehenden Menschen ritueller Handlungen, um genau zu sein, eines Bestattungsritus, um Verlustschmerz und Zweifel zu zerstreuen. Zwar werden in der Erzählung alle für Deutschland Gefallenen begraben, selbst dann, wenn die Schlacht noch tobt – die „Gräber“, heißt es, „schlossen sich über den Toten von Warthi“ (72) –, im Falle „Leutnant Wurches“ geschieht dies allerdings mit einem geradezu exorbitanten rituellen Aufwand, für den der hinterbliebene „Flex“ verantwortlich zeichnet:

„Es war keine Zeit zu verlieren. Ich mußte den Freund noch einmal sehen. Er sollte durch eine Hand zur Ruhe gebettet werden, die ihn brüderlich liebte […]. Vor dem lettischen Gehöft, wo er als Feldwachhabender gelegen, auf den Seehöhen vor Simno schmückte ich ihm das Heldengrab. Zwei Linden über ihm als geruhige Grabwächter, das nahe Rauschen der Wälder und das ferne Gleißen des Sees sollten ihn behüten. In den Bauerngärten umher war eine blühende, schwellende Fülle von Sonne und Sommerblumen. Ein Grab voll Sonne und Blumen sollte der sonnenfrohe Junge haben. Mit Grün und Blumen kleidete ich die kühle Erde aus. Dann brach ich eine große, schöne Sonnenblume mit drei golden blühenden Sonnen, trug sie ihm ins Haus und gab sie ihm in die gefalteten Hände, die, fast Knabenhände noch, so gerne mit Blumen gespielt hatten. Und ich kniete vor ihm, sah wieder und wieder in den feiertäglich stillen Frieden seines stolzen jungen Gesichts und schämte mich meiner Zerrissenheit. Aber ich rang mich nicht los von dem armseligen Menschenschmerz um das einsame Sterben des Freundes, in dessen Hand in der letzten Stunde keine andere gelegen hatte, die ihn liebte.
Doch je länger ich kniete und das reine, stolze Gesicht sah, desto tiefer wuchs in mir eine angstvolle und unerklärliche Scheu. Etwas Fremdes wehte mich an, das mir den Freund entrückte. Dann schlug mir das Herz in aufwallender Scham. Er, der seinem Gotte so gerne nahe war, wäre allein gestorben? Ein Bibelwort fiel mir ein aus Jeremias: ,Ich bin bei dir, spricht der Herr, daß ich dir helfe.‘ Das letzte große Zwiegespräch auf Erden, die Zweisamkeit zwischen Gott und Mensch hatte kein Unberufener gehört … Und ich klagte um ein freundloses Sterben – – – […]
Ich ließ den Freund hinaustragen und half ihn in das grün ausgekleidete Grab unter den Linden senken. In seiner vollen Offiziersausrüstung bettete ich ihn zum Heldenschlafe mit Helm und Seitengewehr. In der Hand trug er die Sonnenblume wie eine schimmernde Lanze. Dann deckte ich ihn mit der Zeltbahn. Über dem offenen Grabe sprach ich ein Vaterunser, zu dem mir nun freilich wieder die Worte in Tränen versagten, und warf die ersten drei Hände Erde auf ihn, danach sein Bursche, dann die andern. Dann schloß sich das Grab, und der Hügel wuchs. Eine Sonnenblume steht darauf und ein Kreuz. Darauf ist geschrieben: ,Leutnant Wurche. I.R. 138. Gefallen für das Vaterland. 23.8.1915.‘ Der Stahl, den der Waffenfrohe blank durch sein junges Leben getragen, liegt ihm nahe am Herzen, als ein Gruß von Erde, Luft und Wasser der Heimat, aus dem Marke deutscher Erde geschmiedet, in deutschem Feuer gehärtet und mit deutschem Wasser gekühlt. […]
Über das Kreuz hing ich ihm zum Abschied einen aus hundert flammenden farbigen Bauernblumen gewundenen Kranz, für den seine Leute alle Gartenbeete der lettischen Bauern geplündert hatten. Weichsamtene Levkojen und rotgelbe Studentenblumen, Nachtschatten und Sonnenblumen, der ganze reife Sommer blühte über dem Grabe des Jünglings, als ich schied.
Durchs Feldtelephon kam der Marschbefehl. Ich mußte im Galopp zu meiner Kompanie zurück. Das Bild des Grabes, das der Kriegsfreiwillige gezeichnet, in der Brieftasche, brach ich zur weiteren Verfolgung des Feindes auf.“ (81-87)

„Leutnant Wurche“ erhält eine Ruhestätte unter zwei Linden. Die Grube wird mit frischem Grün und Blumen ausgekleidet, sein Leichnam mit einer Sonnenblume versehen, der Grabhügel mit einem Kreuz, einer weiteren Sonnenblume und einem aus „weichsamtene[n] Levkojen und rotgelbe[n] Studentenblumen, Nachtschatten und“ weiteren „Sonnenblumen“ „gewundenen Kranz“. Schließlich wird eigens ein „junge[r] Kriegsfreiwillige[r]“ abgestellt, „der das Grab für die Eltern zeichnen“ (87) soll. Dass am offenen Grab eines gefallenen Soldaten das „Vaterunser“ gesprochen wird, ist wenig überraschend. Beachtung verdienen die übrigen rituell-liturgischen Komponenten der Bestattung Wurches. Ihre Bedeutung ist allerdings erst dann zu ermessen, wenn man die (diese scheinbaren Wunderlichkeiten grundierenden) zeitgenössischen Diskurse mit ins Visier nimmt.

