Die kleine Schwester

Marion Braschs Buch „Ab jetzt ist Ruhe“ kann sich nicht entscheiden, ob es lieber Roman oder Autobiografie sein will – ist letztendlich aber keines von beiden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marion Brasch ist die Schwester des Schriftstellers und Regisseurs Thomas Brasch (1945-2001), des Schauspielers Klaus Brasch (1950-1980), des Dramatikers, Prosa- und Hörspielautors Peter Brasch (1955-2001) sowie die einzige Überlebende einer Familie, in die sich die Widersprüche der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders tief eingegraben haben. Ihrem Buch „Ab jetzt ist Ruhe“ kommt insofern etwas Exemplarisches zu, weil keine erfundenen Figuren in ihm handeln, sondern Personen der Zeitgeschichte. Die biografischen und historischen Konstellationen, in die Letztere von der Autorin gestellt werden, halten einer Überprüfung stand – und auch wenn Zeitgenossen wie Heiner Müller, Wolf Biermann oder Katharina Thalbach nie bei ihren Namen genannt werden, sind sie doch klar erkennbar. Den Text als „Roman“ zu verkaufen, ist deshalb nicht unproblematisch. „Für eine Autobiografie fühle ich mich noch nicht alt und auch nicht interessant genug“, begründet die Autorin ihre Entscheidung. Doch schaut man genauer hin, findet man nicht allzuviel Fiktives an diesem Text und auch die gewählte Ich-Perspektive, aus der heraus die Geschichte „einer fabelhaften Familie“ erzählt wird, muss unter genretechnischen Aspekten als eher unkluge Entscheidung angesehen werden.

„Ab jetzt ist Ruhe“ bezieht sich auf ein Ritual, mit dem die jüngsten beiden Brasch-Geschwister – Peter und die 1961 geborene Marion – von der Mutter Abend für Abend ins Bett gebracht wurden. Die Zeiten jedoch, von denen das Buch erzählt, waren alles andere als ruhig. Kam der 1946 aus England in die sowjetische Besatzungszone übergesiedelte Horst Brasch (1922-1989) mit seiner kleinen, dreiköpfigen Familie – die Kinder Klaus, Peter und Marion wurden erst in Ostberlin geboren – nach Deutschland zurück, um sich dort am Aufbau einer besseren Gesellschaft zu beteiligen, stießen die begabten Söhne auf der Suche nach ihrem Platz im Leben schnell an Grenzen, die sie nicht bereit waren zu akzeptieren. Dem in der Nomenklatura der Partei schnell aufgestiegenen Vater – Brasch war von 1965 bis 1969 stellvertretender Kulturminister der DDR, später Generalsekretär der Liga für Völkerfreundschaft – erschwerte die Revolte seiner Söhne nicht nur die Parteikarriere. Als Angehöriger einer Vätergeneration, die glaubte, aus den Fehlern der Vergangenheit das Richtige gelernt zu haben, vermochte er es auch zeit seines Lebens nicht, Verständnis für die Probleme seiner Kinder aufzubringen.

Marion Brasch dokumentiert das Auseinanderdriften zweier Generationen anhand vieler Episoden aus dem Familienleben. Immer wieder kommt es zwischen den Söhnen und ihrem starrsinnigen, dogmatisch auf der Richtigkeit seines Lebensentwurfes beharrenden Vater zu Streitereien. Der gute Vorsatz der kleinen Schwester, zwischen den Parteien ausgleichend zu wirken, lässt sich bei den Charakteren, die hier aufeinandertreffen, kaum verwirklichen. Und so finden nach der Ausreise des ältesten Bruders aus der DDR im Zuge der Biermann-Affäre viele Treffen der Geschwister nur noch hinter dem Rücken des Vaters statt.

Braschs Roman erzählt linear die Geschichte einer Familie zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des dritten Jahrtausends. „Ab jetzt ist Ruhe“ ist durchaus vergleichbar mit Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Auch hier findet man die Problematik eines gesellschaftlichen Neubeginns, der von zunehmend wirklichkeitsblinder werdenden Akteuren vor die Wand (respektive die Mauer) gefahren wird. Zwei Familien, in denen eine starrsinnige ältere Generation nicht bereit ist, sich mit den Wünschen, Plänen und Ideen der Jüngeren auseinanderzusetzen. Und beide Male ein daraus resultierender Riss zwischen den Generationen, der schon sehr früh darauf hindeutete, dass das „Projekt Sozialismus“ sich wohl kaum über die Lebenszeit jener, die es in den späten 1940er- beziehungsweise frühen 1950er-Jahren angeschoben hatten, hinaus verlängern ließe. Allein die literarische Qualität ist bei Ruge eine andere. Dessen mal tragisches, mal humorvolles Puzzle von Erzählstimmen ist immer darauf bedacht, unterschiedliche Aspekte der gelebten Wirklichkeit in all ihrer Widersprüchlichkeit transparent zu machen. Das gelingt nicht in jedem der raffiniert miteinander verflochtenen Kapitel, aber dort wo es gelingt, entsteht unterm Strich eben mehr als eine Familiengeschichte, nämlich ein Gesellschaftspanorama, in dessen einzelnen Façetten sich Leser, die im Osten Deutschlands nach dem Kriege aufgewachsen sind, wiederzuerkennen vermögen.

Bei Marion Brasch hingegen will diese Ausweitung vom Persönlichen ins Gesellschaftlich-Historische, die den Roman im klassischen Sinne ja erst zu einem Roman machen würde, nur selten gelingen. Gelegentlich kann man sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, unerlaubterweise Einblick zu nehmen in – selten reflektierte oder in größere Zusammenhänge gestellte – Tagebuchpassagen eines jungen Mädchens beziehungsweise einer jungen Frau. Ein Treffen mit Yasser Arafat in der Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“, etliche Liebesaffären, Bulimie, berufliche Tiefschläge nach der Wende – treuherzig werden biografische Stationen nacherzählt, ohne dass in vielen Fällen das „Warum?“ beziehungsweise das „Warum gerade das?“ deutlich würde. Und auch die Gliederung des Ganzen – ein Prolog, zwölf Kapitel, ein Epilog – erscheint eher willkürlich.

Marion Braschs Familiengeschichte „Ab jetzt ist Ruhe“ ist nicht das, was sie nicht sein will (eine Biografie), aber auch nicht das, was sie zu sein vorgibt (ein Roman). Denn die manchmal reichlich ungeschickte Verschlüsselung von Personen und Fakten der Zeit-, Kultur- und Literaturhistorie – „Er sah ein Interview mit einem Sänger, den er kannte… Der Sänger trug einen Schnauzbart, der ihn, selbst wenn er lächelte, traurig aussehen ließ… Die Lieder des Sängers waren in der DDR verboten, und er durfte nicht auftreten… Doch jetzt, dieses eine Mal, ließ man ihn in den Westen fahren… Danach durfte der Sänger nicht mehr in die DDR zurück…“ – macht noch lange keinen Roman. Sie ist gelegentlich – denkt man etwa an nach 1989 geborene Leser, denen das Hintergrundwissen fehlt – sogar reichlich ärgerlich. Doch vielleicht schiebt die Autorin ja diesem Erstlingsbuch eine Biografie nach. Dass das Leben ihrer Familie für ein solches Unternehmen nicht interessant genug wäre, muss sie wirklich nicht befürchten.

Titelbild

Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
400 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100044204

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