St. Pölten als Nabel der Welt

Manfred Wieningers kleiner Reportagenband „Das Dunkle und das Kalte“ führt an die Schauplätze seiner Marek-Miert-Romane und setzt Erinnern gegen Vergessen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt den St. Pöltener Autor Manfred Wieninger als Erfinder des Diskontdetektivs Marek Miert. Sechsmal war der seit der Jahrtausendwende unterwegs – zuletzt in dem Roman „Prinzessin Rauschkind“ (2010). Aber Wieninger zählt nicht nur in die erste Reihe jener österreichischen Autoren, die den alpenländischen Kriminalroman in den letzten beiden Dekaden revolutionierten. Der heute 48-Jährige hat sich zuvor in vielerlei Berufen ausprobiert, unter anderem als Lokal- und Sportjournalist.

Lokales und Sportliches bietet auch Wieningers aktuelle Buchpublikation „Das Dunkle und das Kalte“. Aber ob es in dieser Reportagensammlung nun um das St. Pöltener Fußballidol Franz Binder geht, den alle „Bimbo“ nannten, oder dem Schicksal jener Zwangsarbeiter nachgeforscht wird, an die man sich in der beschaulichen Landeshauptstadt Niederösterreichs nur ungern erinnert – Wieninger lässt nie einen Zweifel daran aufkommen, wem seine Sympathien gehören. Und wie sein immer klammer und trotzdem den Genüssen des Lebens verfallener Romanheld geht er den Dingen auf den Grund, mag dieser auch noch so schmutzig sein.

Im scheinbar Provinziellen das Urbane entdecken, in den gesellschaftlichen Randzonen Kernprobleme festmachen – das ist Wieningers Programm. Wo „im Zeitalter der elektronischen Medien… eine Berliner oder Frankfurter, eine Wiener oder Grazer Wohnadresse längst nicht mehr vonnöten (ist)“, vermag auch die 52.000-Einwohner-Stadt St. Pölten zum Nabel der Welt zu werden. Was deren Straßennamen über die wechselvolle Geschichte der Stadt und ihre Einwohner zu erzählen wissen, hat Manfred Wieninger schon vor zehn Jahren lexikalisch erfasst („St. Pöltener Straßennamen erzählen“, 2002). Nun gilt sein Interesse den Geheimnissen unter dem Pflaster und jenen Winkeln seiner Heimat, die so dicht mit Folklore verstellt sind, dass man die Verhängnisse der Vergangenheit dahinter kaum mehr wahrnimmt.

Aber man muss gar nicht tief graben, um beispielsweise in der Viehofner Au nördlich von St. Pölten auf die Überreste von Zwangsarbeiterlagern aus der Nazizeit zu stoßen. Wo in der Gegenwart ein beliebtes Ausflugs- und Erholungsgebiet sich dehnt, standen noch bis in die 1960er-Jahre die primitiven Unterkünfte jener Männer, Frauen und Kinder, die während der Nazizeit in der St. Pöltner Glanzstoff-Fabrik und anderswo Sklavenarbeit verrichten mussten. Im fünften Marek-Miert-Roman, „Rostige Flügel“ (2008), vermittelt Wieninger einen Eindruck davon, gegen welche Mauer des Schweigens derjenige anrennt, der sich heute noch für das Schicksal jener weitgehend Vergessenen interessiert. „Auch die hiesigen Lokalhistoriker haben über sechzig Jahre lang noch nicht einmal das Wort Zwangsarbeiter niedergeschrieben“, lässt er dort die Frau eines Buchhändlers klagen, dessen Engagement für das tief ins kollektive Unterbewusstsein Verdrängte auf veritablen Widerstand stößt. Vor den Ewiggestrigen zu kuschen fällt jedoch weder Wieningers Romanfigur ein noch dem Autor-Reporter selbst.

So erzählt er im bewegendsten Kapitel dieses Buches die Geschichte eines bis heute nicht aufgeklärten Verbrechens. Im westlich von St. Pölten gelegenen Hofamt Priel wurden in der Nacht auf den 3. Mai 1945 – in Wien amtierte zu diesem Zeitpunkt bereits die erste provisorische Nachkriegsregierung unter Karl Renner als Kanzler – 223 Insassen eines so genannten Judenauffanglagers von der SS erschossen. Dass bei dem Massaker auch Einheimische die Hände im Spiel hatten, ist wohl mehr als nur ein Gerücht. Trotzdem gelingt es dem mit dem Fall befassten Revierinspektor Franz Winkler, stellvertretender Kommandant des zuständigen Gendarmeriepostens Persenbeug, nicht, den Schuldigen zu ermitteln. Örtliche NSDAP-Funktionäre verweigern die Zusammenarbeit, lokale Zeugen fürchten Racheakte, sollten sie der Wahrheit gemäß aussagen. Immerhin schafft es der Polizist, die wenigen Überlebenden des Massakers in Sicherheit zu bringen. Mit Winklers Versetzung im Januar 1946 kommen die Ermittlungen, die ohnehin nur schleppend vor sich gegangen sind, dann vollständig zum Erliegen.

Von der ungesühnten Tat zeugen bis heute Fotos der Ermordeten, die der Wiener Privatangestellte Klemens Markus am Vormittag nach der Mordnacht aufgenommen hat. Drei von ihnen haben es zuletzt in einen Bildband mit überwiegend idyllisch-lokalhistorischem Charakter geschafft und sorgen so für Beunruhigung in einer Zeit, in der niemand mehr weiß, wo sich die Gräber der Ermordeten befinden, und nur wenige sich noch dafür interessieren, was damals wirklich geschah.

„Das Dunkle und das Kalte“ vereint, in vier Teile untergliedert, 17 Reportagen eines im besten Sinne „engagierten“ Autors. Dessen „vehemente, immer wieder aufkeimende Passion für die Stadtgeschichte der nunmehrigen niederösterreichischen Landeshauptstadt“ St. Pölten entstand aus einem seit seiner Kindheit empfundenen Defizit. Statt ihn nämlich mit dem genius loci zu infizieren, begnügten sich seine Eltern als „Zuagraste“ (Zugereiste) damit, ihn mit den Ereignissen ihrer andernorts spielenden Familiengeschichte vertraut zu machen. So weckten die Straßen- und Flurnamen der Umgebung, in die Wieninger als erster seiner Sippe hineingeboren wurde, schon früh sein forschendes Interesse. Es ist bis heute nicht erlahmt. Im Gegenteil: Sein nächster – ein dokumentarischer – Roman wird sich des Schicksals jenes Revierinspektors Winkler annehmen, dem schon der vorliegende Band ein kleines Denkmal gesetzt hat. Marek Miert macht derweil eine (hoffentlich nicht allzu lange) Pause. Der Vergangenheit, die weniger vergangen ist, als manche meinen, wird das nur recht sein.

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Manfred Wieninger: Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs.
Edition Mokka, Wien 2011.
151 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783902693303

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