Rituelle Melange – Ingredienz I: die Lebensreform

Welche kultisch-religiösen Traditionen anlässlich der Bestattung Wurches gepflegt und beliehen werden, erschließt sich erst vor dem Hintergrund eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts sich fest etablierenden Ensembles geistig-kultureller Bewegungen, deren diskursive Wirkungsmacht kaum zu überschätzen ist – Bewegungen, die unter dem Begriff der Lebensreform zusammengefasst sind: die Vegetarier-Bewegung, die Wandervogel-Bewegung, die Freikörperkultur, (mit Einschränkungen) die (bereits etwas ältere) Turnbewegung, die Theosophie, die Gartenbaubewegung, der Germanen-Kult, der Jugendkult.[10] Selbst dem flüchtigen Blick bleibt nicht verborgen, dass „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ zur Lebensreformbewegung eng auf Tuchfühlung geht. Wurche, Eingeweihte könnten dies bereits dem zu Beginn des Buches aufgeführten Graugänse-Gedicht des fiktiven Walter Flex ablesen, ist der Wandervogel-Bewegung verpflichtet. Als Wanderer werden in einem Parallelismus Graugänse und Feldgraue, das heißt Soldaten der deutschen Infanterie im grauen Waffenrock, eingeführt, und als Wanderer nimmt der fiktive „Flex“ seinen Kameraden „Wurche“ wahr:

„Wie der schlanke, schöne Mensch in dem abgetragenen grauen Rock wie ein Pilger den Berg hinabzog, die lichten grauen Augen ganz voll Glanz und zielsicherer Sehnsucht, war er wie Zarathustra, der von den Höhen kommt, oder der Goethesche Wanderer. Die Sonne spielte durch den feinen Kalkstaub, den seine und unsere Füße aufrührten, und der helle Stein der Bergstraße schien unter seinen Sohlen zu klingen.
Sein Gang war Wille und Freude […]. Nun schritt er von den Bergen herab, um Führer zu werden.“ (6-7)

Und dieses Bildfeld bleibt bestimmend für die Profilierung „Wurches“. Ablesbar ist dies an der Schilderung der gemeinsamen Wanderungen. Als solche werden die den Soldaten angeordneten Märsche nämlich aufgefasst:

„Wir schliefen die Nacht auf Stroh in der russischen Kaserne und wanderten am andern Morgen zu viert in den Mai hinaus nach den Gräben unserer Kompanien, die ein paar Wegstunden entfernt in festen Stellungen im Walde lagen.
Ein Morgenbad im ,Weißen See‘ gab dem ganzen Tage einen frischen Glanz. Der Weg ging durch Sand und Föhrenwald. Zerstreutes Licht floß in breiten Bahnen durch grüne Wipfel und goldrote Stämme. Dann lag der weite See, von sonnigem Morgendunst überschäumt, vor uns. Pirole schmetterten, Schwalben schossen mit den Schwingen durchs Wasser, Taucher verschwanden vor uns, wie wir am Ufer entlangschlenderten. Nur aus der Ferne kam ein gedämpftes Grollen zu uns herüber und ab und zu das taktmäßige Hämmern eines Maschinengewehrs. ,Spechte!‘ lachte Wurche und ließ Sonne und Wasser über sich zusammenschlagen.Dann ging es am Augustower Kanal und den Nettawiesen weiter. Bald saß uns der graue Staub der russischen Landstraße in den Röcken. Aber neben dem Wandervogel her, der in Helm und Degen und Ledergamaschen den ausgefahrenen Sandweg hinzog, schritt leicht auf reinlichen Füßen durch feuchtes Wiesengras der Mai und lachte immer heller herüber. Die leise Netta kam bald bis an unsern Weg heran und ließ ihre Wellen und ihr sonniges Mückenspiel vor uns gaukeln, bald entwich sie uns wieder und barg sich in Wiesenschaumkraut und wucherndem Gras. Ich hatte Wurche lange von der Seite angesehen. Zuletzt mußte ich lachen. ,Gestehen Sie’s nur!‘ sagte ich, ,Sie müssen heut noch einmal ins Wasser?‘ ,Gleich!‘ sagte er, und wir gingen tief in die federnde Sumpfwiese hinein, warfen die staubigen Kleider von uns und ließen uns von den kühlen, guten Wellen treiben.
Dann lagen wir lange in dem reinlichen Gras und ließen uns von Wind und Sonne trocknen. Als Letzter sprang der Wandervogel aus den Wellen. Der Frühling war ganz wach und klang von Sonne und Vogelstimmen. Der junge Mensch, der auf uns zuschritt, war von diesem Frühling trunken. Mit zurückgeneigtem Haupte ließ er .die Maisonne ganz über sich hinfluten, er hielt ihr stille und stand mit frei ausgebreiteten Armen und geöffneten Händen da. […]
Feucht von den Wassern und von Sonne und Jugend über und über glänzend stand der Zwanzigjährige in seiner schlanken Reinheit da […]. ,Da fehlt nur ein Maler!‘ sagte einer von uns. Ich schwieg und war fast traurig, ohne sagen zu können, warum.“ (22-24; meine Hervorhebung)

