Liebenswert gleich lesenswert?

Jonathan Franzens Thesen über Sympathie, Schönheit und Lesevergnügen

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Im New Yorker Magazine vom 12. 2. 2012 schreibt der US-amerikanische Romancier Jonathan Franzen, Jg. 1959, über die US-amerikanische Romancière (gibt es dieses Wort überhaupt?) Edith Wharton, Jg. 1862, zu deren 150. Geburtstag am 24. Januar. Franzen ist bekannt als ein Autor, der auch Schriftstellerinnen liest und schätzt. Seine enthusiastischen Rezensionen der Werke von Paula Fox und Alice Munro waren für deren Comeback (Fox) beziehungsweise Publikumserfolg sehr förderlich.

Aber auch ein Frauenversteher wie Franzen hat seine Grenzen. Oprah Winfrey befragte ihn nach seinen LieblingsautorInnen, und er produzierte eine Liste mit 27 AutorInnen, 18 Männer und 9 Frauen.

Nun also hat Franzen sich zu ihrem Jubiläum Edith Wharton vorgenommen und sinniert in seinem Essay „Edith Wharton and the Problem of Sympathy“ über die Frage, warum er ihre Romane mag, obwohl er die Autorin als Mensch eher unsympathisch findet. Die Frage mag ältere LiteraturliebhaberInnen überraschen, haben wir doch alle noch gelernt, das Werk als eigenständig aufzufassen und von seinem Autor (Autorinnen kamen seltener ins Blickfeld) strikt zu trennen. Franzen jedoch bekennt: „Je älter ich werde, umso mehr bin ich überzeugt, dass ein schriftstellerisches Werk den Charakter seiner AutorIn widerspiegelt.“ Und: „Ich vermute, dass Sympathie, oder ihr Fehlen, das literarische Urteil fast aller LeserInnen beeinflusst. Ohne Sympathie, sei es für die Autorin/den Autor oder für ihre Romanfiguren, wird ein fiktionales Werk uns schwerlich etwas bedeuten.“

Bis dahin konnte ich ihm gut folgen – obwohl der Umkehrschluss natürlich nicht funktioniert. AutorInnen mögen sympathisch sein und/oder sympathische Figuren kreieren, aber das garantiert noch lange nicht, dass ihre Werke uns etwas bedeuten (so lese ich weder Rosamunde Pilcher noch Karl May).

Franzen zählt dann auf, weshalb (ihm) Edith Wharton so unsympathisch ist: KeinE US-amerikanische SchriftstellerIn war privilegierter als sie (da war noch ihre jüngere Kollegin Amy Lowell, aber die schrieb Gedichte und Essays, keine Romane). Wharton entstammte der reichen New Yorker Oberschicht, war konservativ und selbstbewusst, Freundschaften mit Frauen hatte sie kaum; sie verkehrte lieber mit geistreichen Männern wie Henry James oder André Gide. Sie hatte allerdings eine Eigenschaft, die diese Nachteile ausbügeln und sie wieder sympathischer machen könnte: Wharton war nicht hübsch.

Ich wundere mich über diese höchst seltsame Liste von sympathieabtötenden „Nachteilen“ und schaue mir das mitgelieferte Foto von Wharton an: Nicht hübsch? Wie kommt Franzen denn auf diese Schnapsidee? Also wenn Wharton „nicht hübsch“ ist, dann ist Franzen selbst ein Ausbund an Hässlichkeit, und ich will Quasimodo oder Frankenstein heißen.

Es wird nun immer merkwürdiger. Franzen räsoniert: „Das Seltsame an der Schönheit ist nun aber, dass ihr Fehlen gewöhnlich weniger Sympathie auslöst als andere Formen der Benachteiligung. Im Gegenteil, Wharton könnte uns besser gefallen, wenn sie, neben all ihren anderen Bevorzugungen, auch noch ausgesehen hätte wie Grace Kelly oder Jacqueline Kennedy – und niemand wusste über die Fähigkeit der Schönheit, unser Ressentiment gegen Privilegierung zu überwinden, besser bescheid als Wharton selbst. Im Zentrum jedes ihrer drei besten Romane ist eine Heldin von außerordentlicher Schönheit, die absichtlich so ausgestattet wurde, um das Problem der Sympathie zu komplizieren.“

Auf der Prämisse der angeblich fehlenden Schönheit Whartons baut dann Franzen seine ganze weitere Theorie über die Rolle der Sympathie in der Romankunst im Allgemeinen und in der Kunst Whartons im Besonderen auf. Da die Prämisse nicht überzeugt, fällt das ganze Theoriegebäude in sich zusammen. Es ist einfach nicht hübsch.

