Das empfindelnde Ich, seine entschlossenen Anhänger

Neues von und über Martin Walser

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste der beiden hier zu besprechenden Bücher vereint Reden und Aufsätze des umstrittenen Autors, die innerhalb der letzten beiden Jahre entstanden sind. Die sieben Texte, die Walser nun zusammengestellt hat, scheinen auf den ersten Blick thematisch und in ihrer Haltung sehr unterschiedlich zu sein. Als der eine Pol erscheint die zwei Jahre alte Friedenspreisrede: Walsers Aufruf, die Erinnerung an den Völkermord an den Juden jeder öffentlichen Diskussion zu entziehen, darüber hinaus ein deutlicher Angriff auf jede kritische Intelligenz überhaupt. Hierher gehört auch der spätere Essay "Über das Selbstgespräch", der eine Art Poetologie der Rede zu sein vorgibt; nur vorgibt, denn dem genaueren Hinsehen erschließt sich die Rede (wie auch der Essay) als wohlkalkuliertes, adressatenbezogenes Gebilde, nicht aber als öffentliche Selbsterforschung, in deren Verlauf der Autor sich der Dynamik der Sprache überließe. Nur anfangs wirkt Walser im Essay kompromissbereiter, wenn er jedem, dem Dichter wie dem meinungsbildenden Journalisten, die eigenen Sichtweise zugesteht. Das ist rhetorischer Trick, der nur die mittlerweile gewohnte Klage über mäkelnde Intellektuelle vorbereitet, die immer noch hier und dort Einwände haben.

Den Gegenpol scheinen Beiträge zu bieten, die auf der Oberfläche mit Politik nichts zu tun haben: "Rühmliche Heimat" - dem Titel entgegen keine Verherrlichung von Blut und Boden, sondern eine Reflexion über Hölderlins Gedicht "Mein Eigentum", die nur leicht durch Kulturpessimismus und der Klage über das angebliche Verbot, zu rühmen und von Heimat zu sprechen, beschädigt ist. Und der umfangreiche Essay "Über die Schüchternheit" scheint schon per Themenstellung weit vom auftrumpfenden Ich entfernt, das vor zwei Jahren mit aggressivem Gestus Geschichtspolitik betrieb.

Dennoch handelt es sich um mehr als um ein Zufallsprodukt, das im Rahmen des fünfzigjährigen Suhrkamp-Jubiläums zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde, was an Neuerem bisher von Walser verstreut vorlag. Setzt man die offenkundig politischen Texte mit den scheinbar unpolitischen in Beziehung, so ergeben sich deutliche Parallelen. Die erste und wichtigste liegt in der hemmungslosen Subjektivierung der Welt. Eine Schlüsselpassage der Rede bezieht sich auf Berichte über Würstchenbuden, die vor brennenden Asylbewerberheimen aufgebaut wurden. Walser nun findet das schrecklich, und hat recht damit. Weil aber er es schrecklich findet, kann und will er es sich nicht vorstellen - und schließt daraus, dass es die Buden nie gegeben habe. Diejenigen, die über sie berichten, erscheinen ihm deshalb als Feinde, die das deutsche Volk verletzen wollen. Eine Diskussion über Realität erscheint unter diesen Voraussetzungen sinnlos.

Dieses Schema zieht sich durchs ganze Buch; materielle Gegebenheiten werden durchgehend geleugnet. "Ob uns der CO-2-Ausstoß zur Katastrophe wird, hängt davon ab, ob uns Liebe mehr liegt als Gleichgültigkeit oder Haß", heißt es im einleitenden Text "Ich vertraue. Querfeldein", der dem Buch den Titel gab; Klimaforscher könnten diese Behauptung korrigieren. Im Selbstgespräch-Essay distanziert sich Walser von seiner linken Vergangenheit. Die einst vertretene These, der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit sei immer noch ungelöst, mag er nicht wiederholen, denn: "Heute könnte ich diesen Satz nicht mehr sagen. Ich wäre in ihm nicht mehr enthalten. Ich glaube, ich war auch damals nicht enthalten in solchen Sätzen. Heute hoffe ich, daß diese Art, Kapital und Arbeit einander entgegenzusetzen, von Anfang an zu abstrakt war."