Man hat in diesem Adoranten-Gestus eine Reminiszenz an Hugo Höppeners alias Fidus in vielen Variationen bekanntes und durch Postkarten weit verbreitetes „Lichtgebet“ erkannt, das Walter Flex, so Wagener, „mit Sicherheit bekannt war“.[11] Allerdings zeigt Fidus den Jüngling schräg von hinten, während der wasser- und sonnenglänzende Wurche dem Erzähler entgegenschreitet. Es erscheint mir daher plausibler, das Motiv nicht als Anspielung auf eine Darstellung alleine, sondern auf eine ganze Bildtradition zu bestimmen. Zu denken ist an Paul Bürcks „Empor“ (um 1900), an Ludwig Fahrenkrogs „Die heilige Stunde“ (1905), an Max Beckmanns „Junge Männer am Meer“ (1905), an Ludwig von Hofmanns „Badende Jünglinge“ (1905), an Karl Hofers „Drei badende Jünglinge“ (1907), an Johannes Ehlers Plakat zur „Internationalen Photographischen Ausstellung“ 1911, an Christian Landenbergers „Badende Buben“ (1913) oder an Fingers „Freiheit“ (1914).[12] Sonne, Nacktheit, Jugend, Gesundheit, latente Homoerotik – das sind die Ingredienzien, mit denen in den Lebensformbewegungen und den zugehörigen Bilddiskursen gearbeitet wird.

Der Krieg ist, zumindest an der eben so ausführlich zitierten Stelle zum Hintergrundgeräusch geworden: „Nur aus der Ferne“, heißt es, „kam ein gedämpftes Grollen zu uns herüber“ (22). Wurches Kommentar geht noch einen Schritt weiter, er verlegt die Geräusche des Krieges nicht nur in den Hintergrund, sondern holt sie in den Wahrnehmungshorizont des naturbeobachtenden Wandervogels ein. In der unmittelbaren Umgebung der jungen Wanderer „schmetterten“ „Pirole“ (22) und im Hintergrund hört der Erzähler immerhin noch das „Hämmern eines Maschinengewehrs“, während Wurche vollständig im Naturparadigma verbleibend die Laute lachend auf „Spechte“ (22) zurückführt. Das Kriegsgeschehen wird von Wurche also metaphorisiert, im semantischen Feld von Fauna und Flora verhandelt. Konsequenterweise findet Wurche seine letzte Ruhe unter der Obhut zweier Linden, das „Rauschen der Wälder“ (84) in Hör- und das „Gleißen des Sees“ (84) in Sichtweite.

Schließlich wird eine Sonnenblume auf das Grab gesetzt, die bei weitem mehr ist als nur Grabschmuck und mehr auch als bloßes Symbol unauslöschlicher Fruchtbarkeit. Nichts wäre passender als eine heliotrope, das heißt, ihre Blüte konsequent auf die ,wandernde‘ Sonne ausrichtende Pflanze.[13] Abgebildet ist nämlich auf diese Weise nicht nur Wurches Vorliebe, sich bei jeder denkbaren Gelegenheit der Sonne zuzuwenden, sondern auch seine charakterliche Disposition, „seine Seele“, die „weit und voll Sonne“ war (18).[14] Die Sonnenblume auf dem Grab Wurches ist daher nicht nur probates Symbol vegetativer Unsterblichkeit im Lebenszyklus der Natur, sie ist zudem metaphorische Repräsentantin des Verstorbenen. In ihr sind daher die Unsterblichkeitshoffnung und derjenige, für den es zu hoffen gilt, zusammengeschlossen.

Rituelle Melange – Ingredienz II: christliche Liturgie

Es ist dies allerdings nicht das einzige Modell, das zur Heilsversicherung herangezogen wird: Auf ein „Vaterunser“ am offenen Grab darf, zumindest in der Darstellung des „Wanderers zwischen beiden Welten“, selbst ein einfacher Gefreiter rechnen: Der „Gefreite Begemann“ nämlich aus dem Zug des „Leutnant Flex“ erhält „in der vordersten Linie ein Grab“, die Kameraden knien nieder, entblößen das Haupt, Zugführer „Flex“ spricht das „Vaterunser“, wenn auch trockenen Auges, man legt „Helm und Seitengewehr auf den flachen Hügel“ und feuert – letzte der rituellen Handlungen – „drei Ehrensalven darüber“ (70).

Ernst Wurche war nicht nur Wandervogel, sondern eifriger Leser. Im Feld führt er in „seinem Tornister einen kleinen Stapel zerlesener Bücher: ein Bändchen Goethe, den Zarathustra und eine Feldausgabe des Neuen Testaments“ (9). Und er findet mehrfach Gelegenheit, aus diesem Fundus zu schöpfen, wobei wir Einblick in einen sehr gradlinig-pragmatischen Umgang mit philosophischen, religiösen und literarischen Texten erhalten: Christi Hinweis auf den bevorstehenden Verrat durch Judas etwa nutzt Wurche, um die Kriegserklärung Italiens durch die Blume als Verrat zu brandmarken. Und auch die Goethe-Gedichte werden auf vergleichbare Weise pragmatisiert. Was unter dem Eindruck der Badeidyllen und des Umgangs mit Texten in Vergessenheit zu geraten droht, ist die Tatsache, dass Wurche, der Theologiestudent, als gläubiger Christ eingeführt ist. Sein Sterben tut daher vor allem eines: es stellt das Dogma des christlichen Heilsversprechens auf die Probe. In dieser Situation tritt im Normalfall ein Geistlicher auf den Plan, dessen liturgische Funktion darin besteht, den Verstorbenen in der Fürbitte der Gnade Gottes zu empfehlen und durch eine Ansprache die Hinterbliebenen davon zu überzeugen, dass der individuelle Tod integraler Bestandteil des göttlichen Heilsplans und der Verstorbene daher in einen übergeordneten Sinnzusammenhang aufgehoben ist.

Ein Feldprediger ist allerdings nicht zugegen, als „Wurche“ bestattet wird. Dafür springt „Leutnant Flex“ bereitwillig ein, zitiert neben dem Aufgebahrten kniend „ein Bibelwort […] aus Jeremias: ,Ich bin bei dir, spricht der Herr, daß ich dir helfe’“ (84-85),[15] mit dem er Heilsgewissheit zu geben sucht, spricht „über dem offenen Grab […] ein Vaterunser“, wirft im Zeichen des dreieinigen Gottes „die ersten drei Hände Erde auf ihn“, schließt das Grab und versieht es mit einem Kreuz, das heißt er stellt den Tod Wurches in den Horizont desjenigen Zeichens, das für die Überwindung des Todes durch den wieder auferstandenen Christus einsteht. Seinen Dienst als Laie hat „Leutnant Flex“ nach Maßgabe der christlichen Liturgie also geradezu vorbildlich versehen.

Rituelle Melange – Ingredienz III: Nationalpatriotismus

Er nimmt die Herausforderung durch den Tod des Freundes allerdings nicht nur auf dem Feld der christlichen Liturgie und der Lebensreform-Bewegung an, sondern zieht zudem – damit exakt den ideologischen Eklektizismus Wurches reproduzierend – auch die rituellen Register des germanisierend-nationalpatriotischen Diskurses, wenn er den Verstorbenen zum „Heldenschlafe“ bettet, „mit Helm und Seitengewehr“ (85-86), mit dem Seitengewehr, das zuvor mit der „Schwertleite“ (53) in Verbindung gebracht worden ist und das jetzt, im fernen Baltikum, „aus dem Marke deutscher Erde geschmiedet, in deutschem Feuer gehärtet und mit deutschem Wasser gekühlt“, als Grabbeigabe einen heimatlichen „Gruß von Erde, Luft und Wasser“ (86) zu bestellen hat. Schließlich erhält das Grab, den militärischen Gepflogenheiten entsprechend, ein Kreuz mit dem Sterbedatum, mit einem Hinweis auf die letzte Regimentszugehörigkeit und mit der Inschrift, die Grund und Sinn des Sterbens benennt: „Gefallen für das Vaterland“ (86).

Indizien einer Traumatisierung

„Aber ach“, so erfährt man über den trauernden Flex, der soeben „auf ein paar Meldekarten an die Eltern des Freundes“ (87) therapeutische Ratschläge notiert hat, „wie fern war ich selbst, während ich dies schrieb, von solcher Ergebung und Herzenstapferkeit, die ich andere lehrte! –“ (87-88). Die großzügige rituelle Einkleidung der Bestattung mag Wurches Seele dem Allmächtigen empfohlen haben, „Leutnant Flex“ vermochte sie so wenig Trost zu spenden wie das Wissen um die probaten Sinnstiftungsformeln. Es häufen sich in der Folge vielmehr die Indizien dafür, dass „Leutnant Flexens“ Trauerarbeit bislang keine nennenswerte Wirkung zeigt: Immer wieder gerät er in die traumatisch besetzte Situation des „Abend[s] in Zajle“ (89), und zwar nach Maßgabe eines einfachen Reiz-Reaktion-Schemas: Die Nachricht von der Verwundung und kurz darauf vom Tod „Ernst Wurches“ hatte „Leutnant Flex“ in seinem Quartier erreicht, wo die telephonischen Meldungen, auch die das Schicksal Wurches betreffenden, eingehen. Da „Flex“ auch in den Wochen und Monaten nach dem Tod „Wurches“ seine Stube mit dem Feldtelephon teilen muss, ruft das ,Klöhnen des Summers’ immer aufs neue in Erinnerung, nein in die Gegenwart des Erlebens, wie er vom Tod des Freundes erfahren hat.
Das wird erstens deutlich, wenn nach dem Tod Wurches „Der Summer des Telephons“ zu hören ist und „alles wie an jenem Abend in Zajle“ zu sein scheint. „Warum“, so fragt sich der Ich-Erzähler Flex, „warum traten Menschen und Dinge immer wieder zu dem quälenden Bild der Erinnerung zusammen und taten Gespensterdienst […]?“ (89-90). Es wird zweitens deutlich, wenn das Ticken von Wurches Uhr, die der Sprecher an sich genommen hat, um sie den Eltern bringen zu können, an das Herz des verstorbenen Freundes erinnert, an dessen Stelle das Uhrwerk jetzt Dienst tue, so dass der Sprecher in einer metonymischen Verkennung meint, er „hielte […] das liebe Herz [s]eines Freundes in Händen“ (91). Und es wird drittens deutlich, wenn „ein wanderndes Gänseheer“ (93) den Sprecher – es ist mittlerweile wieder Herbst – an die Stunde gemahnt, da Wurche und er in den Kreidegräben der Westfront gelegen und angesichts der Gänse denselben Gedanken gefasst hatten. Die Monate vergehen nach dem Tod Wurches im eintönigen Kriegsalltag. Die stark raffende, nun gänzlich ohne Sonne auskommende Schilderung dieses Alltags wechselt ins Präsens und bindet den Leser enger an den Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont des Traumatisierten.

