Manchmal ist Streiten auch gar nicht schlecht

Die Publikation „Konfliktkulturen“ eröffnet eine Buchreihe des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Goethe-Instituts

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Aufsatzsammlung über Konfliktkulturen verspricht einiges. Der Untertitel „Texte zu Politik, Gesellschaft, Alltag und Kunst“ macht deutlicher, was sich hinter dem Buch verbirgt. Politik und Gesellschaft bestimmen das erste Kapitel des Bandes. Im zweiten Kapitel befassen sich die Texte mit Religion und Philosophie. Zuletzt stehen Alltag und Kunst im Mittelpunkt des Interesses. Das Ziel der Herausgeber – Ronald Grätz ist Generalsekretär des Instituts für Auslandsbeziehungen und Hans-Georg Knopp Generalsekretär des Goethe-Instituts – ist es, kultur- wie gesellschaftspolitische Fragestellungen aufzunehmen, die „für das Verständnis Deutschlands, das Verständnis anderer Kulturen und den Kulturdialog von zentraler Relevanz sind.“

Dabei wird das Feld der Kultur sehr allgemein verstanden, was dem Ansatz der britischen Cultural Studies gleicht, den Raymond Williams geprägt hat. Kultur wird demnach als Gesamtheit der Lebensweisen verstanden, in der jede Handlung als eine kulturelle Praxis verstanden wird, die Bedeutungen herstellt. Ähnlich wie Oliver Marchart in seinem Beitrag „Metaphysik als Kampfplatz“ schreibt auch Imke Schmincke in ihrem Aufsatz: „Kultur wird hier im Sinne aktueller kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien verstanden als die Gesamtheit der Sinnsysteme und Wissensordnungen, der Arten und Weisen, durch die der alltäglichen Wirklichkeit Bedeutung verliehen wird.“

Im ersten Kapitel stehen somit alltägliche Praxen aktiver, revolutionärer und widerständiger Bürger im Vordergrund. Bedeutungen entstehen hier aus den Räumen heraus, die von einzelnen oder Gruppen besetzt werden. So werden Bewegungen in öffentlichen Räumen, wie das ‚cultural jamming‘ und ‚DIY mashups‘, thematisiert und als neue Ästhetik des Widerstands hervorgehoben. Das Internet dient, solange man dazu Zugang hat, als Möglichkeit die Regierung unter Druck zu setzen, wie die Vorfälle in Ägypten gezeigt haben.

Das zweite Kapitel umfasst sieben Beiträge, die sich den Konfliktkulturen in den Bereichen Religion und Philosophie widmen. Konkrete Themen sind dabei Islam und Fundamentalismus, ästhetische Erziehung, die Verwendung des Konfliktbegriffs, Kolonialismus und nationale Identitäten. Helena Waldmann warnt vor einer ästhetischen Erziehung in Krisenregionen, da künstlerische Projekte immer stärker Ideologien vermitteln als jeder Versuch einer politischen Erziehung. Für sie sind künstlerische Erzieher Betroffenheitstouristen, die sich eher der Kunst widmen sollten als der Erziehung, weil sie dann erst als das rezipiert werden könne, was sie sei. Oliver Marchart vermisst Konfliktbereitschaft in der Demokratie und beschreibt den Rückzug von Konflikten als Nährboden für Rechtsextremismus.

In den acht kurzen Texten im dritten Kapitel werden Alltag und Kunst thematisiert. Allgemein und breit aufgestellt sind dabei auch Themen wie Spannungen, vom Drang Konflikte immer lösen zu wollen, Konsum, Popkultur, Bürokratie, Vorurteile, Deutsch als Fremdsprache bis zu den Vorschlägen von Georg Seeßlen dazu, wie man richtig streiten sollte. Die Kultur der Debatte ist für ihn die höchste Stufe im Handwerk der Kritik. Am liebsten würde er neue Regeln für die Debatte aufstellen, kommt dann aber nach der Beschreibung dieser Regeln zum Schluss, dass auch die Auflistung dieser Forderungen die Debatte an sich nicht retten kann, man müsste sie neu erfinden. Den Zugang zum Konflikt müsste man generell neu erfinden, da zu viele Annahmen in Aporien führen, aus der nur schwer wieder herausgefunden werden kann.

Alle Autoren haben in dieser Ausgabe eines gemeinsam; sie hinterfragen den Bereich der Konfliktkultur konkret oder aber in abstrakter Weise. Am Schluss wird jedoch klar, dass keine Antwort gefunden werden konnte, sondern vielmehr neue (oder auch alte) Fragen aufgeworfen wurden, die eine genauere Betrachtung erfordern. Vielleicht kann hier auch die begonnene Buchreihe des Goethe-Instituts mit weiteren Bänden anschließen. Problematisch bleibt der Titel „Konfliktkulturen“, der in die Irre führt und suggeriert, dass es eine solche Kultur per se gebe. Beim Lesen der Beiträge stellt man jedoch fest, dass sich eine solche Konfliktkultur in einem Prozess entwickelt und auch nur in ihrem jeweiligen konkreten Fall einzeln betrachtet werden kann. Das Buch verspricht demnach zu viel und löst damit auch zu wenig ein. Zudem wird der Konflikt entweder positiv oder negativ eingeschätzt, ohne dass man ihn in die Kategorien ‚gewalthaltig‘ und ‚gewaltfrei‘ einordnen würde. Aus der Sicht der Herausgeber soll jeder Konflikt gelöst, abgeschwächt oder vermieden werden. Dagegen sprechen einzelne Beiträge, die – und das sehr zum Wohle des Buches – dem Konflikt auch etwas Positives abgewinnen können und ihn sogar in einer friedvollen Auseinandersetzung als prozessuale Verständigung zwischen Kulturen fordern, wie zum Beispiel die nahezu prosaische Schilderung eines Konfliktes innerhalb der Familie von Ze’ev Avrahami, der ihm bei seiner Identitätsbildung half.

Titelbild

Ronald Grätz / Hans-Georg Knopp (Hg.): Konfliktkulturen. Texte zu Politik, Gesellschaft, Alltag und Kunst.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
192 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783869302423

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