Die Idealstadt als Spielbrett

Andreas Tönnesmann porträtiert Monopoly: „Das Spiel, die Stadt und das Glück“

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Monopoly ein Buch zu schreiben, über diesen ins Quadrat gebannten, im häuslichen Wohnzimmer ausgespielten und weltweit exportierten Wunschtraum monetärer Allmächtigkeit– schon die Idee verdient einen Orden. Und wenn dann noch Intelligenz und Eleganz gemeinsam auf Spurensuche gehen… Sicher, man könnte Andreas Tönnesmanns Buch über „Das Spiel, die Stadt und das Glück“ auf seine eingängigen Eingangs-Leitthesen herunterbrechen, und schon schaute es aus wie eine sicher clevere, in ihrer Beweisführung aber erwartbare, kultur-akademische Abhandlung: Dass das Spiel um die Monopolisierung des Grundbesitzes, das da am 31. Dezember 1933 in Germantown, Pennsylvania, das Licht der Welt erblickt, ein Zwitter jener zwittrigen Zeit ist, die in Amerika zwischen der Great Depression von 1929 und Roosevelts New Deal 1935 liegt; dass sich das Spiel in seiner Schere von ökonomischen Zusammenbruchserfahrungen und frisch aufsprießenden Akkumulationshoffnungen global als wunderbar exportierbar erweist und kulturassimilativ bestens funktioniert; und dass das Spiel, eben weil Spiel, die hypertrophen Monopolisierungs- und Konkurrenzwünsche, die es durchspielt, zugleich auslebt und entschärft.

Aber damit würde man den Surprisen dieses kleinen fabulösen Werkes keineswegs gerecht. Denn um den eigentlichen Verständnishorizont abzustecken, in dem Monopoly gedeiht, und um das Spiel aus dem Klischee finanzkapitalistischer Selbstaffirmation zu befreien, das ihm bis heute anhängt, entwickelt Tönnesmann einen Gedanken, der so wohl nur einem echten Architekturhistoriker mit dem Hang zum geistigen Freigang zufallen konnte. Denn wie anders lässt es sich erklären, dass Tönnesmann in dem quadratischen Spielfeld mit seinen Straßen, Bahnhöfen und Versorgungswerken einen stark formalisierten Stadtplan erkennt, den der Spieler entweder als unglücklicher Flaneur oder als überglücklicher Spekulant begeht, erkauft, bebaut oder verkauft, ruiniert, verlässt? Wie anders lässt sich erklären, dass Tönnesmann in diesem Stadtplan dank jener visuellen Ähnlichkeitskraft, die nur sehr gute Architekturhistoriker auszeichnet, sich an Filaretes „Sforzinda“-Fantasie, an Albrecht Dürers späten, von Heinrich Schickhardt in Freudenstadt realisierten Stadtentwurf oder an Johann Valentin Andreaes „Christianopolis“ Grundriss mit seiner markant-quadratischen Festungsanlage erinnert fühlt? Und dass er dank dieser augenblicks evidenten Analogien gleich die ganze Geschichte frühutopischer Stadtentwürfe in das unscheinbare Erscheinungsbild seines späten Spiel-Echos einklingen lassen kann: Thomas Morus, Francis Bacon, Tommaso Campanella – all die Rundumplaner also, die es nicht lassen mochten, zu ihren zwischen Autorität und Kommunität schwankenden Gesellschaftsentwürfen gleich die Idealstädte mit hinzuzudenken, ohne die ein ideales Gemeinwesen nicht auskommen kann. So lauert, folgt man Tönnesmann, in dem ludischen Glanzstück Monopoly nichts Geringeres als der Wunsch nach der Idealstadt, in der sich zu tummeln eine wahre Freude sein soll.