„Ich liege erst zwischen den Seen, dann fünf Monate hindurch mit meiner ,Sechsten‘. Schanzen und Wachen, Wachen und Schanzen. Alle Nächte sind tief und dunkel wie Abgründe und voll unfaßbaren Lebens. Die Tage sind fahl und kurz und sind nichts als bleierner Schlaf und verworrener Traum. Die Nächte sind ein verhohlenes Leben in Erdhöhlen und dunklen Gräben, ein Auf- und Abwandern an starrenden grauen Drähten in aufflackernder und verwehender Helle, ein Lauern über den Brustwehren und Schießscharten und ein Hocken am Feldtelephon.“ (99-100)

Noch viele Monate, noch lange nach dem Tod Wurches also arbeitet der mnemotechnische, auf das Ähnlichkeitsprinzip bauende Mechanismus in der Psychomotorik des trauernden „Flex“ und öffnet seinen Frontalltag auf die traumatische Erfahrung hin: Das Feldtelephon, mittels dessen dem Sprecher seinerzeit die Meldung vom Tod Wurches mitgeteilt worden ist, wird zum Ausgangpunkt einer belastenden Erinnerung:

„Und aus jeder Nacht hebt sich dunkel und bedrückend vor den überwachen Sinnen die eine verschollene Nacht, die Nacht von Zajle … Der Summer im Feldtelephon klöhnt. Die stille Fläche des Simno-Sees schimmert auf.“ (100)

Der Schauplatz der Todesmitteilung, Zajle, und der Ort der Bestattung beim Simno-See gewinnen im Bewusstsein „Flexens“ also neuerlich Präsenz, wobei nicht mehr klar entschieden werden kann, ob die Erfahrung dem erzählenden oder dem erzählten „Flex“ zuzuordnen ist.

„Jede Nacht erlebe ich dein Sterben. Freund! Du und ich, wir beide in einem brennenden Hause, die Habe unseres Volkes zu retten, durch dünne Wände geschieden, du und ich. Und du, mein Freund, verbrennst in der Kammer neben mir, und ich darf dir nicht helfen …. Ich sitze zusammengeduckt und hadere. Und fühle doch deine Nähe. Du bist bei mir und schwichtigst. Ich höre deine gute, junge Stimme.
,Leutnantsdienst tun heißt seinen Leuten vorleben, das Vorsterben ist dann wohl einmal ein Teil davon.‘ Ich hebe die Augen und suche. Gestalt und Stimme verwehen. Ich schlage den Mantelkragen hoch und trete ins Freie.“ (100-101)

„Alle Nächte sind eine Totenklage“ (101, 101, 103) – mit dieser auf den letzten Seiten des Buches notorisch wiederholten Formel fasst der Sprecher das Trauma, ohne es dadurch aber zu überwinden.

