Der Tod als Gevatter und guter Nachbar

Wer ihn zum Freund hat, dem kann’s nicht fehlen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Aus aktuellem Anlass stelle ich fest, dass der Tod ein ständiger Begleiter meines Lebens und damit auch dieser Glossen geworden ist. Es bietet sich an, über jenen nachzudenken, den wir oft so freundlich „Gevatter“ zu nennen belieben, vor allem dann, wenn wir an das berühmte Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm denken. Erinnern Sie sich?

Ein verzweifelter armer Mann sucht für sein dreizehntes Kind einen Paten, einen „Gevatter“. Den lieben Gott lehnt er ebenso ab – „Du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern“ – wie den Teufel – „Du betrügst und verführst die Menschen“ – und akzeptiert erst den Tod: „Du bist der rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattermann sein.“ Der Tod, also derjenige, „der alle gleich macht“, zeigt seinem Patenkind, dem Knaben, „als dieser zu Jahren gekommen war“, ein Kraut, womit er Kranke heilen darf, wenn er den Tod bei ihrem Kopf stehen sieht, nicht aber bei ihren Füßen. Bald ist der Arzt weltweit für seine Klarsichtigkeit berühmt und reich. Als erst der König, dann dessen Tochter – die dem Retter zur Frau versprochen ist – schwer erkranken, verfällt er auf den Trick, die beiden Patienten im Bett zu drehen – beide überleben auf diese Weise. Dennoch verschleppt der Gevatter Tod seinen Paten in eine Höhle, in der die Lebenslichter der Menschen brennen: „Siehst du“, spricht der Tod, „das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen.“

Als der Patensohn des Todes, der so erfolgreiche Arzt, sein eigenes sehen will, erkennt er, dass es soeben erlischt. Auf sein flehendes Bitten hin holt der Tod zum Schein eine neue Kerze, lässt jedoch dabei das Restchen umfallen, bevor die neue angezündet ist und der Arzt stirbt. Denn auch der Tod ist selbst machtlos: „Erst muß eins verlöschen, eh’ ein neues anbrennt.“

Ich lasse die Lichter jener Menschen vor meinem inneren Auge Revue passieren, die seit Beginn dieser Glossen verlöscht sind, und die ihre Spuren auch darin hinterlassen haben: der Freund Heinz Steinert, der am 20. März 2011 starb, und der jahrzehntelange Kinobegleiter Michael Althen, der am 12. Mai 2011 verschied. Am 16. Januar 2012 verunglückte der Kollege Willfried Spohn tödlich und am 23. Februar 2012 starb die kollegiale Freundin,  Anne Honer, nach drei Jahren des Dahindämmerns nach einer Hirnblutung aus einem Aneurysma.

Das Thema des Sterbens beschäftigte mich im Mai 2010, als ich über die neu geforderte Kultur der Trauer um die im militärischen Einsatz gefallenen Soldatinnen und Soldaten schrieb und im August 2010, als ich mich mit dem Thema der Patientenverfügung auseinandersetzte. Bereits in meiner ersten Glosse vom Juli 2009 bekannte ich, dass ich täglich in den Todesanzeigen die Ferne und Nähe der Jahrgänge zu meinem eigenen registriere: „Die Einschläge sind immer noch weit genug weg“, schrieb ich damals. Von den oben angeführten waren zwei jünger als ich selbst es geworden bin: Keiner weiß (zum Glück!), wie es um seine Kerze in der Höhle des Todes steht, wie lange sie noch brennen wird.

So weit, so simpel und so schwer zugleich: Schreiben wollte ich über dieses Thema, nachdem ich den einschlägigen Artikel las über die aktuelle Diskussion jener Pläne, in einem Wohnvorort südlich von Hamburg ein Hospiz des Deutschen Roten Kreuzes zu errichten.

Wie zu lesen ist, fürchten die Nachbarn dadurch mehr Verkehr, den Anblick von Leichenwagen und einen Wertverlust ihrer Immobilien, zwei Anwohner haben bereits einen Anwalt eingeschaltet. Das Deutsche Rote Kreuz will das benötigte Gelände der Kirchengemeinde Sinstorf abkaufen: 2,8 Millionen Euro soll das Projekt kosten. Fast 15 Jahre hat man nach einem geeignetem Standort gesucht, nun schien man ihn gefunden zu haben: ruhig gelegen, gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, für einen Umbau geeignet. Der sollte im zweiten Quartal 2012 beginnen, Ostern 2013 sollte die Eröffnung stattfinden. Geplant sind Zimmer für zwölf Patienten.

Die Kirchengemeinde befürwortet das Projekt: „Die Gemeindemitglieder müssen lernen, dass dieses Haus ein Ort des Lebens ist und kein Friedhof“, wird Pastorin Hella Lemke zitiert. Auch der zuständige Bezirksamtsleiter nennt das geplante Hospiz „eine gute Einrichtung“, und Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks äußert: „Eine solche hilfreiche Einrichtung fehlt bisher noch in Harburg“.

Doch einige der unmittelbaren Nachbarn sorgen sich, wie Zitate verdeutlichen: „Ich würde meinen Kindern gern den Anblick des Todes ersparen“, wird eine namenlose Mutter zitiert, „wenn ich morgens beim Frühstücken aus dem Fenster schaue, möchte ich nicht, dass mir die Wurst im Hals stecken bleibt.“

Die beiden Anwohner, die einen Anwalt engagiert haben, um ihren Vorbehalten Nachdruck zu verleihen, argumentieren weniger emotional: Zum einen fürchten sie mehr Lärm, mehr Verkehr und volle Parkplätze in der Straße, wo nur Schritttempo erlaubt ist. Außerdem fürchten die Nachbarn einen Wertverlust ihrer Häuser.

Noch hat bisher nur ein Briefwechsel und eine Informationsveranstaltung stattgefunden, erwogen werden Sträucher als „Sichtschutz“ beim Eingang für Kranken- und Leichenwagen, „damit Anwohner nicht in Leichenwagen mit offener Klappe schauen müssen“. Aber wie will man verhindern, dass das Hospiz die Stimmung in der Nachbarschaft drückt, wie sich einer der Nachbarn sorgte?

Trotz jahrzehntelanger Diskussionen auf vielen Ebenen scheint es noch immer so, als ob der Gevatter Tod als Nachbar höchst unerwünscht ist. Sterben und Tod bereiten den Menschen Angst, die sie am liebsten verdrängen möchten – wie alles, was mit Trauer, Dunkelheit und Endlichkeit zu tun hat. Der Harburger DRK-Kreisgeschäftsführer Harald Krüger brachte es auf den Punkt: „Ich kann verstehen, dass der Gedanke an ein Hospiz seltsam ist“, eine solche Einrichtung führe vor Augen, dass man selbst auch sterben müsse. Hospizpatienten wünschten sich gute letzte Lebenswochen: „Dazu gehört das Leben ums Hospiz, auch Kinderlachen, Musik von Nachbarn oder der Geruch einer Bratwurst vom Grillfest nebenan. Wir wollen gute Nachbarn sein.“

Wie sagte der Tod zum armen Mann: „Denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen.“ Machen wir uns den Tod zum Gevatter und Nachbarn und fragen ihn nicht täglich, wie hoch die Kerze noch ist. Trauern um die Lichter, die bereits verlöscht sind und Vorfreude auf die Lichter, die neu aufgestellt werden – das wird helfen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13303