Die privilegierte Knechtschaft

Mit dem Buch „Die Logokraten“ ist ein eindrucksvoller Überblick über George Steiners Denken erschienen

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der letzte Universalgelehrte“ – ein ziemliches Epitheton, das so ähnlich wie ein edles Exponat aus der Glasvitrine einer Wunderkammer anmutet. Es ist das üblich gewordene Etikett für einen der bedeutendsten Kulturphilosophen, Komparatisten und Literaturkritiker unserer Zeit: George Steiner. Seine Hingabe an das Geistige, seine „Fernsten-Liebe“, um mit Friedrich Nietzsche zu reden, ist die eines liebenswürdigen anachronistischen Schriftgelehrten, der in eine andere Welt verschlagen und auf der Suche nach seiner „Schrift“ ist.

George Steiner, geboren 1929, wuchs als Kind jüdisch-österreichischer Eltern mit drei Sprachen in Paris und New York auf. Seit frühester Kindheit las er europäische Literatur im Original. Die Verbundenheit mit drei Sprachräumen eröffnete ihm die Literatur des halben Kontinents und den Überblick über die alteuropäische Kultur. Ab 1961, nach Studien in Chicago, Harvard, Oxford und Princeton, lehrte George Steiner am Churchill College in Cambridge, ab 1974 dann bis zu seiner Emeritierung 1994 an der Universität Genf vergleichende Literaturwissenschaft. Britische oder amerikanische Leser auf deutsche Autoren (wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard) neugierig zu machen, war Steiner ein selbstverständliches Unternehmen als Literaturkritiker für „The New Yorker“, das „Times Literary Supplement“ oder „Encounter“. Mit seinem an Walter Benjamin geschulten kritischen Urteil hat er den Zeitgeschmack geformt, aber auch – nicht selten – provoziert.

2009 zu seinem 80. Geburtstag ist im Hanser-Verlag „Die Logokraten“, ein von alt-europäischem Geist durchwehter Band, erschienen. So konzentriert wie nirgends sonst findet man hier eine Summe von Steiners Denken und intellektuellen Leidenschaften. Auch in den hier versammelten Essays, Interviews und Erzählungen reflektiert Steiner über diejenigen Fragen und Themen, die sich als Leitmotive durch sein ganzes Leben und Werk ziehen: das Verhältnis von Mythos und Sprache, Walter Benjamin, die Sprachphilosophie Martin Heideggers, die Beziehung von Bestialität und Begabung, die Deutung des Judentums und der Shoa, die Zukunft Europas nach dem Holocaust, die Pathologien der Postmoderne, die Schlüsselrolle des Buches für unser Denken überhaupt, die Folgen des immer lauter werdenden Medienlärms, die selbstzerstörerische Hochkultur, der tief verankerte moralische Auftrag des Intellektuellen, und vieles mehr.

Der Kosmopolit Steiner hält nichts von der einschränkenden Fixiertheit im Denken und die partikularistischen Grenzen der Nationen hat er stets verlacht. Seine Gegner halten ihn für einen Generalisten, der sich verzettelt, in einem Zeitalter, in dem man es nicht mehr macht, in dem verantwortliches Wissen spezialisiertes Wissen sei. Konsequent hat der Professor ohne Grenzen die enge Spezialisierung abgelehnt und in seinem umfangreichen Werk nicht nur Sprache und Literatur, sondern auch Kunst, Musik, Philosophie, Religion und Mathematik behandelt.

Seit seiner beeindruckenden Monografie „Nach Babel“ weiß man, dass die Entstehung der Sprache für Steiner ein Phänomen ist, das sich nicht wissenschaftlich-evolutionstheoretisch herleiten lässt. Für ihn sind die Wörter keineswegs die willkürlichen Spielsteine Ferdinand de Saussures oder der postmodernen „Sinn-Zertrümmerer“ von Jacques Derrida bis Jacques Lacan. Dass es in dieser Welt so etwas wie Sprache und Sinn gibt, ist für ihn kein empirisches sondern ein transzendentes Faktum.

In seinem genetischen Modell der Sprache herrscht der Ton theologischer Lehre: In dem den Band eröffnenden und titelgebenden Essay „Die ,Logokraten‘: De Maistre, Heidegger und Boutang“ führt Steiner die Traditionslinie jener Seinsdenker fort, die fest am göttlichen Ursprung der Sprache festhalten, mit der fundamentalen Umkehrung eines Herrschaftsverhältnisses: „Der ,logokratische‘ Standpunkt ist erheblich seltener und fast per definitionem esoterisch. Er radikalisiert das Postulat des göttlichen Ursprungs, des Mysteriums des incipit in der Sprache des Menschen. Er geht von der Behauptung aus, der zufolge der logos dem Menschen vorangeht, während der ,Gebrauch‘, den er von seinen numinösen Kräften macht, immer in gewissem Maße eine Anmaßung ist. So gesehen ist der Mensch nicht der Herr der Sprache, sondern ihr Diener. Er ist nicht der Eigentümer des ,Hauses der Sprache‘, sondern ein unbehaglicher Gast, ja ein Eindringling. Die am stärksten aufgeladenen Ausdrucksformen, die der Poesie, des metaphysischen und religiösen Diskurses, gehen nicht aus der Beherrschung der Sprache hervor, sondern aus einer privilegierten Knechtschaft, aus der seltenen Fähigkeit, ,das zu vernehmen, was ihm die Sprache sagt‘, wie sie der Rhapsode, der Denker oder der Visionär besitzen.“

Im Kern seines ,logokratischen‘ Modells findet sich ein radikaler Kulturpessimismus. Die Logokraten seien keine Bestseller-Autoren der Konsumgesellschaft oder der populistischen Technokratie; infolgedessen erfordere eine ,logokratische‘ Auffassung der Sprache zwangsläufig „eine elitäre, ja priesterliche oder von Mandarinen getragene kulturelle Ordnung“. Die große Mehrheit der menschlichen Lebensläufe erfülle bloß das Geschwätz, das Gerede, denn die „große Kultur“ sei per definitionem antidemokratisch, sie schließe mehr aus, als sie einschließe.

Und dennoch hat Steiner in unendlichen Variationen auf die fatale Hilfslosigkeit der Hochkultur und auf die suspekt gewordene Tradition des Literaten hingewiesen. Das gilt auch für die hier versammelten Essays und Gespräche. Einmal betont er, man müsse an der Frage festhalten, warum die Humanwissenschaften bei der Humanisierung versagt haben: „Nichts hat uns auf unser Jahrhundert vorbereitet. Die erste Frage, die ich in all meinen Büchern und während meiner ganzen Lehrtätigkeit stellte, war ganz einfach: Warum diese humanistische Lehre (im weitesten Sinne des Wortes), warum hat die Vernunft der Wissenschaften uns keinerlei Schutz vor dem Inhumanen gewährt?“

Die komplexe Einheit der humanistischen Bildung ist für Steiner längst dahin, weil die Geisteswissenschaften rückwärtsgewandte „Virtuositäten der Dämmerung und Erinnerung“ sind, wie er in „Meine ungeschriebenen Bücher“ (2007) eingeräumt hat. Sie werden von Einzelnen betrieben, während die nach vorne blickenden theoretischen und praktischen Naturwissenschaften, die seit dem 19. Jahrhundert die Geisteswissenschaften in den Schatten gestellt haben, als Teamwork, folgenreich die menschliche Gesellschaft in allen Bereichen revolutioniert haben.

Im Essay „Von Walter Benjamin sprechen“ – ursprünglich ein Abendvortrag zum Auftakt der ersten Konferenz der International Walter Benjamin Association, die 1997 in Amsterdam tagte – bekommt der Leser die Antwort auf die Frage: Was muss man wissen, bevor man sich überhaupt mit Benjamin beschäftigen kann? Auf mindestens zwölf Gebieten sollte er sich auskennen – das jedenfalls meinten Gershom Scholem, Erforscher jüdischer Mystik, und George Steiner, als sie sich Anfang der 1970er-Jahre in der Schweiz trafen und in abendlichen Gesprächen Zugangsbedingungen für ein fiktives Benjamin-Seminar festlegten. (Am Ende des Ersten Weltkrieges und am selben Ort hatten die Freunde Benjamin und Sholem über eine Fantasie-Universität namens „Muri“ nachgedacht.) Die Kenntnisse, die sie voraussetzten, waren breit gestreut und richteten sich unter anderem auf Bereiche wie die deutsch-jüdischen Emanzipationsbestrebungen, die Jugendbewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die Entwicklung der deutschen Sprache seit Luther, auf Theologie und Übersetzungstheorien, auf Experimente mit Narkotika und auf den marxistisch-leninistischem Kommunismus. Dass eine solche Breite des Wissens nirgends gefunden werden kann, gestanden Scholem und Steiner zu.

Am zweiten Teil („Die Bücher brauchen uns“) kann man neben den gelehrten Untersuchungen auch Steiners engagierte Texte zur Bewahrung der Kultur des Buches und des Lesens bewundern. Nur die wenigsten können dem Einbruch des technischen Pandämoniums, der Tyrannei des Handyklingelns und der Kopfhörer entkommen. „Wir leiden auf planetarischer Ebene an einer Inflation der Wörter“, schrieb Steiner an einer anderen Stelle, „ [e]s wird enorm viel geredet. Zu Vorträgen, Konferenzen und über das Fernsehen übertragen Debatten kommt heute das gesamte Arsenal der neuesten Technologien hinzu: Internet und Mobilfunk in erster Reihe. Weil man von überall mit jedermann sprechen kann, tut man das auch… Die verbale Askese, die restaurierende Disziplin des Schweigens, der hygienische Rückzug aus dem inkontinenten Fluss des alltäglichen Geschwätzes könnte uns möglicherweise helfen, die ursprüngliche Frische des Ausdrucks, den wahren Wert eines jeden gesprochenen Wortes wiederzufinden.“

Die stille, konzentrierte, verantwortliche Lektüre sei zum spezialisierten, nahezu fachlichen Privileg des Hochschullehrers und des Forschers geworden. Aussagen wie die über „das Ende des Buches“ haben die Eigenart, dass sie sich einer prognostischen Rhetorik bedienen, in Wirklichkeit aber das Prognostizierte schon für eingetreten halten.

