Raubdrucke in Russland

Der Versuch, eine internationale Berthold-Auerbach-Bibliografie für den Zeitraum 1830-1930 zu erstellen, erbringt neue literaturgeschichtliche Erkenntnisse

Von Ananda SchaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ananda Schader

Der amerikanische Verleger Bancroft brachte es 1867 gegenüber Berthold Auerbach gegenüber auf den Punkt: „Your works are being read all over the globe!“

Auerbach, Verfasser der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, eine Weltberühmtheit mit zahlreichen Übersetzungen und Veröffentlichungen in Europa und Übersee, ein geschätzter Korrespondenzpartner namhafter Persönlichkeiten der europäischen Literaturgeschichte im In- wie im Ausland (unter anderem von Lew N. Tolstoj, Iwan Turgenjew, Paul Heyse, Gottfried Keller und Theodor Storm) – sowie ein Autor, der mit seinem Werk bereits bald nach seinem Tode 1882 fast vollständig in Vergessenheit geriet?

Dass sich die Wahrnehmung des Œuvres des jüdischen Kaufmannssohns aus dem Württembergischen so sehr und so schnell ändern konnte wirft Fragen auf: Wie kam es zu einer derart wechselhaften Rezeption?

Auerbach muss sein plötzlicher und unverhoffter Ruhm selbst unheimlich gewesen zu sein. So notiert er anlässlich der Veröffentlichung des Romans „Das Landhaus am Rhein“ an seinen Freund Jakob Auerbach 1868: „Gestern schickte ich das erste Buch meines neuen Romans nach Wien zum Druck. So bewegt, so in allen Nerven bebend wie diesmal, war ich noch nie. Die Welt ist so über alle Maßen erregt worden auf dieses Buch hin, und seine Erscheinung zu gleicher Zeit in Amerika, Frankreich, England, Italien und Russland, das alles stellt mich auf eine Spitze, auf der mir schwindelt.“

Als Grundlage möglicher Erklärungsansätze für die Auffälligkeiten in der weltweiten Rezeption ist eine vollständige Bibliografie aller Werke Auerbachs unverzichtbar. Erst anhand einer solchen Datenbasis können Popularitätswellen einzelner Titel in den jeweiligen Sprachräumen als Basis für weiterführende Schlussfolgerungen erkennbar werden. Existieren Gesamtbibliografien für die deutschen Originalausgaben, so ist der Umfang der Dokumentation für die zahlreichen Übersetzungen bestenfalls bescheiden. Allein Goedekes „Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“ bietet eine hinlänglich umfangreiche Auflistung Auerbach’scher Werkausgaben im Ausland. Durch das Bibliografieren unter der Verwendung seit kurzem zugänglicher digitalisierter Bibliotheksverzeichnisse konnte umfangreiches Datenmaterial gewonnen werden. So wurden bestehende Kataloge überprüft sowie bisher nicht erfasste Übersetzungen in einer erweiterten Bibliografie neu erfasst.

Gleichzeitig konnte so auch die Tauglichkeit der verwendeten Instrumente und Datenbanken am Beispiel eines nicht kanonischen und heute kaum rezipierten Autors exemplarisch überprüft werden. Die für eine solche Onlinerecherche verfügbaren Portale der Nationalbibliotheken und universitären Verbundkataloge von Russland, Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und Spanien gaben Aufschluss über den Ausbaustatus und die praktische Verwendbarkeit der bequem vom heimischen Computer abrufbaren Kataloge und Verzeichnisse von Periodika für die wissenschaftliche Arbeit. Durch den Vergleich mit Briefwechseln und allgemein zugänglichen Scans zeitgenössischer Periodika im Verzeichnis „Periodicals Online“ konnten darüber hinaus eventuell lückenhafte Einträge ergänzt werden.

Mithilfe dieses Verfahrens konnten nutzbringende Informationen gewonnen werden, wenn auch die Konfrontation mit technischen Problemen nicht ausblieb. Beispielhaft seien hier nur die Nichterreichbarkeit einzelner Verzeichnisse, (seltene) Fälle mangelhafter Katalogisierung, zumeist mutmaßlich doppelte Erfassungen mit und ohne entsprechender Datumszuordnung, oder eine fehlerhafte Verknüpfung von Suchfeldern übergeordneter Metakataloge genannt. Die Anzahl der auf diesem Wege erfassten, vordem nicht in gedruckten Verzeichnisse katalogisierten Ausgaben indes ist beeindruckend.

Die meisten Übersetzungen finden sich in Russland, was die überraschende Anzahl von nahezu 50 Werkausgaben und damit die mutmaßlich größte Popularität Auerbachs weltweit belegt – gefolgt von Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Je nach Sprachraum ist teilweise nur ein Bruchteil der Übersetzungen bei Goedeke verzeichnet. Eine Referenz auf russische Übersetzungen von „Joseph im Schnee“, „Landolin von Reutershöfen“, „Dichter und Kaufmann“, „Drei einzige Töchter“ sowie zwei gelistete Ausgaben beziehungsweise Teilausgaben der Gesammelten Werke, erschienen 1900 und 1903, sucht man hier beispielsweise vergeblich.

Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass mit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Auerbach-Begeisterung in Frankreich und Großbritannien ähnlich wie in Deutschland relativ zeitgleich abklang. Nach 1896 bis Ende des untersuchten Zeitraums sind keine Werkausgaben in der jeweiligen Sprache mehr erfasst. Auffällig ist im Gegensatz dazu die länger anhaltende Popularität des Autors in Russland (die letzte Ausgabe ist hier „Barfüssele“ von 1912), den USA (mit der letzten Ausgabe von „Spinoza“ von 1917) und Spanien (letzte Ausgabe war hier „Joseph im Schnee“ im Jahr 1920).

Italien kommt in Bezug auf die Auerbach-Rezeption offenbar eine Sonderrolle zu. Nachdem zwischen 1892 und 1921 keine weiteren Auflagen oder neue Übersetzungen erfasst sind, erfuhr sein Werk hier nach 1920 noch einmal eine neuerliche Verbreitung: Bis 1930 sind neue Auflagen der „Dorfgeschichten“ sowie der Romane „Auf der Höhe“, „Drei einzige Schwestern“ und „Landolin von Reutershöfen“ dokumentiert.

Dass sich die außergewöhnliche Beliebtheit des Autors im Wesentlichen auf einige wenige Texte stützt, wird im Ergebnis ebenfalls sichtbar. Fast durchgehend ist der erste Band der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ die am häufigsten übersetzte Erzählung, in Frankreich mit 14 Ausgaben gar mit großem Abstand zu seinen anderen Publikationen.

Auch dass die „Dorfgeschichten“ weltweit immer wieder als Maßstab aller nachfolgenden Veröffentlichungen herangezogen wurden, findet sich in den englischen Feuilletons des 19. Jahrhunderts mehrfach bestätigt. So etwa, wenn bei einer Rezension für eine Übersetzung zu „Lorle, die Frau Professorin“ die „Dorfgeschichten“ einmal mehr zitiert werden, und sie mit den Werken der eigenen nationalen Legenden gleichgesetzt werden: „No less faithful to other models of life is a story fresh from the descriptive hand of Berthold Auerbach, whose forest tales are beginning to be as well known and as highly relished in England as our own national legends.“

Aber auch Ausnahmen und nationale Rezeptions-Besonderheiten lassen sich erkennen, so wie etwa die neun amerikanischen Übersetzungen des Romans „Auf der Höhe“ („On the heights“), der damit entgegen dem internationalen Trend in diesem Sprachraum das erfolgreichste Werk Auerbachs war. Weiterhin exemplarisch anzuführen sind besondere Vorlieben des italienischen Lesepublikums, worauf mehrere Ausgaben weniger populärer Texte wie „Die Frau Professorin“ (vier Ausgaben), „Das Nest an der Bahn“ (zwei Ausgaben), sowie „Landolin von Reutershöfen“ (eine Ausgabe) schließen lassen.