Sicher, mit ein wenig Abstand mag man etwas verwundert zurückschauen, worauf man sich denn da eingelassen und wozu man kopfnickend zugestimmt hat. Und man mag sich plötzlich fragen, wie es geschehen konnte, dass ein Spiel, dass es auf die rundum ruiniöse Alleinherrschaft eines ganz einzig Einzigen abgesehen hat, sich endlich aus frühutopischen Konzepten herleiten soll, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Alleinbesitz grundsätzlich abzuschaffen. Man mag das bemäkeln; oder man mag, wie ich, die paranoisch-kritische Kraft des Argumentationsgangs bewundern, die die Details zu einer so hübschen Falschaussage verführt. Denn hin und wieder müssen auch die strengen Gerichte der Wissenschaft zwecks geistiger Bewegungsfreiheit lustvoll hinters eigene Licht geführt werden. Und überhaupt geht es in dem kleinen blauen, übrigens makellos ausgestatteten Buch ja doch um etwas ganz anderes.

Es geht nämlich um etwas viel Schöneres als um eine kulturwissenschaftliche Abhandlung; es geht um: die Biografie eines Spiels. Es geht um die Urgeschlechter dieses Spiel (Schach und Mühle als Adam und Eva), es geht um die direkten Erzeuger: um „The Landlords Game“ und um das „Atlantic City Game“, deren DNS mit dem von Monopoly bis zur fast Ununterscheidbarkeit identisch sind. Es geht um die Jugend des Spiels, das in Amerika behütet aufwächst und viel atlantischen Geist und Seeluft atmen darf und im Traum von grünen Alleen und beschatteten Villengrundstücken abends glücklich die Augen schließt. Es geht auch um die vielen vielen Geschwister, die mit Monopoly heranwachsen und die, wie im Märchen, in die Welt ziehen, um andernorts und selbst im tiefsten Unglück ihr Glück zu suchen.

Zu den erstaunlichsten, befremdlichsten und unglaublichsten Varianten, die Tönnesmann hier auf- und ausgräbt, gehört sicher jenes „Ghetto“ genannte Monopoly-Spiel, das jüdische Arbeiter in den Werkstätten Therienstadts für ihre Kinder herstellten, um es aber, statt mit Park- und Schloßstraße, mit den Karten „Entwesung“ oder „Zentralbad“ auszustatten. Es geht natürlich auch um die Kindeskinder dieses Spiels, um die aufbegehrenden und frechen Anti-Monopolis und provopolis der Vietnam-Generation. Und irgendwann dann will so ein aufwachsendes Spiel auch einmal etwas über sich selbst lernen, Vorbilder finden und Vorgänger anstaunen; dann sucht es eine Bibliothek auf und Archive und entdeckt Werke entfernter Verwandter wie Rossellinos toskanische Idealstadt Pienza, wie die Konzepte der Gartenstadtbewegung oder das Broadacre City-Projekt Frank Lloyd Wrights; Werke, in denen es sich wiederzuerkennen meint – so, wie die Romanfiguren der Frühromantik in entlegensten Bergwerken auf entlegenste Folianten stoßen, in deren Illustrationen sie verwundert ihr eigenes Konterfei wiederfinden. Mit denselben Traumeffekten operiert auch Tönnesmanns Monopoly-Biografie. Wen interessiert da schon, ganz ehrlich, die Wahrheit, die ewig nackte?

Denn jede Biografie ist nicht in sich selbst „interessant“, sondern nur dank der Verkettungseffekte, die ihre Lebensweg-Rekonstruktion auslöst. Ihnen nachzugehen, ist Tönnesmanns schönste Tätigkeit; hier ist alles meisterhaft. So flicht er in kleinsten Digressionen Aufhellungen ein etwa zur Geschichte und zum Beruf der Heizungsbauer und Installateure, stammte doch auch Charles D. Darrow, den Monopoly sich als seinen Erfinder erkor, aus dem Gewerbe der Hähneschrauber und Rohrverleger; oder zur „Single Tax Theory“ von Henry George, zu deren Auswirkungen auf Elizabeth Magie Phillips, die „The Landlords Game“ das Licht der Welt schenken durfte, und zur Künstlerkolonie Arden, die gänzlich den georgistischen Prinzipien der unbesitzbaren Erde frönt. Ganz nebenher und spielerisch werden wir auch unterrichtet über die Geschichte des Plagiats, weil das Kind Monopoly seinen Eltern denn doch zu ähnlich sieht, und über die Möglichkeiten philologischer Textkritik, mit der den gewundenen Vererbungswegen des Spiels auf die Spur zu kommen ist und immer so fort.

