Berthold Auerbachs „Neues Leben“ – zu Unrecht vergessen?

Ein Roman im Lichte seiner Kritik

Von Stefanie HoyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hoyer

Als „Roman des Durcheinander“ bezeichnete ihn Biograf Anton Bettelheim, als „Missgeburt“ Freund und Kollege Theodor Mommsen: Berthold Auerbachs 1852 erschienener Roman „Neues Leben“ wollte in den Augen von Kritikern keine rechte Anerkennung finden. Vom Lesepublikum weitestgehend ignoriert, lassen sich nur vereinzelt Rezensionen und Aufsätze finden, die sich dem Roman in wertender Weise widmen. Dies mag insofern verwundern, als dem Autor vor dieser Romanveröffentlichung mit seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ (1843) ein großer Wurf gelang, der ihm bis über die Grenzen Deutschlands hinweg literarische Anerkennung und Popularität einbrachte.

Erzählerisch angesiedelt und erschienen in den politischen und sozialen nachmärzlichen Wirren, sollte der Roman, den der Autor selbst nicht nur als poetische, sondern vielmehr auch als politische Schrift verstand, genau den Nerv der Zeit treffen. An der Geschichte des Dorfschullehrers Eugen Baumann zeigt Auerbach exemplarisch, wie er sich eine Volkserziehung vorstellt, die an der Wurzel – nämlich der Bildung von Kindern – ansetzt. Politische, soziale und religiöse Fragen werden darüber hinaus in zahlreichen Unterhaltungen ebenso thematisiert wie – dem Unterhaltungsbedürfnis des Lesers entgegenkommend – die private Geschichte des Eugen Baumann: Dieser begibt sich auf die Suche nach seiner Mutter, findet sie in seinem neuen Wohn- und Wirkungsort schließlich auch und verliebt sich dabei unwissentlich in seine Stiefschwester.

Ist es diese Mischung aus Unterhaltung und Belehrung, die Kritikern und Lesern? Blieben die poetischen Anliegen hinter den politischen zurück? Drei Rezensionen können als unmittelbare Reaktion auf das Erscheinen des Romans verzeichnet werden: Gustav Freytag, ein Freund und literarischer Wegbegleiter Auerbachs, Theodor Mommsen, ein literarisch ambitionierter Historiker und Freund des Autors sowie Robert Prutz, ein Schriftsteller und Publizist, verfassen noch 1852 Kritiken, die in verschiedenen literarischen Organen erscheinen.

Sie alle kritisieren die Überkomplexität des Romans sowie die Detailverliebtheit des Autors, die eine kompositorische Eindeutigkeit unmöglich machten. Diverse Unterhaltungen würden wiedergegeben und unzählige Personen eingeführt, die für die Gesamthandlung ohne Einfluss blieben. Diese Kritik veranlasst Auerbach zu einer Überarbeitung des Romans im Jahre 1858, deren Ziel eine – wie er selbst an seinen Freund Jakob Auerbach schreibt – „straffere Zusammenfassung“ sein sollte. Allerdings sind die Veränderungen nur marginal und Auerbach bemerkt: „Mir wurde ganz deutlich, wie auch dieses Buch nur kataraktenartig sich fortbewegt, und so viel Durchstiche ich auch machte, auch hier war eine feste Strömung nicht zu bewerkstelligen.“

Dies mag wohl auch der Tatsache geschuldet sein, dass – durch den Handlungsstrang der Suche nach der Mutter und der Liebesgeschichte zu Vittore – dem eigentlichen Motiv der Lehrtätigkeit noch ein weiteres hinzugefügt wurde. Dies führe laut Freytag dazu, dass sich beide gegenseitig aufhöben. Und auch Auerbach selbst reagiert auf diesen Mangel und schreibt zu der Überarbeitung: „Es waren in dem Buche durchgehend zwei Motive, und zwei Motive heben einander auf. Ich habe daher die Mutter nicht suchen, sondern zuletzt bloß finden lassen und alles darauf Bezügliche ausgeschnitten.“

Ein weiterer Kritikpunkt ist die mangelnde Wahrscheinlichkeit des Romans, die sich besonders in der Figurenkonzeption zeige: So wird insbesondere die Figur des Eugen Baumann, dessen Charakterbildung und selbstreflexiver Entwicklung ein unrealistisches Konstrukt zugrunde liege, immer wieder negativ bewertet. Außerdem beanstanden sowohl Freytag als auch Mommsen die Parteilosigkeit des Autors: Verschiedenste politische, religiöse und soziale Haltungen würden geäußert, ohne dass sich der Autor eindeutig zu einer bekenne. Mommsen prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des „Tendenzroman[s] ohne Tendenz“ – hierin mag sicher auch eine Gattungskritik anklingen, die Robert Prutz ebenfalls übt. Er tadelt die Mischform aus philosophischen Belehrungen und unterhaltsamer Erzählung und spricht sich für eine klare Trennung der Gattungen aus.