Im Rahmen der Recherche stößt man ebenso unweigerlich auf jene Übersetzungen, die weder bei Goedeke noch in nationalen Onlinekatalogen zu finden sind, deren Existenz aber, zumindest für Russland, anhand von Briefwechseln belegt ist. Offensichtlich handelt es sich bei diesen nicht verzeichneten Exemplaren um Raubdrucke. Auerbach beklagt bereits im Dezember 1859 in einem Brief an Wilhelm Wolfsohn über nicht autorisierte russische Ausgaben seiner Werke, die ihm „nichts einbrachten“. Turgenjew, davon unterrichtet, stimmt mit ihm überein, und bezeichnet die fehlende „litterarische Convention zwischen Deutschland und Russland“ als „eine höchst fatale Sache“. „Da jeder das Recht hat seinen Autor zu übersetzen, ja zu verstümmeln – wie kann man da auf ein Honorar rechnen? Das ist Piratenwirtschaft – und von keinem Eigenthum die Rede!“

Turgenjew schlug als Lösung die Voranstellung eines von ihm als russischen Staatsbürger angefertigten Vorwortes zum Schutz der russischen Ausgabe von „Das Landhaus am Rhein“ von 1869 vor. Denn seinen Artikel „hätten sie nicht das Recht wiederzugeben“.

Dass Auerbach bereits früher von sich aus in diese Richtung tätig wurde, zeigt ein 1858 von ihm verfasster Brief an den französischen Schriftsteller Saint-René Taillandier (die angestrebte Veröffentlichung kam in diesem Falle nicht zu Stande): „Wären Sie geneigt, Ihre Artikel in der Revue des 2.11. zusammenzustellen und zu erweitern (ich würde Ihnen was von gedrucktem Material vorliegt zusenden) und daraus eine Charakteristik zu machen, die der französischen Ausgabe meiner Schriften beigegeben würde? Ich werde alsdann den Verleger, mit dem ich abgeschlossen haben werde, an sie weisen, und sie meinerseits für ihre Arbeit mit ihm abschließen.“

Aus leidvoller Erfahrung heraus war Auerbach jedoch nicht nur zur Wahrung eigener Interessen tätig, sondern lieferte auch selbst einen Entwurf an den amerikanische Botschafter Grant, welcher dem amerikanischen Kongress als Vorlage zu einem Urheberrechtsgesetz dienen sollte; belegt ist dies durch ein Zitat aus seinem Briefwechsel mit Jakob Auerbach von 1869: „In dem hiesigen Verein ‚Die Presse‘ habe ich den Vorschlag gemacht eine Adresse an Grant zu richten zum 4. März, um ihn zu veranlassen, ein Gesetz zum Schutz des geistigen Eigenthums im amerikanischen Congreß durchzubringen. Mein Vorschlag wurde einstimmig angenommen und ebenso die von mir entworfene Adresse wörtlich. Du wirst sie nun bald in den Zeitungen lesen.“

Zweifellos war Auerbach als Erfolgsautor in einer Zeit, in der Texte und Nachrichten dank Telegrafie und Eisenbahn sich mit bislang nicht gekannter Geschwindigkeit über Landesgrenzen hinaus verbreiten konnten. Die Problematik einer Wahrung des geistigen Eigentums von Auerbach verschärfte sich damit in einem zuvor nicht gekanntem Maß. Nicht nur in Bezug auf bevorzugte Lektüren des Lesepublikums, sondern auch hinsichtlich der Verbreitung seiner Literatur ist Auerbachs Werk und seine Rezeption also paradigmatisch für das Zeitalter der Industrialisierung.