Am allerbesten aber gefällt mir die interpretative Akribie und Fantasie, mit der alle Funktionselemente des Spiels selber zum Sprechen gebracht werden – denn Sprechenkönnen muss auch Monopoly, wenn es sich in der Welt der Spiele verständlich machen will. Wie raffiniert, das Blassgrün der frühesten Fassung als die Farbe des Territoriums auszulegen, auf dem die Straßen und zukünftigen Häuser und Hotels zu stehen kommen sollen; wie aufmerksam, das Fehlen von politischen, religiösen, verwaltungstechnischen und kulturrepräsentativen Gebäuden auszuinterpretieren und doch ihre Reflexe in den Ereigniskarten wiederzuerkennen; wie elegant, die Unterschiede der kleinen Lokomotiven-Embleme oder der unterschiedlichen Häusertypen durchzubuchstabieren, die die Monopolybox in den unterschiedlichen Ländern zieren, und sie zur je eigenen Technikgeschichte und zum architektonisch-nationalen Selbstbild in Beziehung zu setzen; wie dicht am Spiel (am Text), wenn ersichtlich wird, wie in der italienischen Ausgabe um 1940 das ökonomische Kraftzentrum Mailand, nicht die Welthauptstadt Rom dem Stadtplan Pate steht, wie der Faschismus in die Straßennamen einsickert und, spezifisch italienisch eben, der Futurismus in die Verkehrsplanung.

Welch schöner Fund, den ursprünglich aus kleinen Nickelobjekten bestehenden Spielfiguren ihre Herkunft aus amerikanischen Backmischungen zurückzugeben und also ihre Funktion, als fortune telling sets auf die quadratische Reise zu gehen. Und wer es schafft, ganz ungezwungen Wortfolgen zu bilden wie etwa die von der: „singulären Flächenorganisation des Spielbretts“, der hat bei mir ohnehin schon gewonnen. Vielleicht und bisweilen, das die wenige Kritik, die anzubringen wäre, wird der Wunsch nach einer kulturwissenschaftlich gewendeten Wiederspiegelungstheorie etwas zu groß; bisweilen wird das Vertrauen in das Wissen des Lesers etwas zu klein und die Darstellung zu deskriptiv; und ganz bisweilen schlägt diese Kleinmut unnötig durch, etwa dann, wenn Architekten, Theoretikern, Schriftstellern und Künstlern wie Dürer, Whitman, Schiller oder Frank Lloyd Wright hinter ihren Namen noch ihre Geburtsdaten in Klammern beigesetzt werden; das ist peinlich und missachtet, dass es hier um Monopolys Biografie geht, nicht um die der großen Männer.

Ansonsten gibt es nur ein Resüme: Es braucht dringend einen allgemeinen Hochschulbeschluss, der jeden Intellektuellen (zumindest die universitär installierten Gewerbler) dazu zwingt, einmal in ihrem Leben die Biografie eines Dinges, eines Gegenstandes, eines Gerätes oder Instrumentes des alltäglichen Lebens zu schreiben. Wie unaufgeregt, wie geschmeidig, wie genau, wie liebevoll, wie wunderlich und beglückend paranoisch es dabei zugehen kann, wenn man einem ganz alten Bekannten ganz neu begegnet, das hat Andreas Tönnesmann berückend vorgemacht.

Titelbild

Andreas Tönnesmann: Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011.
141 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783803151810

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