Wie das nun sich verhält mit Kapital und Arbeit, das wäre ökonomisch zu diskutieren. Es ist keine Schande, frühere Behauptungen zu revidieren; ebensowenig, sie gegen den Trend weiterhin zu vertreten. Hier aber entscheidet nicht die Sache, sondern das Gefühl, das Walser gerade für authentisch erklärt. Die spätpubertäre Selbstbezogenheit eines immerhin gut 70jährigen wird deutlich, wenn er im Selbstgespräch-Essay die vorgeblich "reine Innerlichkeit" eines Augustinus zum Vorbild erklärt, wenn er eine "Stimme von innen" propagiert: "Ausdruck statt Einsicht. Existenz statt Erkenntnis. Wesen statt Wissen."

Walser verlangt nichts weniger, als dass sein Fühlen zur Richtlinie der Welterklärung werde. Im abschließenden Essay über die Sprache und sein Schaffen stellt er zunächst zutreffend fest, dass die Welt "von selbst keinen Sinn hat". In leichtfertiger Vereinfachung löst er im Verlauf seiner folgenden Darlegungen mit dem Sinn auch gleich das Faktische auf; und es bleibt die Sprache, die Wirklichkeit erzeugt: "Sprache, sonst nichts". Der Schreibende wird als Schöpfer der Welt explizit mit Gott verglichen: "Du müßtest hinschreiben, dass die Welt durch dich erschaffen wurde." Dabei ist Sprache, das Mittel der Weltschöpfung, kein Mittel, sondern das Ich selbst: "Genau genommen, stellt, die Sprache nichts dar außer sich selbst. Aber das sind eben wir."

Die poetologische Ideologie ist geeignet, Walsers politische Praxis zu erklären. Pragmatisch betrachtet war sein Verhalten im Streit mit Bubis ungeschickt: Mit einer lauen Distanzierung von der extremen Rechten, mit zwei oder drei verständnisvollen Sätzen zu Bubis' Erleben als Opfer des deutschen Faschismus hätte Walser seinen Verteidigern den Streit erleichtert, ohne politische Substanz aufzugeben. Seine Variante rechter Geschichtspolitik indessen ist konsequent individualistisch: Dem isolierten Sprachsubjekt ist jeder Austausch mit anderen unmöglich, wie auch jedes Verständnis für fremde Erfahrung - und konsequent wirft der Autor dem früheren Ghetto-Häftling Bubis vor, sich nicht früh genug mit Auschwitz befasst zu haben.

Man sollte sich deshalb hüten, Walsers Kritik am Universalismus, die insbesondere im Eingangsessay auftaucht, als konkrete Kritik an der westlichen Politik zu deuten. Walser will nicht andere Werte als die des Neoliberalismus, er wünscht sie nicht in anderer Form umgesetzt, sondern er weist überhaupt jede Form des Zwangs zur Bekehrung zurück. Globalisierung und missionierende Kirche sind in diesem Text parallelisiert und gleichermaßen abgelehnt - nicht zugunsten einer wirklichen Befreiung, auch nicht zugunsten einer Staatsordnung, die das schlimmste völkische Morden verhindern könnte, sondern zugunsten einer isolierten Authentizität.

Im längsten Text des Buchs äußert Walser Sympathie für Hecker, den Revolutionär von 1848, der einen absehbar hoffnungslosen Operettenkrieg im deutschen Südwesten inszenierte. Walser rechtfertigt Heckers Pathos und Illusionismus, setzt Marx' und Engels' Realitätsprinzip ins Unrecht, weil ihm Hecker authentisch scheint und als Verlierer; Marx und Engels dagegen, real damals machtlose Publizisten, erscheinen in Walsers Darstellung als Vorläufer politisch prägender Macht im 20. Jahrhundert. Das führt zu zwei Problemen.

Das erste: Heckers Geschichte erscheint in Walsers Darstellung konkretisiert. Reale Orte kennzeichnen seinen Weg. Sieg der konkreten Erfahrung, die zu vermitteln wäre? Nein. Denn das Konkrete, wie immer beim Walser der letzten Jahre, muss Erfahrung signalisieren, steht also nicht für sich, sondern für die Weltanschauung des Autors und ist deshalb gerade abstrahiert.