Archivierungen: Das Bild zum Gedächtnis

Die vollzogenen Riten sind gleichwohl nicht völlig wirkungslos geblieben. Zwar haben sie das Trauma des erzählten „Leutnant Flex“ nicht aufzuheben vermocht, doch haben sie dem erzählenden einen therapeutisch zweckmäßigen Weg gewiesen. Den entscheidenden Wegweiser bildet dabei das unmittelbar nach der Bestattung Wurches von einem Kriegsfreiwilligen auf Geheiß Flexens für die hinterbliebenen Eltern angefertigte „Bild des Grabes“ (87). Fernab der Heimat, im Baltikum wird Wurche mit, wie gesehen, ungewöhnlich großem Aufwand bestattet. Grab und Begräbniszeremonie bleiben aber nicht allein auf die anwesenden Hinterbliebenen und wichtiger noch auf den Verblichenen bezogen, die errichtete Gedenkstätte wird durch den Zeichner vielmehr archiviert und vermittelbar gemacht, der Ritus folglich auf seine Kommunizierbarkeit hin gespannt. Damit aber zeichnet sich eine strukturelle Übereinstimmung ab zwischen der erzählten Bestattung und der im Erzählen sich vollziehenden Gedächtnisarbeit des Textes: „Das Bild des Grabes, das der Kriegsfreiwillige gezeichnet“ hatte, ist „für die Eltern“ gedacht, die Erzählung der Bestattung, dagegen – folgt man dem Paratext des Buches – für den Leser und das kulturelle Gedächtnis. Der Paratext ist allerdings nicht allein auf die Schilderung der Bestattung bezogen, sondern dem gesamten Text vorangestellt, so dass „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ als Text ebenfalls zwei Funktionen ausübt, eine, die auf den Verblichenen, und eine, die auf die gleichsam hinterbliebenen Leser bezogen ist. „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ bestimmt sich daher selbst als Grabmal, das dem gefallenen Wurche zu Ehren und zum Gedächtnis errichtet werden soll, nicht als Erinnerungs- und Gedenkort in der unzugänglichen Ferne, sondern als imaginärer Gedächtnisort[16] in der Materialität des literarischen Textes. Nicht mehr nur der Trauer- und Gedächtnisarbeit des erzählten „Leutnant Flex“, sondern zudem auch derjenigen des erzählenden muss daher die Aufmerksamkeit gelten. Die nächste Frage lautet daher: Was leistet diese Arbeit für den Toten, was für den Leser?

Trauerarbeit, poetisch oder: der Text zum Gedächtnis

Wie also ist es um den Leser bestellt? Welche Rolle weist ihm der Text, wennzwar nicht am offenen Grabe Wurches, so doch eingedenk seines Todes zu? In diesem Horizont gewinnt der Paratext weiter an Bedeutung, der das Buch „dem Gedächtnis“ Ernst Wurches widmet. Man hat es demnach mit einem literarischen Text zu tun, der ganz im Zeichen der Bestattung und Trauerarbeit steht, von der er erzählt. Dort, bei der Bestattung Wurches, ist es ein Kreuz, ein christliches Erinnerungszeichen, auf dem fast dasselbe zu lesen steht: „Leutnant Wurche. I.R. 138. Gefallen für das Vaterland. 23.8.1915“ (86).

Strukturell wird der Paratext damit der Inschrift parallelisiert, die das Kreuz trägt, das auf Wurches Grab errichtet ist. Und strukturell wird damit auch die Erzählung aufgenommen in die Reihe der rituellen Handlungen, der Ansprache, der Fürbitte und der an die Eltern Wurches verschickten Meldekarten. Ungeklärt ist dann allerdings noch, weshalb nun ausgerechnet diese Praxis aus dem Trauma lösen sollte. Die Pointe des Textes besteht nun darin, dass das entscheidende Therapeutikum, das die Aufhebung des Traumas zu bewerkstelligen vermag, von den imaginierten Weltanschauungs-Repliken des imaginierten toten Freundes geliefert wird:

„,So laß sehen, ob ich nicht lebendiger bin als du! Sieh’, ich trete an die Fenster und lege die Hand auf das Eis. Es taut mir unter den Händen. Der erste Sonnenstrahl bricht hell herein. Ich hauche lächelnd über das kalte, blinde Eis – sieh’, wie es hinwegtaut! Wälder, Städte und Seen schauen herein, um die wir gewandert sind, liebe Gesichter schauen von draußen herein. Willst Du ihnen nicht rufen? Sind wir nicht immerdar Wanderer zwischen beiden Welten gewesen, Gesell? Waren wir nicht Freunde, weil dies unser Wesen war? Was hängst Du nun so schwer an der schönen Erde, seit sie mein Grab ist, und trägst an ihr wie an einer Last und Fessel? Du mußt hier wie dort daheim sein, oder du bist es nirgends ….‘ Der Tag ist mächtig geworden, und mein Herz will hell werden und gläubig. Alle Nächte sind eine Totenklage. In grauem Mantel lehne ich an der verschneiten Brustwehr und sehe auf zu den bleichen Sternen der Winteröde. Und mein Herz hadert. […] Der Freund ist neben mich getreten, still, ich weiß nicht woher, und ich frage nicht. Sein Arm liegt in meinem wie in den Waldgräben vor Augustow. […]
Ich schweige. Aber mein Herz hadert weiter. Und er läßt seinen Arm nicht aus meinem und hört nicht auf zu schwichtigen, leise, voll guten, geruhigen Eifers. ,Totenklage ist ein arger Totendienst, Gesell! Wollt ihr Eure Toten zu Gespenstern machen oder wollt ihr uns Heimrecht geben? Es gibt kein Drittes für Herzen, in die Gottes Hand geschlagen. Macht uns nicht zu Gespenstern, gebt uns Heimrecht! Wir möchten gern zu jeder Stunde in euren Kreis treten dürfen, ohne euer Lachen zu zerstören. Macht uns nicht ganz zu greisenhaft ernsten Schatten, laßt uns den feuchten Duft der Heiterkeit, der als Glanz und Schimmer über unsrer Jugend lag! Gebt euren Toten Heimrecht, ihr Lebendigen, daß wir unter euch wohnen und weilen dürfen in dunklen und hellen Stunden. Weint uns nicht nach, daß jeder Freund sich scheuen muß, von uns zu reden! Macht, daß die Freunde ein Herz fassen, von uns zu plaudern und zu lachen! Gebt uns Heimrecht, wie wir’s im Leben genossen haben!‘
Ich schweige noch immer, aber ich fühle mein Herz ganz in seinen guten Händen. Und seine liebe Stimme schwingt und schwichtigt weiter. ,Wie wundgeschlagene Bäume süße und herbe Säfte ausströmen, so die Herzen der Dichter süße und herbe Lieder. Gott hat in dein Herz geschlagen. Singe Dichter!‘“ (102-104)

