Der ideologische Charakter der Psychoanalyse

Helmut Keller untersucht Sigmund Freuds Weltanschauung

Von Daniel LenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Lenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jahrzehnten ist das theoretische Rüstzeug nun schon im Umlauf, und einmal praktisch angewendet, hinterlässt es ein Fluidum, welches Menschen fesselt. Die Luft ist spürbar aufgeladen von der Freudschen Psychotechnik, und genau dies verurteilt Helmut Keller im Vorwort seiner Studie "Der ideologische Charakter der Psychoanalyse Freuds" als eine ungünstige Entwicklung. Die Psychoanalyse, so Keller, habe "über den therapeutischen Bereich hinaus - und dies vor allem auch über die Medien - einen ganz erheblichen und wie ich meine negativen Einfluß ausgeübt." Dem möchte Keller mit seiner Arbeit schlichtweg entgegenwirken.

Kellers primäre Zielsetzung ist es, der Freudschen Psychoanalyse die Paradoxien im Theoriebau nachzuweisen. Den Schwerpunkt legt er dabei auf die von Freud und seinen Jüngern postulierte Ideologie: nämlich die Ideologie der Ideologiefreiheit der eigenen Theorie und die Nutzung der eigenen Theorie als Arena, in der der Kampf gegen bestehende Ideologien ausgefochten werden soll. Keller gelingt der erwartete Nachweis, dass gerade dort, wo Freud am strengsten bemüht ist, seine universal angelegte Theorie von Ideologien freizuhalten - ein Ziel Freuds ist "eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne einer Umwertung aller Werte" -, sich der ideologische Kern der psychoanalytischen Zielvorgaben herausschält. Differenztheoretisch gesprochen, erscheinen Ideologiefreiheit, also Nicht-Ideologie, und die Umorientierung aller Werte, also Ideologie, als zwei Seiten derselben Medaille.

Was die Psychoanalyse in der heutigen Zeit aber so attraktiv macht - für ihre Klientel und ferner für diejenigen, die Freuds theoretisches Rüstzeug lediglich inventarisieren -, diese Frage wirft Keller nicht auf. Greift die Psychohygiene in Freudscher Manier nicht gerade deshalb so erfolgreich, weil sie in der psychoanalytischen Therapie den Patienten als ganze Person thematisiert, wohingegen die moderne Gesellschaft, wie Peter Fuchs schildert, eigentlich so angelegt ist, dass der Mensch an den unterschiedlichsten Chancen wie Erziehung und Bildung, Wirtschaft, Politik, Religion und vielem mehr partizipiert, er sozusagen in diesen Funktionsbezügen nur partiell von Interesse ist?

Es ist verwunderlich, dass Keller diese Fragestellung auslässt, will er doch seinem Anspruch gerecht werden: dem negativen Einfluss, den die Psychoanalyse gesellschaftlich errungen hat, gegenzusteuern. Kellers Argumentation ist jedoch grundsätzlich anders. Die Psychoanalyse suggeriert nicht nur, sondern ist eine Weltanschauung. Denn "die Umwertung aller Werte", die angestrebte Veränderung auf gesellschaftspolitischer Ebene, wird über "eine dialektische Entwertung der bewussten Ichpersönlichkeit und der Vernunft" erreicht. Hierzu stellt Keller das topographische Modell Freuds vor, sowohl das ursprüngliche Instanzenmodell "Bewusstsein, Vorbewusstsein und Unterbewusstsein" als auch dessen theoretische Erweiterung respektive Umstellung in der Trias von "Es, Ich, Über-Ich", um an letzterer die Diskriminierung der Ich-Instanz gegenüber der Es-Instanz zu illustrieren. Keller kritisiert an diesem Topos unter anderem die mangelnde Abgrenzung. Durchaus nachvollziehbar, denn die Beziehungen der Dreieinigkeit - der zwischen Es, Ich und Über-Ich - erscheinen reichlich verschachtelt, eher wie eine Gemengelage aus fluide angeordneten Seelentopoi.

An diesen Kritikpunkt schließt Keller einen weiteren an: das Fehlen erkenntnistheoretischer Reflexion. Keller referiert den aufklärerischen Impetus vom "sich selbst reflektierenden Subjekt", das, um Wissenschaft überhaupt betreiben zu können, vor den erkenntnistheoretischen Schranken Halt machen muss. Freud, schreibt Keller, komme zu Beschreibungen über das Ich, von denen unklar bleibe, "welche Instanz es eigentlich ist, die bestimmte Aussagen über das Ich trifft, die aber selbst nicht objektivierbar ist." Das Ich, so Keller, setze sich jedoch stets selbst voraus. Er sieht sich daher aufgefordert, die "grundsätzliche[n] erkenntnistheoretische[n] Mängel der Freudschen Psychoanalyse deutlich zu machen." Das Apriori der Aufklärung werde von Freud konsequent ignoriert, auch wenn Vertreter der Psychoanalyse bis heute unterstellen, "Freud stehe in der Tradition der Aufklärung, fühle sich ihr verpflichtet."

