Das alte Paris

Patrick Modiano erinnert sich ans Paris der 1960er-Jahre und lässt sich zur Nostalgie verführen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Großstadt Paris setzt sich aus kleinen Quartieren zusammen. Die Menschen leben in den Straßenzügen, genau wissend, wo ihre Territorien enden. Und dazwischen gibt es „neutrale Zonen“, Zwischenzonen, „wo man am Rand von allem und jedem war, auf Durchreise, oder sogar in der Schwebe“. So nennt sie der junge Bohémien Roland. Er arbeitet an einem Text darüber, doch das Schreiben geht ihm nicht leicht von der Hand.

Eine Zeit lang lebt eine geheimnisvolle Frau bei Roland in der Rue d’Argentine. Jacqueline, oder mit ihrem Spitznamen Louki, ist bei ihm zwischengelandet auf ihrem flatternden Flug durchs Leben. Louki macht Roland mit den Freunden im „Le Condé“ bekannt. Dieses Café in Saint-Germain-des-Près ist ein Treffpunkt der jugendlichen Bohème. Figuren aus der Kulturszene mischen sich mit jungen Menschen wie Louki und Roland, die auf der Suche nach einem Ort im Leben sind. Nach einem Bezugspunkt, an dem sich festhalten ließe.

In seinem schmalen Roman „Im Café der verlorenen Jugend“ erzählt Patrick Modiano von dieser Suche, die auch eine Suche nach Louki ist. In fünf Kapiteln wird ihr kurzes, unglückliches, zielloses Leben bis zum Sturz aus dem Fenster in Erinnerung gerufen, so weit die vier Erzähler darüber Auskunft zu geben vermögen. Unter diesen ist auch Louki selbst. Sie berichtet von ihren nächtlichen Touren als Fünfzehnjährige durch Paris, während die Mutter im Moulin Rouge ihrer Arbeit nachging. Mit 22 sucht sie Halt und Schutz in einer überstürzten Heirat mit einem 15 Jahre älteren Mann. Vergeblich. Sie verlässt ihn bald wieder, genauer, sie verschwindet einfach. Ihr einziger echter Fixpunkt wird der mysteriöse Guy de Vere, der ihr bei seinen Séancen interessante Lektüren mitgibt, Bücher etwa wie James Hiltons „Der verlorene Horizont“.

Patrick Modiano fängt diese melancholische Leere mit sensibler Präzision ein und begleitet Louki und ihre Freunde durch die Pariser Topografie der frühen 1960er-Jahre. Die einzelnen Quartiere sind Welten für sich, die nur verlassen werden für Treffpunkte wie das „Condé“. Sonst bleibt man in der vertrauten Umgebung, oder man verlässt diese willentlich, um sie gegen eine neue einzutauschen, um nicht mehr zurückzukehren und an das alte Leben erinnert zu werden.

Das alles erzählt Modiano souverän und stimmig. Allerdings lässt sich dabei ein nostalgischer Unterton nicht überhören. So traurig die Figuren wirken, so aufgeladen ist die Atmosphäre, die hier kreiert wird – mit dem Effekt, dass dadurch die Skepsis geweckt wird. Je tiefer man lesend in die melancholische Stimmung eintaucht, je mehr Vorbehalte weckt sie. Modiano ist ein großer Erzähler von Paris und seinen urbanen Reizen, keine Frage. Die Handlung bleibt hier aber eher rudimentär entwickelt. Vor allem fragt sich, warum er Louki selbst als Erzählerin einsetzt. Diese verliert dadurch bloß an Geheimnis. Und welche Funktion hat der leicht unmotivierte Detektiv als Erzähler des zweiten Kapitels?

Bei aller Könnerschaft scheint es dem Buch selbst unter der Oberfläche an Bezugspunkten zu fehlen. Seine gepflegte Pariser Topografie hat Modiano in anderen Büchern zwingender und brisanter mit Inhalt gefüllt. Als Porträt einer verlorenen Generation bleibt dieser durchaus leichte und schöne Roman allzu leichtgewichtig.

Titelbild

Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
158 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238565

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