Zweitens ist Hecker Verlierer, wie die Schüchternen, denen Walser eine eingehende Betrachtung widmet. Das Prinzip, das Walser überall entdeckt, ist die Macht. Macht, Hierarchien, erscheinen als allgegenwärtiges Phänomen: sei es die Abhängigkeit des Schriftstellers von der gesellschaftlichen Erwartung, die im Hölderlin-Essay thematisiert ist, sei es die Machtbalance in Liebesbeziehungen, sei es eine umfassende gegenseitige Verletzung, wie sie in "Über das Selbstgespräch" abgewogen wird. Abgewogen: Denn Walser ist fixiert auf Quantitäten. Jeder Liebende ist genau um so viel mächtiger oder machtloser, als er mehr oder weniger liebt als die Andere. Hat jeder genauso oft verletzt wie er verletzt wurde, so herrscht ein "Kosmos der reinen Gerechtigkeitsharmonie"; aber selbstverständlich gibt es das nicht. Kurz: Was mit Macht zu tun hat, ist zentral, und es ist konsequent quantifiziert, als könne man ein, zwei, drei Lieben zählen, als wöge eine Verletzung genau die andere auf. Historische Zusammenhänge in der Vergangenheit, Verständigungsmöglichkeiten in der Zukunft verblassen angesichts dieser Rechnerei mit natürlich unbekannten Zahlen. Auch hier wird erschreckend verständlich, aus welcher Konsequenz Walser kausale Beziehungen zwischen früheren deutschen Verbrechen und heutigen "Beschuldigungen" in der Friedenspreisrede zurückwies. Er wird blind für Macht, gerade weil er sie überall sieht und ihm alles eins wird: Liebe, Holocaust, sein Verleger, die bösen Linksintellektuellen und ihre Medien - egal.

Für Walser-Gegner bietet der Band also einiges an Material - und für seine Freunde? Wenig. Denn allzu vieles wiederholt sich, im Buch selbst, und auch verglichen mit früheren Werken Walsers. Fasziniert vom Verlierer war er schon vor vierzig Jahren, die Gedanken zur Sprache formuliert Johann im "Springenden Brunnen" wenn schon nicht besser, so doch wenigstens nicht schlechter. Die Sprache mäandert unentschieden; wo ein klarer Gedanke steht, verwischt ihn der folgende Satz. Dies als Signum der Moderne zu sehen, täte der Moderne unrecht; hier ist es einfach Schlamperei, ineins mit trüber Ich-Fixierung. Eine Freude mag die Sammlung allenfalls sein, wenn man Walsers Ressentiments teilt, ohne sie sich klar eingestehen zu können.

So unklar Walser, politisch-poetologisch bestimmt, sich gibt, so klar formulieren einige seiner Rezipienten. Martin Dietzsch, Siegfried Jäger und Alfred Schobert vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) haben sich einer wenig vergnüglichen Tätigkeit unterzogen: nachzuschauen, ob Bubis' Vorwurf, nun könnte sich die extreme Rechte auf einen angesehenen Schriftsteller berufen, zutrifft.

Die Herausgeber wühlen im Dreck und finden Dreck. Ihre Dokumentation ist eine sinnvolle Ergänzung zu der später erschienenen Sammlung Frank Schirrmachers (vgl. literaturkritik.de ). Während Schirrmacher alles weglässt, was rechts von der "Frankfurter Allgemeinen" liegt, wird hier deutlich, dass das gesamte fragliche Spektrum Walser bejubelte. Das beginnt mit der Vertriebenenpresse und mit Zeitschriften, die zwischen dem rechten CDU-Flügel und noch unerfreulicheren Gruppierungen anzusiedeln sind, wie dem "Deutschland-Magazin" oder den "Mitteilungen der Gesellschaft für Kulturwissenschaft" des nationalkonservativen Philosophen Günter Rohrmoser. Das setzt sich fort mit zahlreichen Beiträgen etwa in der "Jungen Freiheit", in der 1998 der mittlerweile bei der NPD angelangte Horst Mahler in Anschluss an Walser über "die moralische Weltanschauung als geistiges Besatzungsregime" fabulieren durfte. Die "Junge Freiheit" begreift sich selbst als intellektuell, und so fühlt Mahler sich zu trüben Versuchen in Philosophie ermutigt: Mit einem zurechtgestauchten Hegel begreift er den Holocaust als Manifestation des "absoluten Geists".

Spürbar dumpfer wird es bei der Parteipresse; "Der neue Republikaner", die der DVU nahestehende "Deutsche National-Zeitung", das "National-Journal" der NPD erklären auf fortschreitend niedrigerem sprachlichen und argumentativen Niveau Walser zu ihrem Helden; ebenso die "Deutsche Bürgerinitiative" Manfred Roeders, der nach mehrjähriger Haft wegen terroristischer Aktivitäten nun wieder in Freiheit agieren kann, und andere neonazistische Organe.

Auffällig ist zunächst, dass in mehreren Beiträgen Walser ausführlich zitiert ist. Nicht aufgrund isolierter Wendungen, sondern gestützt auf ganze Absätze der Rede entwickelt die radikale Rechte ihre Gedanken. Beweist auch die Rezeption nichts gegen den Autor, so deutet sich hier doch an, das Walser es seinen neuen Freunden relativ leicht macht. Auffällig ist allerdings auch, dass sich der Ton, verglichen mit Walser, verschärft. Die Rede zeichnet den kritischen Intellektuellen als Feindbild; die Rezipienten, die schon Bubis' Reaktion kennen, verstärken die in der Rede nur vagen antisemitischen Akzente und gehen, ermuntert durch den Debattenverlauf, zu deutlicheren Drohungen über. Dass Walsers Kritiker besser im eigenen Interesse den Mund halten sollten, zieht sich durch mehrere der Beiträge.

Nicht alleine die Dokumentation ist nützlich, sondern auch die ausführliche Einleitung des Mitherausgebers Alfred Schobert. Seine These, Walser sei von der extremen Rechten nicht missverstanden worden, begründet er auf mehreren Ebenen. Zunächst benennt er argumentative und sprachliche Parallelen: etwa die Forderung, die Deutschen sollten ein ganz normales Volk sein. Schobert erinnert auch an frühere Äußerungen Walsers, insbesondere dessen Vorschlag, den in den 20-er Jahren hingerichteten Rechtsterroristen Schlageter zu rehabilitieren; und daran, dass Walser in diesem Zusammenhang sich schon 1981, lange vor der Paulskirchenrede, positiv auf Heidegger bezog, nämlich auf dessen Rede im Mai 1933, in der der vom Faschismus begeisterte Philosoph Schlageter seinen Studenten als Vorbild darstellte. Prägnante Charakterisierungen der in der Dokumentation vertretenen Zeitschriften und Autoren beschliessen die Einleitung und erlauben es auch dem Leser, der sich in diesem Spektrum nicht auskennt, den Stellenwert der Fundstücke einzuordnen.

Zwei Blöcke ergänzen die Dokumentation. Eine "Vorgeschichte" bringt Beispiele, wie schon vor 1998 die extreme Rechte Walser rezipierte. Der Abschnitt "Extremismus der Mitte" versammelt Beiträge aus angeseheneren Organen, die sich im Inhalt vom Hauptteil kaum unterscheiden. Augsteins Tiraden im "Spiegel", ein Interview mit Mahler im "Focus", eine Leserbriefauswahl aus der "Frankfurter Allgemeinen" deuten immerhin an, dass die Grenze zwischen guten Demokraten und bösen Extremisten weniger klar ist als gemeinhin behauptet. Mehr aber ist im beschränkten Rahmen dieser Dokumentation nicht möglich; die vielfältigeren Reaktionen in der etablierten Öffentlichkeit sind durch die wenigen Beispiele nicht ausreichend erfasst. Vorzug wie auch Nachteil der wiedergegebenen Texte ist zudem ihre Deutlichkeit. Wie im scheinbar skrupulösen Abwägen dennoch extreme Muster einfliessen, wäre allein einer qualitativen Interpretation zugänglich; denn nicht jeder schreibt so plump wie Augstein.

So unvollkommen dieser Anhang ist, so notwendig war er. Aktuelle Verbotsdebatten sollten nicht davon ablenken, dass rechte Denkmuster in der Mitte schon lange Fuß gefasst haben. Der Schriftsteller Walser, mit seinen Anhängern hier wie dort, steht dafür exemplarisch; und die Dokumentation hilft, ihn angemessen zu beurteilen.

Titelbild

Martin Walser: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
168 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3518411586

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