Dass Franzen so auf Sympathie und Antipathie herumgeigt, wirft natürlich die Frage auf: Wie sympathisch ist er denn selber? Nicht sehr, leider. Was muss sich Wharton posthum von dem Rüpel nicht alles gefallen lassen:
• Mit Teddy Wharton war sie 28 Jahre lang verheiratet. Die Ehe war fast vollständig „sexless“ – und das habe vielleicht weniger an ihrem Aussehen als an ihrer sexuellen Unerfahrenheit gelegen. Auf die naheliegende Idee, dass es vielleicht an Teddy gelegen haben könnte, an seinem Wesen oder gar an seinem Aussehen, kommt Franzen gar nicht erst.
• Als Wharton sich endlich aus der Ödnis ihrer Ehe befreit hatte und eine Bestseller-Autorin geworden war, reagierte Teddy mit Abdriften in eine Geisteskrankheit und der Unterschlagung eines guten Teils ihres Erbes. – Franzen scheint zu denken, dass Wharton sowohl an Teddys Geisteskrankheit als auch an seinen Unterschlagungen schuld ist. Und dann hatte sie auch noch die Kälte, ihn seine Schulden abzahlen zu lassen und sich erst dann von ihm scheiden zu lassen! „Whartons Erfolg und Vitalität haben schlussendlich ihren Ehemann zermalmt“, behauptet Franzen allen Ernstes, und wir fragen uns: In welchem Jahrhundert lebt dieser Mann?!

Das Rätsel, dass Whartons Werke ihm etwas bedeuten, obwohl weder die Autorin noch ihre Figuren ihm sympathisch sind, löst Franzen wie folgt: Eine unsympathische Romanfigur wecke für gewöhnlich Sympathie, wenn eine Sehnsucht oder Begierde sie antreibt. Wir können angeblich nicht umhin, gemeinsam mit der Romanfigur das Ziel ihres Begehrens herbeizuwünschen und Hindernisse auf dem Weg zur Erfüllung, sie mögen so sympathisch sein wie auch immer, zu verwünschen. Kronzeuge der Franzen’schen Theorie ist das Ekel Raskolnikow, mit dessen Wunsch nach straflosem Verbrechen wir uns nolens volens solidarisieren.

Wharton gelingt laut Franzen derselbe Trick, indem sie ihren unsympathischen Heldinnen Lily Bart („The House of Mirth) und Undine Spragg („The Custom of the Country) einen unstillbaren Wunsch nach Reichtum und gesellschaftlichem Aufstieg mitgibt. Wir identifizieren uns wie willenlos mit dieser ihrer brennenden Begierde, obwohl Lily und Undine zwar bildschön, aber ansonsten oberflächliche und zutiefst unsympathische Frauen sind.

Und was erreicht Wharton damit, warum tut sie das? Entweder, weil sie sich in Schönheit hineindenken und Sympathie dafür entwickeln will, schlägt Franzen vor, oder um sich sadistisch an schönen Frauen zu rächen. Beide Heldinnen erreichen ihr Ziel nicht, und ihre Schöpferin, die ebenso unsympathische wie unschöne Romanautorin Edith Wharton, hat ihren Rachedurst befriedigt? Also wirklich! Ich hoffe doch, das glaubt nicht einmal Franzen.

Und überhaupt, was heißt schon „schön“ und „sympathisch“? Franzen lässt bei seinen Überlegungen außer acht, dass diese Werturteile für Frauen und Männer sehr unterschiedliche Bedeutung haben und sehr verschieden ausfallen. Er findet Wharton hässlich, ich nicht. Ich finde die meisten Romanautoren hässlich, wenn ich mir das mal genau überlege. Mit zunehmendem Alter werden sie naturgemäß meist noch hässlicher, mit Ausnahme des alten Fontane – aber wen schert das schon? Dostojewsky, Tolstoj, Henry James, Balzac, Hugo, Dickens, große Romanautoren, aber sowas von hässlich! Böll, Grass, Frisch – dass sie besonders hübsch waren oder sind, wird niemand behaupten. Und es interessiert auch niemand, nicht einmal Franzen, denn seinem Schönheitstest unterwirft er nur Frauen.

Die bedeutendste englische Romanautorin des 19. Jahrhunderts, George Eliot, wird (von Männern) immer als hässlich und pferdegesichtig beschrieben, während die Hässlichkeit Balzacs und Flauberts eigentlich kaum mal ein Thema ist. Eudora Welty litt zeitlebens unter ihrer angeblichen Hässlichkeit, desgleichen Eleanor Roosevelt.

Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters – das Maskulinum ist intendiert. Einem Menschen sein Aussehen vorzuwerfen, für das er nichts kann, ist nicht besser als Rassismus. Die neue Frauenbewegung hat dafür den Ausdruck „looksism“ erfunden: Diskriminierung aufgrund des Aussehens. Opfer dieser Diskriminierung sind fast ausschließlich Frauen. Männer fällen die Urteile, Frauen internalisieren sie und werden dadurch oft lebenslang behindert, im Wettbewerb um Männergunst gegeneinander aufgehetzt und dabei aufgerieben.

Franzen hat mich enttäuscht. Er ist mir unsympathisch geworden. Seiner eigenen Theorie zufolge werden mir seine Werke nun nichts mehr bedeuten. Da kann er durchaus recht haben. Statt Franzen werde ich nun erstmal reichlich Wharton lesen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glosse „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheint.