Der Jude ist der wahre Feind

Raphael Gross demaskiert Carl Schmitts theologisch-politischen Antisemitismus

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eingehende Untersuchungen der Strukturen modernen Denkens haben den Blick verstärkt darauf gelenkt, die Geschichte des mitteleuropäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert als Phänomen eines Modernisierungsprozesses auszuweisen, der sich im wesentlichen im Spannungsverhältnis der Produktion von Identität und Destruktion von Alterität bewegt. Dem existentiellen Problem modernen Bewusstseins, nämlich dessen ständiger Bedrohung durch Entfremdung und Dezentrierung, begegnet das 'Projekt der Moderne' mit dem Versuch der Herstellung konsistenter Identitäten. Die Tatsache, dass modernes Denken Identität einerseits nur in Abgrenzung von einem Anderen vorzustellen vermag, andererseits aber gerade dieses Andere die Etablierung von Identitäten gefährdet, ja verhindert, bestimmt im wesentlichen die Logik der modernen Denkfigur, die sich als ständiges Oszillieren zwischen der Konstruktion und Destruktion von Andersheit manifestiert. Die Funktionalisierung der Juden als 'Andere' in einem Prozess der Identitätsstiftung legt es nahe, auch die 'Endlösung' der sogenannten 'Judenfrage' aus den gesellschaftlichen Alteritätskonzepten, also aus dem theoretischen und praktischen Umgang der Gesellschaft mit dem Anderen zu erklären, und unterstützt die These, dass Antisemitismus nicht einen Rückfall in die Barbarei bedeutet, sondern vielmehr aus der Identitätslogik der Moderne resultiert.

Die Grenzziehung zwischen 'innen' und 'außen' und die Positionierung und Klassifizierung des jeweils Zugehörigen bzw. Ausgegrenzten erzeugen gerade im rechtsintellektuellen Klima der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland die Vorstellung, das kulturelle und gesellschaftlich-politische Chaos der Weimarer Republik zu bändigen, und damit die Illusion, durch die Ausgrenzung des Anderen nicht nur Symmetrie zwischen den Paradigmata, sondern vor allem Eindeutigkeit und Identität innerhalb dieser herzustellen. Erst durch diese intrakulturelle Differenzierung und definitorische Fixierung erscheint der Andere als Prototyp der modernen Ambivalenz, wobei eine Semiotik des Anderen gleichzeitig auch immer die Semiotik der eigenen Kultur nach sich zieht. Auffallend ist das Faktum, dass die Radikalisierung des judenfeindlichen Diskurses, die Popularisierung der antisemitischen Rassentheorie und die Funktionalisierung der antisemitischen Argumentation in den Theorien deutscher Rechtsintellektueller in erster Linie mit der Herausbildung des modernen Nationalstaates verknüpft wurden. Abstraktheit, Unfassbarkeit, Universalität und Mobilität erscheinen in marxistischer Kritik als Phänomene, die aus den modernen Produktions- und Warenaustauschprozessen resultieren. In antisemitischer Modernekritik stehen diese Phänomene für die Moderne an sich, und sie erscheinen zudem als genuin jüdische Eigenschaften. 'Der' Jude wird somit zum Symbol der negativen Erscheinungen des Modernisierungsprozesses. Antisemitische und modernekritische Diskurse verlaufen über weite Strecken parallel und werden austauschbar, und in der Gleichsetzung von Signifikant und Signifikat findet das Unbehagen an den abstrakten Entfremdungsmechanismen der Moderne seine konkrete Bestimmung.

Raphael Gross rekonstruiert in seiner Untersuchung den historischen Kontext, in dem Carl Schmitts permanente Auseinandersetzung mit "den Juden" und "dem Jüdischen" stand, und wie sich diese Auseinandersetzung in antithetischen Strukturen kristallisierte: Freund und Feind, Nomos und Gesetz, Katechon und Antichrist. Schmitts Werke, die Gross einer kritischen Lektüre unterzieht, bieten einen Schnittpunkt theologisch-antijudaistischer Ideen und moderner politischer Antisemitismen, wodurch die "Transformation einer traditionellen religiösen Form in eine moderne atheistische Theologie" sichtbar werden soll. Mustergültig gelingt es Gross zu zeigen, dass die außergewöhnliche Wirkung von Carl Schmitts Schriften weder durch sein bereits vor 1933 evidentes antisemitisches noch durch sein nationalsozialistisches Engagement geschmälert worden ist. Weder die Organisation und Durchführung der Tagung des NS-Rechtswahrerbundes "Das Judentum in der Rechtswissenschaft" noch die heftigen antisemitischen Ausbrüche in seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 - 1951, die postum unter dem Titel "Glossarium" publiziert wurden, haben die Rezeption Schmitts im Nachkriegsdeutschland beeinträchtigt. Gerade im akademischen Milieu ist eine, wie Gross zurecht unterstreicht, "fast heilige Scheu" auszumachen, sich mit den konkreten antisemitischen Äußerungen und Handlungen der rechtsintellektuellen Elite Deutschlands von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit zu beschäftigen.

Diesem Desiderat hat sich Gross' Untersuchung verschrieben. Ihm gelingt es anschaulich zu zeigen, dass in Schmitts Auseinandersetzung mit "dem Jüdischen" biographische, historische und ideengeschichtliche Komponenten ineinander greifen. Jüdisches Denken beschäftigte Schmitt nicht nur während der Anfangsjahre des nationalsozialistischen Staates. Judenfeindliche Bemerkungen enthält schon das zum Teil anonym erschienene kulturpessimistische Frühwerk, wie Gross zurecht im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit unterstreicht, wo Schmitts frühe explizite und implizite Stellungnahmen zu "den Juden" und seine intellektuelle und gesellschaftliche Position im Nationalsozialismus untersucht werden. Daran anknüpfend sondieren drei ideengeschichtlich konzipierte Kapitel die Vorgeschichte dieses Engagements. Deutlich wird, dass hinter dem Kampf gegen den revolutionären Universalismus bei Schmitt die Versuche stehen, in ein spezielles Verhältnis zum Prozess der Säkularisierung zu treten und gleichzeitig seine jeweiligen Feinde (insbesondere Hans Kelsen und dessen "Reine Rechtslehre") einer damit zusammenhängenden 'partikularistischen' Zielsetzung zu überführen. Hinzu kommt im vierten Kapitel der Arbeit eine zwingend notwendige Analyse theologischer Metaphorik im Œuvre Carl Schmitts. Gross führt aus, dass die politische Semantik des deutschen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Konjunktion mit antijudaistisch-theologischen Motiven katholischer und protestantischer Provenienz tritt. "Das Jüdische" - von Schmitt als Archetypus des Alienen und des Feindes still gestellt, setzt sich dabei aus diversen Feindbildern zusammen: "Es inkorporiert erstens den anti-universalistischen Antisemitismus katholisch-atheistischer Prägung [...], zweitens den anti-partikularistischen Antisemitismus atheistischer Prägung [...]. Drittens schließt sich Schmitts Metapher des 'Jüdischen' an die weitverbreitete katholische Judenfeindschaft im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts an, die sich nicht gegen die jüdische Theologie oder Religion, sondern gegen die assimilierten Juden als Katalysatoren der Modernisierung richtet und entsprechend nicht antijudaistisch, sondern antisemitisch ist." In diesem Zusammenhang unterstreicht Gross, dass Schmitts Kampf gegen das Jüdische in erster Linie ein Kampf gegen Entsubstantialisierung und Entpolitisierung und für die Biologisierung des Politischen und eine "artgerechte", "deutsche" Rechtslehre ist.

"Der Jude ist ein Mensch, den die anderen als solchen betrachten", beschreibt Jean-Paul Sartre in seinen "Betrachtumgem zur Judenfrage" den Prozess, wie Juden im 19. und 20. Jahrhundert zu Objekten gemacht wurden. Als Fremden par excellence wird den Juden die Selbstdefinition verweigert. Jüdische Identität kann sich nicht aufgrund der Anerkennung durch gleichrangige Subjekte konstituieren, sondern entsteht ex negativo, aufgrund der Projektion eines vorgefertigten Bildes auf entindividualisierte Objekte: Es ist der Antisemit, der 'den' Juden schafft und ihn weniger als historisch-realen denn als metaphysischen Gegenspieler betrachtet. Der von Raphael Gross geöffnete "Casus Schmitt" zeigt das Ausmaß und die Intensität, mit der deutsche Rechtsintellektuelle vor, während, und vor allem auch nach dem Dritten Reich antijudaistisches und antisemitisches Denken übernommen und befördert haben. Zudem wird sichtbar, "wie sich der durch Leugnen, Verschweigen und Verfälschen geprägte Umgang mit diesen Denkern in den Jahren nach dem Ende des NS-Staates auf die politische und geistesgeschichtliche Entwicklung in Deutschland" ausgewirkt hat und noch immer auswirkt. Gross hat in seiner engagierten und präzisen Arbeit zudem die vielfältigen Leugnungs-, Relativierungs- und Selbststilisierungsstrategien Carl Schmitts (taktischer Rückzug ins Christentum, Zugehörigkeit zur sogenannten Konservativen Revolution und Opfer des nationalsozialistischen Regimes) in nüchterner und sachlicher Diktion demaskiert und dekonstruiert. Der zwischen den Zeilen an die Adresse der Schmitt-Apologeten hingeworfenen Interjektion "vae ignorantis!" ist eine breite Hörerschaft innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft zu wünschen.


Titelbild

Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
420 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518582852

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