Und endlich springt, angezeigt wird es im um 1900 freilich anachronistischen Paradigma der Sympathie-Lehre,[17] der Funke über: „Mein Freund, mein Freund, meine Seele klingt von der deinen wieder, wie eine Glocke, die im wogenden Klange der Schwesterglocke mitschwingt!“ (104). „Gott hat in dein Herz geschlagen“ – Dieser Passus formuliert, metaphorisch gebrochen, die Theodizee-Problematik, und zwar als Frage nach dem mutmaßlich in Gott verbürgten Sinn des Sterbens. Der imaginierte Wurche antwortet darauf aber nicht, wie man es von einem Theologen erwarten könnte, mit dem Hinweis auf den (dem Menschen uneinsehbaren) göttlichen Heilsplan, sondern als Wandervogel, Krieg und Leiden naturalisierend, mit einem der Botanik entlehnten Bild: Auf zugefügte Verletzungen, auf zugefügtes Leid reagierten Bäume mit der Ausschüttung süßer und herber Säfte. Auf den Tod des Freundes, auf das dem Sprecher zugefügte Leid, möge er wie das Vorbild der Natur antworten und süße und herbe Lieder, weiter gefasst: süße und herbe Texte ausströmen. Dieses Ausströmen ist zweierlei in einem: es ist sinnlicher Ausdruck der Verwundung und verschließt zugleich die Wunde.[18]

Das Hervorbringen von Dichtung ist damit als Therapeutikum bestimmt, wenn es Totenklage, wenn es natürlicher Ausdruck der Verletzung ist und damit zugleich die Wunde zu verschließen beginnt. Wenn man diese Bestimmung der Dichtkunst auf das durch den Paratext begründete Gedächtnis-Projekt bezieht, so erscheinen nicht nur die vom erzählten „Flex“ so häufig eingestreuten Verse als „süße und herbe Lieder“, sondern auch der vom erzählenden „Flex“ dargebotene „Wanderer zwischen beiden Welten“ selbst, und so gewinnt auch das Gneisenausche Diktum seinen präzisen Sinn: Dass die „Sicherheit der Throne“ „auf Poesie […] gegründet“ (o.P.) ist, wird immer dann der Fall sein, wenn es ihr zu vermeiden gelingt, dass der im Krieg erlittene Tod des einzelnen als „sinnlos“ (81) wahrgenommen wird. In der nationalpatriotischen Perspektive gilt es also nach Maßgabe des „Wanderer“-Textes, den Tod jedes einzelnen – und sei es mit den Mitteln der Poesie – als Opfer, als unverzichtbaren Dienst an einem politischen Allgemeinen darzustellen. In dieser Zuspitzung erscheint der Krieg dann (darin besteht die reaktionäre Implikation des „Wanderers“) freilich nicht mehr länger als „sinnlos“ (81), und es wird verständlich, weshalb seine Schilderung so absonderlich verklärende, auf Wandervogelästhetik und Naturidyllen zurückgreifende Formen anzunehmen scheint. Nicht so sehr eine und schon gar nicht eine an den grauenvollen Tatsachen orientierte Darstellung des Krieges soll hier gegeben werden (die ‚Darstellung’ des Krieges ist nur Nebenprodukt), sondern vor allem ein Bild des verlorenen Freundes. Ein Bild, das das Traumatische dieser Verlusterfahrung zu therapieren – poetisch zu therapieren – und der Mitwirkung am Krieg wieder einen „Sinn“ zu verleihen bestimmt ist. „Singe Dichter!“ heißt das nationalpatriotische Therapeutikum, das Walter Flex mit dem „Wanderer zwischen beiden Welten“ sich selbst und seinen Zeitgenossen an der Front verschrieben hat. Und ‚gesungen’ haben, wie die enorme poetische Produktivität der Zeitgenossen während des Weltkrieges zu erkennen gibt, viele.[19]

Anmerkungen:

[1] Vgl. Hans Wagener: Wandervogel und Flammenengel. Walter Flex: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis (1916). In: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. v. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterdam, New York 2003, S. 17-30, hier S. 17.

[2] Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis von Walter Flex. München 1917. Nachweise stehen im Text in Klammern. In Anführungszeichen geführte Namen dienen zur Unterscheidung von empirischen und fiktionalen Personen.