Positive Resonanz auf den Roman erhält Auerbach von seinem Verleger Karl Mathy. Anton Bettelheim jedoch äußert den Verdacht, dass „Neues Leben“ die Geschichte eben dieses Verlegers erzählt, der in den 1840er-Jahren im Kanton Solothurn des Kurortes Grenchen als autodidaktischer Schulmeister die Bauernkinder unterrichtet hatte. Dass Mathy nach dieser Theorie Impuls- und Themengeber der Geschichte wäre, könnte seine Begeisterung erklären. Neben Mathy ist Lew N. Tolstoj als begeisterter Rezipient des Buches bekannt – er führte sein Interesse an Volksbildung und die Eröffnung der Schule für Bauern auf die Lektüre des Romans zurück.

1903 widmet Anton Bettelheim dem Roman in seiner Auerbach-Biografie einige Zeilen, und auch Arnold Koeppen, ein Lehrer und Schriftsteller, berücksichtigt ihn in seinem 1912 erschienenen Buch „Auerbach als Erzähler“. 1982 unterzieht Horst Brandstätter mit seinem Aufsatz „‚Neues Leben‘. Mit einem Kommentar über die lästige Gegenwart des 19. im 20. Jahrhundert“ das Werk einer kritischen Betrachtung, und auch Rolf-Dieter Kluge erwähnt es in seinem 2005 gehaltenen Vortrag „Berthold Auerbach und die russische Literatur“. Die Kritikpunkte haben sich jedoch seit 1852 nicht maßgeblich geändert: Einzig nennenswerter Unterschied ist, dass Horst Brandstätter die Parteilosigkeit Auerbachs nicht bemängelt, sondern im Gegenteil als Zeichen der Lernfähigkeit der Protagonisten versteht. Diese weise sich dadurch aus, dass in Dialogen nie einer völlig recht habe.

Es ist auffallend, dass dieselben stilistischen und inhaltlichen Defizite jahrhundertübergreifend immer wieder beanstandet wurden. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als diese bei einer aufmerksamen Lektüre des Romans unbestreitbar offensichtlich sind. Ist im Roman in Bezug auf Eugen von den „irrlichterirenden Sprüngen in den Äußerungen des Lehrers“ die Rede, so kann man diese auch seinem Schöpfer attestieren. „Irrlichterirende Sprünge“ finden sich zuhauf und ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers ab, die dann an anderer Stelle fehlt. Als Beispiel sei der im sechzehnten Kapitel des ersten Bandes eingeführte Lehrer Lutz, mit Spitznamen „Schnörkel“, genannt. Dessen Aussehen wird ebenso ausführlich wie seine Eigenarten – so zum Beispiel das Mischen zueinander unpassender Sprichworte in einem Satz – beschrieben. Allerdings bleibt dem Leser die Anwesenheit Schnörkels nur für die Dauer eines Kapitels vergönnt, bevor dieser dann – ohne irgendeinen Einfluss auf die Gesamthandlung gehabt zu haben – wieder verschwindet.

Ähnlich verhält es sich mit den oft getadelten Phrasierungen und Schönredereien: Amüsant oder gar geistreich klingen-wollende Sätze wie Eugens Bemerkung über die Baronin Stephanie – „Sie ist das neueste pikante Gericht: in Honig und Syrup eingemachte Brennesseln“ – vermögen in ihrer Häufung nichts weiter, als den Leser zu verwirren. Dies gilt auch für zahlreiche weitere Vergleiche und Metaphern, die als das bevorzugte Stilmittel des Romans in solch einer Ballung auftreten, dass man nach Eindeutigkeit und klaren Aussagen zuweilen mühsam suchen muss.

Beliebte Vergleichsmotive, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, entstammen dem Feld der Landwirtschaft: Die Erziehung wird mit dem Bebauen eines Ackers verglichen, das Lehren mit der Fütterung von Tieren und die Bauern selbst sind die Feldblumen, die am Wegesrand blühen. Ein nachvollziehbarer Grund für solch eine Anhäufung von Metaphern ist nicht erkennbar und so dient auch sie lediglich zur Verstärkung des Eindrucks innergeschichtlicher Unordnung. Der pädagogische Charakter des Buches, der von einzelnen Rezensenten als positiv bewertet wurde, muss ebenfalls differenziert betrachtet werden: Positiv sind vielleicht entsprechende Inhalte, die Auerbachs Beschäftigung mit Rousseau, Pestalozzi und anderen Pädagogen widerspiegeln. Als eher störend hingegen kann der gänzlich pädagogische beziehungsweise didaktische Charakter des Buches bewertet werden, den auch Auerbach selbst eingesteht, indem er an Jakob schreibt: „Wie ich dir schon gesagt, ist das Buch in engerem und weiterem Sinn, wenn man so sagen kann, pädagogisch.“