Zudem lehrt uns Steiner den Doppelmoment eines Buches: Es kann ebenso erheben wie erniedrigen, zur Tugend rufen oder zur Barbarei. Es kann auch als ein Vorspiel oder als Rechtfertigung von Gräueltaten benutzt werden: Totalitäre Systeme instrumentalisieren die unberechenbare, den Büchern innewohnende Macht für die Durchsetzung ihrer Ideologien.

In zwei Interviews „Die Kunst der Kritik“ (1994) und „Die sanfte Barbarei“ (2000) bekommt der Leser eine gute Vorstellung von seiner Freude am Denken, seiner Sprachkunst und ungeheuren Assoziationsdichte, seiner weitreichenden intellektuellen Leidenschaften in Verbindung mit einer furchterregenden Bildung. „Ich wäre froh, wenn man sich an mich als guten Lehrer des Lesens erinnert, und ich meine in einem zutiefst moralischen Sinne: Das Lesen sollte uns einer Vision verpflichten“, räsoniert er im Gespräch mit Ronald A. Sharp, „es sollte unsere Menschlichkeit aktivieren, sollte unsere Fähigkeit verringern, an Dingen vorbeizugehen.“

Wenngleich mancherorts in einem der Nachvollziehbarkeit nicht selten abträglichen Duktus gehalten, verschränken die Texte auch Biografisches. In seinen Betrachtungen über Geschichte und Literatur kann er ja sogar von mal zu mal persönlicher und intimer werden. 1934 – er ist fünf Jahre alt – holt ihn sein Vater ans Fenster und zeigt auf die vorbei marschierenden antisemitischen Gruppen: „Ich war natürlich fasziniert, das wäre jedes Kind. Und er sagt: ,Du darfst dich niemals fürchten. Das, was du das siehst, nennt man Geschichte.‘ Ich denke, dieser Satz hat vielleicht mein ganzes Leben geprägt. So habe ich mich immer dafür interessiert, aus dem Fenster zu sehen, was sich abspielt, wo auch immer.“ Das war der Geburtsaugenblick seiner Berufung als „Beobachtungskünstler“.

Ein weiterer Passus – nachzulesen in einem seiner Gespräche – offenbart Steiners kulturelle Obsession für Europa auf exemplarische Weise und erklärt seine Rückkehr aus den USA in einer Anekdote: Als sich in den 1960er-Jahren eine Professur für ihn in Cambridge nicht realisierte, bekam er zwei Berufungen an amerikanische Universitäten. Davon erzählte er seinem Vater, der in den USA lebte. Dieser reagierte mit großer Traurigkeit, aber ohne Vorwurf: „,Wie traurig, dass Hitler gewonnen hat.‘“ Nach einer Bedenkzeit lehnte er die amerikanischen Angebote ab, blieb in Europa und der europäischen Kultur verpflichtet.

Die ungewöhnliche Wirkung dieses Buches – es ist zugleich bedrückend und anregend – ist dem in starken Ambivalenzen verstrickten Denker, der Steiner ist, geschuldet. Es gibt zahlreiche Sätze in diesem Buch, die Kunst und Logik des Kommentars hochschätzen und an den Leser weitergeben, zugleich gibt es kühle und knappe, aber treffende Sätze, die ganze Regale von Sekundärliteratur überflüssig machen: „Man schlägt die Zeit tot, anstatt seine vier Wände zu nutzen. Das Lesen von Buchbesprechungen geht so viel schneller als das Lesen von Büchern.“

Bewundernswert sind einerseits sein zuweilen kryptischer, dennoch imponierender Gedankengang, seine intellektuelle Spannkraft und die literarische Brillanz – und sogar sein elitärer Persuasionsstil. Andererseits bedient sich Steiner auch zahlreicher grimmigen Pointen und einer bildhaften schonungslosen Sprache, die es auch dem Laien ermöglicht, dem Text zu folgen. Eins ist gewiss: Steiners Kultur-Texte bieten ein großes intellektuelles Vergnügen, gleich ob für Wiederentdecker oder Neu-Eingeweihte.

Titelbild

George Steiner: Die Logokraten.
Übersetzt aus dem Englischen und Französischen von Martin Pfeiffer.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
256 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446233225

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