Ist die Gutenberg-Galaxis noch zu retten?

Experten um Uwe Jochum und Armin Schlechter diskutieren den labilen Status quo nicht-digitaler Bibliotheken in „Das Ende der Bibliothek?“

Von Heide KunzelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heide Kunzelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im April 2010 kamen in der Foschungsbibliothek Gotha, einer der historisch bedeutendsten Bibliotheken Deutschlands, namhafte Literatur- und BibliothekswissenschaftlerInnen, BibliothekarInnen sowie VerlagsvertreterInnen und JournalistInnen zusammen, um der Frage nachzugehen, ob denn die letzte Stunde des abendländischen Konzepts der Bibliothek geschlagen hätte. Dass sich dieses Treffen, wie es der vorliegende Tagungsband fast schon einer ,bygone era‘ zurechnen zu sein scheint, wird nicht zuletzt haptisch durch die etwas spröde Präsentationsform unterstrichen: Der schlichte dunkelblaue Leinenband mit Fadenheftung suggeriert, dass es hier nicht darum geht, durch ein ausgestaltetes, farbiges Cover zum Kauf anzuregen. Auf solches Blendwerk kann, so scheint es, verzichtet werden, der Inhalt ist wichtig und spricht für sich selbst.

Die neun Beiträge sind ein deutliches Plädoyer für das Medium Buch und stellen, wiewohl keine explizite Schmähschrift gegen die digitalisierte (Text-)Welt, durchaus eine gewichtige und so objektiv wie möglich gehaltene Argumentationssammlung für den Erhalt, die Konservierung und Sammlung des gedruckten Wortes vor. Die Beiträge widmen sich der Frage, welche Vor-, aber vor allem auch Nachteile die zunehmende Entmaterialisierung, die zum Paradigma in der Welt nach der digitalen Revolution geworden ist, für das Bibliothekswesen als funktionale, aber auch wirkungstechnische Kulturkonstante hat. Und obwohl diese Publikation als Sonderband für die „Zeitschrift für Bibliothekswesen“ für Fachleute aus diesem Bereich gedacht ist, ist sie zweifelsohne auch von großem Interesse für eine fachfremde und breite allgemeine Leserschaft, denn hier geht es um die Konservierung unseres kulturellen Gedächtnisses und um die Verluste, die entstehen, wenn man Maschinen die Organisation überlässt.

Es handelt sich nicht um eine cyberweltliche Dystopie, die hier von verbitterten Mahnern entworfen wird. Uns allen ist durchaus klar, dass die zeitgenössische globale Informationspolitik durch die Materialisierung und Kommerzialisierung von Information unter dem Vorwand der ‚Demokratisierung‘ hegemoniale Beziehungen zwischen jenen, die Zugang haben und jenen, denen er verwehrt ist, herstellen. Zum Tragen kommt hier der Terminus des ‚access‘, des Zugangs, so wie ihn der amerikanische Trendforscher Jeremy Rifkin versteht (Access, 2000). Das Virtuelle löst das Materielle ab, man strebt nicht mehr vor allem nach materiellem Besitz, sondern nach Zugang zu Netzwerken.

Rifkins Prognose dieser neuen, virtuellen Revolution im laufenden Jahrtausend beeinflusst das Bibliothekswesen und die Welt der Printmedien eminent. Nicht zuletzt in der Frage der Originalität und Autorschaft, sondern in weiterer Folge auch in der Frage der Wissensorganisation. Wir wissen nur allzu gut, dass die Umgehung der Rechte des individuellen Urhebers – wie sie etwa die Firma Google, das bekannteste Negativbeispiel, das die AutorInnen dieses Bandes bemühen, erfolgreich praktiziert – zu einer fatalen Umdefinierung dessen führen, was heute ein ,body of knowledge‘, ein Wissenskörper, ist. Dass hier Handlungsbedarf besteht, wird man den AutorInnen des Buches nicht in Abrede stellen wollen.

Fundiert wird diskutiert, wie sich die diskursivische Neudefinition eines solchen Wissenskörpers gestaltet hat und auf welcher Basis sie vonstatten ging beziehungsweise geht. So zeigt etwa Uwe Jochum erhellend, wie in Anlehnung an Hegels Konzept der „Furie des Verschwindens“ einzig die absolute Negation des (materiell bestehenden) Besonderen (verschiedener Medien) zu einer Durchsetzung des (digitalen) Allgemeinen führen könnte. Für ihn arbeitet die Welt auf eine „Freiheit der Leere“ hin, ein Vakuum, in dem die Wirklichkeit nicht mehr durch das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen strukturiert wird. Alle Texte sind entmaterialisiert und Maschinen übernehmen die Kommunikation zwischen ihnen. Doch genau das ist es, wovor Jochum und alle Beiträger zu diesem Buch warnen: der Geist, den es braucht, um die Kommunikation zwischen Texten zu gewährleisten, würde über kurz oder lang durch den Anspruch, alle Texte maschinell miteinander vernetzbar zu machen vor diesem Pseudo-Kommunikationsprozess außen vor gelassen werden. Kritisiert wird hier ein bibliothekarischer Mainstream, der seit den 1960er-Jahren Information als veräußerbaren „Rohstoff“ und als quantitative Einheit begreift. Gleich zu Anfang demontiert Mitherausgeber Jochum schlüssig diesen Zentralbegriff des Bibliothekswesens der Generation ‚Internet‘, die Information, als problematisch unproblematisiertes Schlagwort einer neuen Bibliothekspolitik, die auf medien- und funding-taugliche Selbstlegitimation aus ist.

Verleger Georg Siebeck nimmt in seinem Beitrag Jochums Warnung vor der Fehlannahme, Sinn könne bereits durch und einer komplexen Materialansammlung generiert werden auf, und bettet seine Besorgnis darüber in den ökonomischen Verlagskontext von Angebot und Nachfrage. So plädiert er für eine Öffnung des Bibliotheksgeistes hin zu den Erfordernissen des digitalen Marktes. In sieben Thesen skizziert Siebeck die Herausforderungen, denen sich die Bibliotheken der Zukunft stellen müssen und schlägt einen wesentlich optimistischeren Ton an, als die Einleitung es hoffen lässt.

Medienhistorisker Markus Krajewski verhandelt die Wichtigkeit des Bibliothekars beziehungsweise des historischen ‚Bibliotheksdieners‘ als Navigierer, als Schnittstelle zwischen Archiv und Öffentlichkeit und als nicht wegzudenkendes Lokalgedächtnis. Er kontrastiert das Humanpotenzial mit dem Potenzial der Maschine, wobei der Mensch erwartungsgemäß im Hinblick auf Geschwindigkeit und Verfügbarkeit das Nachsehen gegenüber der Maschine – Krajewskis Beispiel ist der Katalog OPAC – hat. So vorsichtig optimistisch Siebecks Ausblick auf das war, was die Bibliotheken des Abendlandes zu tun haben, um gegen das Verschwinden zu kämpfen, so pessimistisch nimmt sich da Krajewskis Betrachtung aus.

Christine Heibach, Medientheoretikerin, stößt in das selbe Horn und richtet den Blick auf das Paradox des kulturellen Vergessens, das voraussetzt, dass das Zu-Vergessende zuerst gespeichert werden muss. Höchst interessant sind ihre Ausführungen zum Potenzial und zur Gefahr des ‚absichtsvollen‘ und ‚absichtslosen‘ Vergessens; Praktiken, die in unserer digitalen Gesellschaft Hand in Hand gehen. Heibachs Fragen treffen den Kern des Problems: wer sagt eigentlich, was gelöscht und was erinnert wird? Wer maßt sich an radikales Löschen zu verordnen, und wer maßt sich an Daten zu speichern? Diese und viele andere kulturell wichtige Kompetenzen im Feld des „kulturellen Gedächtnisses“ sind nunmehr nicht mehr an Individuen, sondern vielmehr an Netzwerke gebunden. Die Frage, wer über die Kriterien des Bewahrenswerten zu entscheiden hat, deutet auf die große Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Thema Wissenskultur hin, die die Grenzen dieser Publikation weit überschreitet.

Die verbleibenden Beiträge des Sammelbandes ergänzen die einleitenden Beiträge angemessen durch eine Sammlung exemplarischer Betrachtungen der Funktion von Bibliotheken.An fünfter Stelle folgt ein Artikel des Fachbibliothekars Reinhard Laube, der sich mit der Selbstbeschreibung von Bibliotheken auseinandersetzt. Sein Fazit: Bibliotheken sind ebenso Erinnerungsorte (was in reizvollem Kontrast zum Thema von Heibachs Beitrag steht), wie Informationszentren. Auch er verweist schließlich auf die Problematik von ungeordneter Wissenssammlung im Netz.

Um den Gedanken der Originalität der Autorschaft wie der Typografie kreisen die letzten vier Beiträge von Michael Knoche, Direktor der vor einigen Jahren durch einen Brand schwer mitgenommenen Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, von Bernhard Fischer vom Goethe- und Schiller-Archiv, von Mitherausgeber Armin Schlechter, dem Leiter der Handschriftenabteilung der Pfälzischen Landesbibliothek und von dem Editionsphilologen Roland Reuß. Alle vier stimmen in den Tenor der vorangegangenen Ausführungen ein und bekräftigen, dass die auratische Wirkung des Textträgers ‚Buch‘ niemals durch digitale Textträger zu ersetzen sein wird, dass ihr Komplettverlust jedoch schwerwiegendere kulturelle Auswirkungen haben würde, als bisher angenommen. Reuß schließt in seinem zeitweise durchaus polemischen Beitrag mit der Metapher einer zum ‚Phönix‘ gewordenen ‚Lesemaschine Buch‘ und bringt dabei den dialektischen Kulturpessimismus auf den Punkt, der einen angesichts der Auswüchse unserer digitalen Zeit befällt, wobei man gleichzeitig die Hoffnung hat, dass das Gute, Edle, Schöne dennoch überleben möge.

„Totgesagt und nicht gestorben“, heißt es in einem Song mit dem Titel „Status Quo Vadis“ der Gruppe „Blumfeld“. Man möge den popkulturellen Verweis an dieser Stelle akzeptieren, denn er drückt ebenso genau wie Reuß’ Metapher aus, worum es letztlich in diesem Buch geht – die Mahnung, dem Textträger Buch, seiner physischen, analogen Dimension und seiner Aura nicht gänzlich abzuschwören sowie die Hoffnung, dem Analogen in der digitalen Welt seinen Platz erhalten zu können, wenn man sich dem „Status Quo Vadis“, den Gesetzen der zunehmend virtuellen Welt des Zugangs anpasst.

Titelbild

Uwe Jochum / Armin Schlechter (Hg.): Das Ende der Bibliothek? Vom Wert der Materialien im virtuellen Zeitalter.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2011.
133 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783465037224

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