[3] K. Eckhard Kuhn-Osius: Ein konservatives Bild des Ersten Weltkriegs. Walter Flex‘ ,Der Wanderer zwischen beiden Welten‘. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 5 (1987), S. 189-215, hier S. 200.

[4] Vgl. hierzu bereits Irmela von der Lühe: Der Wanderer zwischen beiden Welten von Walter Flex. In: Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen der Kriegen. Hg. v. Marianne Weil. Berlin 1986, S. 107‑125, hier S. 119‑120.

[5] Gneisenaus Denkschrift, die vom König angebrachten Marginalien und Gneisenaus Repliken darauf sind dokumentiert in: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau von G. H. Pertz. Zweiter Band. 1810 bis 1813. (Mit einem Steindruck.) Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1865. S. 137.

[6] Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau von G. H. Pertz. Zweiter Band. 1810 bis 1813. (Mit einem Steindruck.) Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1865. S. 137-138.

[7] Zur semantischen Konterdetermination des Metaphorischen vgl. Harald Weinrich: Semantik der Metapher. In: Folia linguistica 1 (1967), S. 3-17.

[8] Walter Flex: Zwei Bismarcks unter schwedischen Fahnen. In: Walter Flex: Zwölf Bismarcks. In: Walter Flex. Gesammelte Werke. Zweiter Band. München o.J., S. 7-218, hier S. 45-66, besonders S. 65-66.

[9] Bezugspunkt ist Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg.

[10] Vgl. hierzu umfassend: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hg. v. Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, und mit Bezug auf Flex: Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger. Würzburg 2006, S. 156-183.

[11] Wagener (Anm. 1), S. 22.

[12] Abbildungen der genannten Gemälde, Graphiken und Photographien finden sich in: Die Lebensreform (Anm. 10), Bd. 2, S. 212 (Bürck), S. 135 (Fahrenkrog), S. 382 (Beckmann), S. 385 (von Hofmann), S. 383 (Hofer), S. 192 (Ehlers), S. 191 (Finger), S. 235 (Landenberger).

[13] Vgl. Heliotropismus. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Aufl., Bd. 9., Leipzig und Wien 1905, S. 145.

[14] Von Beginn an wird Wurche mit der Sonne in Verbindung gebracht. Es ist, um nur die prägnantesten Beispiele aufzuführen, „die Sonne“, die „durch den feinen Kalkstaub [spielte], den seine […] Füße aufrührten“ (7), die „Maisonne“, mit der „seine […] Augen“ (17) spielen, es ist „die Sonne“, die „die ewigen Worte […] in ihn hinein[…]strömte“ (24) und es ist „die Sonne“, die „schimmernd durch seine leichtgebreiteten Hände“ (49) geht. Ständig strahlt sie über Wurche (vgl. ferner 5, 6, 15, 21, 22, 23, 46, 47, 51, 58, 62). Nach seinem Tod dagegen bestimmen „grauer Nebel“ (89), „Halbdunkel“ (91), „schneidende Ostwinde“ und „graue[s] Eis“ (97), „Schnee und Regen“ (99) und eine „blasse Helle“, die „aus dem Wolkendunkel“ (101) sickert, das Bild.

[15] Jeremias 30,11.

[16] Vgl. hierzu Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte. In: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Übers. v. Wolfgang Kaiser. Berlin 1990, S. 11-33.

[17] Vgl. hierzu Kurt Walter: Glockenkunde. Regensburg 1913, S. 553.

[18] „Wird im Splinte durch irgend eine Ursache eine Holzpartie der trockenen Luft exponirt, durch irgend eine Verletzung, so sterben die Parenchymzellen des Holzes auf einem Umkreise ab, die Wandung verliert ihr Sättigungswasser, der Turgor der Gewebe wird aufgehoben, während von dem umliegenden, lebend und turgescent gebliebenen Splinte das Harz mit großer Kraft nach der widerstandsfreien Partie hinzugepreßt wird; so sammelt sich Harz, nicht durch das Gesetz der Schwere hinzuströmend, sondern getrieben durch die Turgescenz der umliegenden Gewebe, im vertrocknenden Holztheile an, am reichlichsten unterhalb und oberhalb der Wunde, weil dort aus vertikalen und horizontalen Gängen Harz hinzugepreßt werden kann, weniger reichlich dagegen seitlich von der Holzwunde, da dort nur aus den horizontalen und zufällig mit diesen korrespondirenden vertikalen Gängen Harz zugeführt wird. Dabei .strömt das Harz, vom Turgor getrieben, so lange herbei, bis durch Thüllenbildung an der Grenze des lebenden und vertrocknenden Holzes die Harzkanäle geschlossen und durch das erhärtende Harz der Gegendruck gegen die Turgorspannung wieder hergestellt wird.“ Das Harz der Nadelhölzer, seine Entstehung, Vertheilung, Bedeutung und Gewinnung. Für Forstmänner, Botaniker und Techniker bearbeitet von Dr. Heinrich Mayr, ord. Professor an der kgl. Universität München. Berlin 1894, S. 67.

[19] Dass die Kriegserfahrung mit einer immensen literarischen Produktivität einher geht, referiert Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 768-772.