Kellers Programm, bei Freud Inkonsistenzen auf der Theorieebene zu entlarven, führt er bei dessen religions- und kulturkritischen Thesen weiter, deren mögliche Aktualisierung in psychoanalytischen Kreisen debattiert wird. Dabei antwortet er auf Freuds Herleitung einer Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft: Freud konstruiere zwischen Wissenschaft und Religion einen Gegensatz. Die Religion stehe der Wissenschaft im Wege. Keller bezieht eine konträre Position zu Freud, und das mündet fast in einem religiösen Glaubensbekenntnis: "Könnte es nicht vielmehr sein, dass die Identität der uns innewohnenden apriorischen Gesetzlichkeit des Geistes mit der Gesetzlichkeit der Gegenstände selbst, jene gleichsam prästabilisierte Harmonie zwischen unserem Denken und dem rational erfaßbaren Teil der Natur, die den Menschen immer wieder in Erstaunen setzt, den Naturforscher zu religiöser Ehrfurcht führt und auch dem kritisch eingestellten Naturforscher den Glauben an einen Sinngeber, der hinter diesem sinnvollen Sein steht, ermöglicht?" Keller rückt zu Anfang die grundlegende Inkommensurabilität von Religion und Wissenschaft in den Blickpunkt. Kellers spätere Antwort auf Freuds Auffassung, dass die Religion den "wissenschaftlichen Geist" behindere: Wissenschaftlichkeitsanspruch und Religiösität des Wissenschaftlers lassen sich durchaus vereinbaren.

Kellers Studie lässt sich problemlos im Kreis der Kritiker der Freudschen Theorie beheimaten, und die sind meist auch keine Freunde der Privatperson des Großmeisters. Wie viele dieser Freud-Kritiker differenziert auch Keller nicht zwischen den Werken Freuds und seiner Person. So ist es zweifelhaft, ob mit Freuds Korrespondenzen die eigenen Auslegungen seiner theoretischen Abhandlungen belegt werden können. Keller möchte jedoch den "intellektuell unredlichen Argumentationsstil" Freuds am Beispiel des Briefwechsels mit C. G. Jung, seinem erwünschten Thronfolger, unter Beweis stellen.

Es ist bekanntlich schwierig, die Fährte Freuds nicht zu verlieren, wenn man ihm auf die Spitze des Eisbergs folgen möchte: Seine Argumentation ist nicht nur außergewöhnlich komplex, sondern bietet auch einen großen Interpretationsspielraum. An welche seiner Äußerungen soll man wie anschließen? Wie unterschiedlich Freuds Thesen ausgelegt werden können, zeigt Keller an Freuds Credo "Wo Es war, soll Ich werden".

Auch wenn Keller seine Argumente in durchgehend langatmigen Schleifen aneinander reiht, die problemlos auf weniger als 240 Seiten Platz gefunden hätten: Man zollt ihm da stille Zustimmung, wo er Freuds Theorie seiner Manna- Eigenschaften entkleidet. Das berümte "dritte Ohr" scheint eine Art Seismograph zu sein, mittels dessen die neurotisch oder psychotisch organisierte Kritiker-Seele vom selbst analysierten Seelenspezialisten abgehorcht wird. Er beobachtet nicht nur von einem privilegierten Standort aus. Nein, er errechnet auch punktgenau die Seelenqualitäten, besitzt sozusagen die einzigartige Gabe, aus den Augen eines Anderen sehen zu können. Er sieht in unbewölkter Klarheit, was er unmöglich sehen kann, weil er keinen Zugriff auf das hat, was er zu sehen glaubt: die menschliche Psyche.

In Kellers Buch erscheint uns Freud als apodiktischer Seelenguru, wohingegen seine Erben kniefällige Mimesis zu betreiben scheinen. Kein Wunder, dass der Kellersche Imperativ, der Schrei nach einer "sich neu besinnenden Ethik" durch die psychologisierte Luft hallt.

Titelbild

Helmut Keller: Der ideologische Charakter der Psychoanalyse Freuds.
Shaker Verlag, Herzogenrath 1999.
236 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3826536347

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch