Was ist an der Literatur des ‚Realismus‘ eigentlich ‚realistisch‘?

Ein Kieler Studienband von Marianne Wünsch will Zugänge zur literarischen Epoche des Realismus (1850-1890) eröffnen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach 1850 beginnt im Zeichen des „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“ eine jahrzehntelange, sehr kontinuierlich verlaufende Periode, in der sich eine Literatur des bürgerlichen Alltags entfaltet. Drama und Lyrik haben eine höchst untergeordnete Rolle. Prosa, Roman, Erzählung, Novelle, aber auch Essay und Kritik bilden das eigentliche Medium der Autoren. Es ist eine Literatur von den Randzonen her, nicht nur, was die Orte der Entstehung angeht – Husum, Zürich, Linz, Eisenach, Leipzig, Braunschweig, Stuttgart sind die Städte, in denen die Dichter vereinzelt leben. Auch für die Werke gilt: Große Konflikte werden gemieden, Außenseiterexistenzen gelangen zu einer liebevollen und eingehenden Darstellung. Vororte, Kleinstädte und die ländliche Provinz sind Ort der Handlung. Es ist dann Theodor Fontane, der in einer staunenswerten Altersleistung eine erzählerische Analyse der Zeit in Preußen gibt und den Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft in verschiedenen Lebensbereichen nachspürt.

Zwölf Aufsätze der Kieler Germanistin Marianne Wünsch, alle bis auf einen Originalbeitrag bereits in verschiedenen Publikationsorganen veröffentlicht, wurden jeweils durch einen eigenen Beitrag der beiden Herausgeber Jan-Oliver Decker und Hans Krah und einen weiteren von Martin Nies ergänzt, um dem Ganzen so den Charakter einer Monografie zu gegeben. Das ist nicht vollständig gelungen. Denn die Aufsätze der Jubilarin – das Werk bildet die Festschrift zu ihrem 65. Geburtstag – führen nicht immer ins Zentrum der literarischen Epoche, sondern halten sich vorwiegend an den Randzonen auf, bringen hier aber höchst aufschlussreiche Ergebnisse ein. Wenn es doch eine alles zusammenhaltende Klammer gibt, dann ist es die allen Beiträgen zugrunde liegende strukturalistisch-semiotische Betrachtungsweise, die sowohl in der einzelnen Werkanalyse als auch in der Bestimmung des Realismus in der Literaturepoche angewandt wurde.

Im Zentrum der Epochencharakterisierung steht der Begriff des Literatursystems, also die Regeln, nach denen Texte gebildet werden, sich als Gattungen formieren, in Kontakt und Austausch mit anderen kulturellen Praktiken treten und Bedeutungen generieren. Nachdrücklich wird der „Sonderstatus“ des Realismus gegenüber anderen Epochenbegriffen hervorgehoben: der Doppelaspekt des „Realismus als Invariante“ und des Realismus als zeitlich fixierbare Epoche, die „einen Ausschnitt aus dem 19. Jahrhundert interpretiert“. Unterschiedliche Aspekte der spezifischen Realitätskonzeption dieser Epoche werden in den hier behandelten Texten von Theodor Storm („Aquis submersus“, „Schweigen“, „Ein Bekenntnis“, Lyrik), Adalbert Stifter („Hochwald“), Theodor Fontane („Vor dem Sturm“, „Der Stechlin“), Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer („Die Richterin“; „Die Versuchung des Pescara“ im Vergleich mit Arthur Schnitzlers „Sterben“) und anderen herausgearbeitet.

In der Darstellung einer literarischen Epoche wie der des Bürgerlichen Realismus erwartet man nicht unbedingt ein Kapitel „Literaturgeschichtsschreibung und Deutsche Literaturgeschichte“ (Jan-Oliver Decker) – so lesenswert es auch ist –, die bis zum Barock zurückgeht und bis zur Gegenwartsliteratur reicht. Wichtiger sind da die Faktoren, die bei der Entstehung des Literatursystems „Realismus“ zusammenwirken (Martin Nies). Hier werden die literaturexternen, soziokulturellen Faktoren genannt, also die spezifische zeitgenössische politische, ökonomische, technologische und demografische Situation, die ‚denkgeschichtlichen‘/wissenschaftstheoretischen Faktoren wie die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die damit verbundene fortschreitende Säkularisierung sowie neue philosophische Denkkonzepte und schließlich literaturinterne Faktoren, also der Wandel zentraler Themen und Strukturen, der sich schon in der Literatur vor 1848 ankündigte und nach 1848 auch in poetologischen Schriften programmatisch behandelt wird. Mit dem Gegenwartsroman, der historischen Erzählung, der Dorfgeschichte und dem exotischen Roman entstehen neue inhaltliche Erzähltypen, während es sich bei der Kriminalstruktur um eine neue strukturelle Form handelt. Zu fragen wäre dann wieder, ob ausgerechnet Storms „Aquis submersus“ ein „grundlegendes“ Beispiel für die „Realität“ des Realismus (Hans Krah) ist? Da hätten sich doch eher andere Werke angeboten. Dann aber lesen sich die autorspezifischen Strukturen bei Storm so spannend und sie bewegen sich in ihrer Semantik auch innerhalb dessen, was den Kern des realistischen Literatursystems ausmacht, dass die eingangs gestellte Frage bedeutungslos wird.

Den Hauptteil des Bandes bestreitet Marianne Wünsch mit zwölf Einzelstudien. Unter der Überschrift „Konstituierung des Realismus in den 1850er Jahren“ werden der Normenkonflikt zwischen Natur und Kultur am Beispiel von Stifters „Hochwald“ und die Konzeptionen der Person und ihrer Psyche in der Literatur der Goethezeit bis zum frühen Realismus abgehandelt. „Strukturen, Themen, Motive in der Literatur des Realismus“ heißt der nächste Abschnitt. Hier geht es um politische Implikationen in der Literatur des Realismus am Beispiel von Fontanes Roman „Der Stechlin“, um die politische Ideologie in Fontanes Roman „Vor dem Sturm“ und um das Thema Eigentum und Familie im Werk Wilhelm Raabes.

Das Kapitel „Tod – Realität – Literatur / Poetologie“ spürt dem Leben im Zeichen des Todes in Storms Lyrik und dem Thema Tod in der Erzählliteratur des Realismus überhaupt nach, wendet sich dann der Selbstreferentialität und Bedeutungskonstituierung in C. F. Meyers Gedicht „Stapfen“ und der realitätsschaffenden Kraft des Wortes in Meyers „Die Richterin“ zu. Mit „Entgrenzungen der Strukturen des Realismus im späten Realismus“ wird der Schlusspunkt des Literatursystems Realismus gesetzt: Experimente Storms an den Grenzen des Realismus werden in „Schweigen“ und „Ein Bekenntnis“ vorgeführt, Grenzerfahrung und Epochengrenze am Thema Sterben in Meyers „Die Versuchung des Pescara“ und Arthur Schnitzlers „Sterben“ gezeigt und vom späten Realismus zur Frühen Moderne das Modell eines literarischen Strukturwandels entwickelt. Gottfried Kellers Erzählungen und Romane bleiben ganz ausgespart, das Verhältnis Realismus und Drama hätte am Beispiel Friedrich Hebbels doch Beachtung verdient.

Am Beispiel ihres Aufsatzes „Politische Implikationen in der Literatur des ‚Realismus‘“, der sich mit Fontanes Altersroman „Der Stechlin“ (1899) beschäftigt, soll die methodische Verfahrensweise der Autorin erläutert werden. Ausgehend von den politischen Ereignissen wie sozialen und ökonomischen Prozessen, den neuen Konzepten von „Volk“ und „Nation“, zeigt Marianne Wünsch, wie die Literatur des Realismus mit diesen neuen Realitäten umgeht. Wie im „Stechlin“ wird generell in der realistischen Literatur „Realität als Wandel erfahren“. Diese stellt sich vorwiegend als „Verlustgeschichten“ dar. Auch im „Stechlin“ geht es nicht um die Entstehung der modernen ökonomischen Welt, sondern um den Untergang des märkischen Adels. Über drei verschiedene Generationen hinweg werden die Familien ausgewiesen: Die Alten (Dubslav und Barby) haben keinen ideologischen Einfluss auf ihre Kinder, dafür übernehmen die Jüngeren (Melusine und Pfarrer Lorenzen) eine Art „ideologischer Elternfunktion“ den Jungen (Woldemar und Armgard) gegenüber, die – so Marianne Wünsch – ziemlich „positionslos“ bleiben. Aber steht Woldemar nicht gerade unter dem außergewöhnlichen Stern von außergewöhnlichen Menschen, die ihn geprägt haben und stetig seine Unbestimmtheit bestimmen: der Vater Dubslav, Lorenzen, die Bestimmer zur Toleranz von Jugend auf, später der alte Graf Barby und Melusine?

Es findet also im späten Realismus eine Dissoziierung zwischen verschiedenen Informationsträgern statt, die im frühen Realismus noch innerhalb der Familie zu suchen waren. Die Kooperation von Lorenzen und Melusine, von männlicher Geschichte und weiblicher Natur hat ihr Pendant im mythischen Zeichen des Sees Stechlin als eines Seismografen von Weltereignissen, eines Sinnbildes wie Raabes Diktum „Im kleinsten Raum weltweite Dinge“. Der „rote Hahn“, der aus dem See aufsteigt und kräht, kündigt diskontinuierliche Ereignisse an aus dem Bereich ‚Natur‘ und ‚Kultur‘. Dubslavs Vorschlag, den „jetzt“ zugefrorenen See, der für den Zustand Deutschlands steht, aufzuhacken, damit der Hahn aus seiner Tiefe aufsteigen könne, wehrt Melusine erschrocken ab, sie mag keinen Eingriff ins Elementare. Auch Lorenzen und Melusine treffen unter dem Aspekt des Wandels zusammen, und Lorenzen führt das Verhältnis von Kontinuität und Möglichkeit des Wandels aus. Und so schlussfolgert Marianne Wünsch: Wenn sich die Frau (Melusine), die Kontinuität und Natur vertritt, und der Mann (Lorenzen), der für Diskontinuität und Kultur steht, zusammentun, bilden sie eine optimale Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität, und das laufe letztlich auf ein Modell der Geschichte als dem einer Evolution hinaus. So geschehe im „Stechlin“ eine „Semiotisierung von Natur“ und eine „Naturalisierung von Geschichte“. Der Freiraum des Denkens wird genutzt, um den Wandel vorzubereiten, dabei können auch die konservativ Handelnden über die Grenzen ihres Handelns hinaus denken. Fazit: „Der ‚Stechlin‘, als Roman, ist als Freiraum des Denkens notwendig, um die Welt der sozialen Praxis, also die Welt des Lebens und Verhaltens, zu behalten oder zu verändern“. Das Spiegeln des Zeittypischen im Persönlichen, die Anwesenheit des Allgemeinen im Besonderen, des Repräsentativen im Einmaligen vermag die Autorin überzeugend auf den Punkt zu bringen.

Allen Texten des Sammelwerkes ist eine knapp gefasste Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur beigegeben worden. Ein Personenregister aber hätte nicht fehlen dürfen. Abgeschlossen wird der Band durch ein „Kommentiertes Literaturverzeichnis zum Realismus“ von Peter Klimczak, als Orientierungshilfe für Studierende und Forschende höchst nützlich angesichts der immer unübersehbarer werdenden Publikationen zu diesem Thema.

Titelbild

Marianne Wünsch: Realismus (1850-1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche.
Verlag Ludwig, Kiel 2007.
400 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783937719566

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