Der Autor lässt verschiedenste Instanzen didaktisierend auftreten: Da ist zunächst der Erzähler selbst zu nennen, der oft mit allgemeinen, generalisierenden Weisheiten die Kapitel einleitet und als Beobachter der Szenerie auch häufig zwischendurch mit solchen die Handlung kommentiert. Darüber hinaus werden auch Eugens Unterweisungen sowohl in Dialogen als auch in selbstreflexiven (gedanklichen) Monologen zur Sprache gebracht. Man darf noch weitergehen: Alle in den Dialog tretenden Personen des Romans sind gleichzeitig didaktisierend. Der Leser bekommt den Eindruck, als nutze Auerbach jede mögliche Instanz, um belehrende Impulse weiterzugeben. Dass es auch dort ein Zuviel geben kann, hat wohl auch er selbst erkannt und schreibt rechtfertigend in seinem Vorwort zu der Überarbeitung: „Der Versuch, Charaktere darzustellen, deren Anschauungen und Bestrebungen sich unter den gegebenen Verhältnissen nicht in Thatsachen erfüllen lassen, führt nothwendig zu Reflexivem und Didaktischem.“

Auch den Vorwurf charakterlicher Uneindeutigkeit der Figuren, insbesondere Eugen Baumanns, mag der Leser nachvollziehen können: So ist vor allem Eugens Motivation, die ihn zu seinen Taten antreibt, bis zum Schluss unklar und scheint sich auch im Laufe des Buches zu verändern. Handelt er aus Ehrsucht, wie einige Textstellen implizieren, als selbstloser Diener des Gemeinwohls oder doch nur angetrieben von der Sehnsucht nach der vermissten Mutter? Dass Kritiker diese Widersprüchlichkeiten beanstanden, ist verständlich.

Schwerer fällt es, eine abschließende Einschätzung des ‚Tendenzcharakters‘ von „Neues Leben“ vorzunehmen. Tatsächlich ist nicht außer Acht zu lassen, dass der Roman auch, und vielleicht in erster Linie, eine politisch und sozialkritisch motivierte Schrift darstellt, welcher in einer nachrevolutionären Gesellschaft zweifelsohne eine gewisse propagandistische Intention zugrundeliegt.

Dem mag widersprechen, dass Auerbach, wie vielfach kritisiert, nicht klar Partei bezieht, politisch und sozialkritisch nicht Farbe bekennt. Ein Erklärungsmodell wäre, seine mangelnden politischen Kenntnisse, die schon Julian Schmidt als Weggefährte erkannte, dafür verantwortlich zu machen. Plausibler jedoch scheint noch ein anderer Punkt zu sein: Horst Brandstätter bemerkt in anderem Zusammenhang, dass viele Autoren dieser Zeit „formale Wehen“, den Gesellschaftsroman betreffend, zu durchleiden hatten. Als Beispiel nennt er Karl Gutzkow mit seinem Werk „Die Ritter vom Geiste“, der damit im Gegensatz zu Auerbach tatsächlich eine neue Theorie des Romans entwerfen wollte. Gutzkow vertrat die These, dass statt einem, bis dahin üblichen Nacheinander, nun ein Nebeneinander der Handlungsstränge die gesellschaftliche Situation besser widerspiegeln solle. Ganz sicher beeinflusste diese Haltung auch Auerbach und bewegte ihn zum gleichberechtigten Nebeneinanderstellen verschiedenster Sichtweisen und Positionen.

Seine Charaktere zeichnen sich dadurch aus, dass sie lernfähig und lernbereit sind: Immer wieder zeigt sich Eugen selbst als – um mit Brandstätter zu sprechen – „Suchender“ und Lernender und seine Position wird nie als einzig richtige dargestellt. Ob dies auf einem Missverständnis des von Gutzkow propagierten „Roman des Nebeneinander“ beruht, das der Geschichte die politische und poetische Brisanz nahm, wäre zu diskutieren.

Dass „Neues Leben“ bei weitem nicht den von Auerbach gewünschten und erwarteten Erfolg erlangte, dürfte deutlich geworden sein. Traurig erkannte er selbst, dass sein literarisches Herzstück – am Rande sei erwähnt, dass er sogar seinen Sohn nach Eugen Baumann benannte – vielfach kompositorische und inhaltliche Mängel aufweist, die sich wohl mit dem Schlagwort ‚zu viel‘ charakterisieren lassen: Zu viele parallele Handlungsstränge, zu viele, für die Geschichte irrelevante Figuren, zu viele Phrasen und Wortspielereien, zu viele verschiedene Ziele der Hauptfigur und schließlich zu viele widersprüchliche und ungeordnete politische, pädagogische und gesellschaftskritische Standpunkte.

„In ‚Neues Leben‘ wollte ich zuviel auf einmal“, lautete das resignierte Fazit des Autors, dem an dieser Stelle leider nur zugestimmt werden kann.