„In der Verflechtung mit seinem Zeitalter wird Claudius’ Eigenart sichtbar“

Matthias Claudius in einer neuen Biografie von Annelen Kranefuss

Von Reinhard GörischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Görisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Matthias Claudius (1740-1815) ist heutzutage ein unbekannter Bekannter aus dem 18. Jahrhundert. Zwar erscheinen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder Werkausgaben (meist Auswahlen) und Lebensbilder (oft mit erbaulicher Tendenz), Abhandlungen und Essays widmen sich seinem Werk und seiner Wirkungsgeschichte – trotzdem kennt man üblicherweise seinen Namen allenfalls vom Hörensagen oder gar nicht, indessen ist sein „Abendlied“: „Der Mond ist aufgegangen“ immer noch unglaublich populär. Frühe Berühmtheit in ganz Deutschland erlangte Claudius als Redakteur der Zeitung „Der Wandsbecker Bote“ (1771-1775) vor allem wegen deren originellem Feuilleton-Teil. Den Titel der Zeitung wählte er dann zum Pseudonym für die acht Teile (sieben Bände) seiner „Sämtlichen Werke“, die er ab 1775 im mehrjährigen Turnus herausgab, denn zunehmend verstand er sich als Bote des christlichen Glaubens, bei dem aber auch die Lebensfreude thematisch nicht zu kurz kam.

In der biografischen Literatur wird neuerdings zuweilen dick aufgetragen: „XY. Die Biographie“, heißt es da. Annelen Kranefuss (bis 2000 Kulturredakteurin beim WDR) nennt ihr Buch über Matthias Claudius im Untertitel „Eine Biographie“ und signalisiert damit wohl, dass sie sich in einer langen biografischen Tradition zu diesem Autor stehend weiß und dass Lebensbeschreibungen verschieden akzentuiert sein können. Diese neue Claudius-Biografie will zeigen, „wie sehr seine Werke in der Welt und im Lebensgrund ihres Autors wurzeln“ und „wie intensiv dieser Autor im kritischen Austausch mit seiner Epoche stand“, dabei jedoch „eigensinnig und unbeirrt eigenständig“ blieb.

Diese Zielsetzung hat Kranefuss glänzend eingelöst. Durchgehend werden konkrete biografische Ereignisse und Umstände mit Claudius’ Persönlichkeitsstruktur, seinem Werk und seiner Zeitgenossenschaft verwoben. Immer wieder bindet die Autorin konzis erläuterte Einzeltexte von Claudius als biografisch relevante Äußerungen ein, ohne selbstzweckhaft ausufernd aus dem Werk zu zitieren (insoweit kann die Darstellung zu Recht nicht als Lesebuch-Ersatz dienen). Mit wenigen Strichen werden Charakterskizzen seiner Freunde und Kontrahenten entworfen und Verbindungslinien von Claudius’ Überzeugungen und Standpunkten zu zeitgenössischen Strömungen gezogen, in denen die Verfasserin sich gut auskennt. Nur die in biografischer Hinsicht nicht unerhebliche Themenbreite des Spätwerks, in den Werke-Teilen VII und VIII, bleibt eher unterrepräsentiert.

Stellvertretend für die vielfältigen Darstellungskomplexe seien die folgenden herausgestellt: Die Freimaurerei wird (biografisch bedingt in zwei weit auseinander liegenden Kapiteln) als prägender Einfluss auf Claudius geltend gemacht mit vielen interessanten Details, die in dieser Dichte bisher nicht nachzulesen waren; aufs Ganze gesehen ist sie jedoch in ihrer Tragweite für Claudius womöglich überbewertet. Abgewogen werden Einflüsse des französischen, von Claudius übersetzten Philosophen St. Martin ebenso wie Aspekte der Abgrenzung davon herausgearbeitet. Einleuchtend und nachdrücklich kritisch vermittelt Kranefuss, wie seit den 1790er-Jahren die politischen Ereignisse und die damit verbundenen Auseinandersetzungen, auch persönliche Angriffe, Claudius’ Ansichten radikalisiert haben – womit er teils sogar in Widerspruch zu eigenen früheren Positionen gerät – weil sein Welt- und Gesellschaftsbild statisch patriarchalisch-ständisch und dabei zutiefst religiös geprägt sei; ein „Denken in geschichtlichen oder sozialen Prozessen lag außerhalb seines Vorstellungshorizonts“.

Kranefuss’ Darstellung basiert auf (erneutem) gründlichem Studium vieler – auch neu entdeckter – Quellen und weiterführender Literatur. Dabei kann die Autorin etliche bisher unbekannte oder wenig beachtete Momente der Claudius-Biografie präsentieren, aber auch bereits Bekanntes vertiefen. So werden etwa die Umstände von Claudius’ missglücktem, nur ein Jahr währendem Beamtendasein in Darmstadt verdeutlicht, oder die Kuraufenthalte in Pyrmont, sonst meist nur episodisch gestreift, werden durch Lokalkolorit, Begegnungen und Unternehmungen zu einem lebensvollen Genrebild ausgestaltet. Insgesamt darf diese Claudius-Biografie als die am gründlichsten recherchierte seit Wolfgang Stammlers Lebensbild von 1915 gelten. Sie ist wissenschaftlich erarbeitet, jedoch allgemeinverständlich dargeboten und sprachlich flüssig und anschaulich formuliert. Dem heutigen Leser eventuell Fernliegendes wird erläutert oder mit aktuellen Verweisen verdeutlicht.

Das Buch ist in vierzehn Kapiteln biografisch-chronologisch aufgebaut, die einzelnen Kapitel sind durch Zwischenüberschriften untergliedert, die im Inhaltsverzeichnis fehlen, jedoch zur besseren Orientierung unbedingt dorthin gehört hätten. Zwanzig Schwarz-Weiß-Abbildungen sind sparsam, aber wohlüberlegt in den Text eingestreut. Die erste Lebenshälfte (bis zu Claudius’ Abschied von Darmstadt und Rückkehr nach Wandsbeck 1777), als die scheinbar ereignisreichere, in gewissem Sinn auch eingängigere, nimmt in der Darstellung mehr Umfang ein als die zweite, die doch biografisch gleich gewichtig ist. Der Anhang umfasst unter anderem eine Zeittafel, ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Personenregister sowie fast nur auf Zitatnachweise beschränkte Anmerkungen. Bei Zitaten und Ähnlichem meist aus Claudius’ Schriften und Briefen im Textkorpus selbst fehlen einige Belegstellen.

Mit ihrer 1973 publizierten, bis heute beachtenswerten und anregenden Dissertation über die Gedichte von Matthias Claudius hat Annelen Kranefuss seinerzeit eine neue Epoche wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit diesem Autor eingeleitet – mit ihrer nunmehr vorliegenden Biografie bietet sie ein so profundes wie differenziertes, der Gegenwart neu erschlossenes, richtungweisendes Porträt des Menschen und Schriftstellers Matthias Claudius, dessen Lektüre für alte und neue Sympathisanten des ‚Wandsbecker Boten‘ ein großer Gewinn ist.

Titelbild

Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Eine Biographie.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011.
320 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783455501902

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