Widersprüchlicher Patriotismus

Hans-Martin Blitz ergänzt das Bild des 18. Jahrhunderts

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer der wichtigsten Streitpunkte der deutschen Nationalismusforschung gilt der Frage, wann genau ein anfangs friedfertiges, liberales Nationalbewusstsein in einen chauvinistischen Nationalismus umgeschlagen sei. Nach 1806, als ideologische Unterfütterung deutschen Widerstands gegen die napoleonischen Reformen? War erst das Scheitern der Revolution von 1848 der Wendepunkt, oder gar die Reichseinigung von 1871? Und welche Faktoren konnten einen solchen Wandel herbeiführen?

Nur wenige Historiker und Germanisten durchbrechen seit einigen Jahren den Konsens, das Nationalbewusstsein im 18. Jahrhundert jedenfalls sei, trotz vereinzelter Radikalismen, insgesamt ein weltbürgerlich-aufgeklärtes gewesen. Zu ihnen gesellt sich Hans-Martin Blitz mit seiner beeindruckend materialreichen Freiburger Dissertation. Er ordnet seinen Stoff in fünf Teilen an. Der erste bietet eine Art Vorgeschichte und kann bereits bei Hutten, Moscherosch und Lohenstein eine Abwertung besonders des Französischen nachweisen, die teils sogar bis hin zu Vernichtungsphantasien führt. Teil II stößt in den für das Buch eigentlich zentralen Zeitabschnitt vor und ist den Hermannsdichtungen Johann Elias Schlegels, Mösers, Schönaichs und Wielands gewidmet. Außer Wieland aktualisieren alle Autoren die antiken Schlachtberichte; mittels eines idealisierten Germanentums propagieren sie ein künftig mögliches Deutschtum. In wenn auch unterschiedlichem Maße ist das Deutsche bereits als Naturhaft-Einfaches gefasst. Erneute Vernichtungsphantasien und die moralisierende Konstruktion eines inneren Feindes zwecks Abgrenzung der wahrhaft Guten, der eigentlichen Deutschen, zeigen ein beachtliches Aggressionspotential schon um 1740. Der umfangreichste Teil der Arbeit ist der dritte, gewidmet der Propaganda im Siebenjährigen Krieg. Hier zieht Blitz neben Kunstdichtungen auch Flugschriften, Predigten und private Korrespondenzen heran und vergisst nicht, die vielfältigen Verklärungen des Todes fürs Vaterland mit der bedrückenden Lebensrealität der oftmals gezwungenen Söldner zu konfrontieren.

Im Siebenjährigen Krieg ist oftmals unklar, was mit "Vaterland" gemeint ist. Das Deutsche Reich? Das Landesterritorium? Die Heimatstadt? Oder bereits eine deutsche Sprach- und Kulturgemeinschaft? Im vierten Teil arbeitet Blick heraus, wie im Verlauf der Nationalgeist-Debatte 1765 der vage Begriff präzisiert und verengt wurde. Deutsch bezeichnete fortan eine sprachliche und kulturelle Gemeinschaft, und die Reichsidee ist zugunsten des Volksbegriffs zurückgedrängt. Der letzte Teil zeigt folgerichtig, wie diese Volksidee im Göttinger Hain und auch bereits von Klopstock in seinen vaterländischen Oden die Volksidee radikalisiert wird.

Vieles an Blitz' Arbeit ist außerordentlich positiv. Dazu gehören die sachliche, klare, leicht nachzuvollziehende Sprache und die eingehende Auseinandersetzung mit der Forschung der letzten Jahrzehnte, die in großen Teilen wegen der häufigen Vereinseitigung der weltbürgerlichen Komponenten der Aufklärung für Blitz kaum eine Hilfe darstellen konnte. Weil Blitz ihre Verdienste wie auch ihre Blindstellen verdeutlicht, ist das Buch auch als kurzgefasster Forschungsbericht nützlich.

Vorbildlich ist zudem, dass Blitz nicht nur jene Teile der Texte wahrnimmt, die seine Thesen bestätigen. Seine Textdeutungen sind, von ganz wenigen Lesefehlern abgesehen, zuverlässig. Konsequent verzichtet Blitz auf Vereindeutigungen; wo kosmopolitische, kriegskritische Elemente zu finden sind, benennt er sie auch. Das mag, etwa in seiner Interpretation von Lessings "Philotas", zu weniger neuen Erkenntnissen führen als er zunächst andeutet; doch sind ja behutsame Korrekturen häufig richtiger als provokative Neuerungen, die sich dann als unsinnig herausstellen.

Insgesamt stellt Blitz auf diese Weise ein umfangreiches Material von großer Überzeugungskraft vor. Es wird nachvollziehbar, wie die religiöse Aufladung des Vaterlands, wie zunehmend verinnerlichte moralische Abgrenzungen nach innen und nach außen mit bereits vorhandenen Feindbildern zusammentraten, wie sich der Vaterlandsbegriff immer weiter verengte und auch, wie der Vaterlandsdiskurs zu bestimmten Zeiten Mittel von Intellektuellen war, die sich auf dem allmählich wachsenden literarischen Markt platzieren wollten. Ebenso wird deutlich, dass die Vaterlandsdiskussion fast durchgehend gegen Despotismus gerichtet war und in immer grösserem Maße mit bürgerlichen Werten operierte - ohne deswegen revolutionär zu sein. Gleichzeitig mit dieser reformistischen Modernisierung sind jedoch auch rückwärtsgewandte Elemente festzustellen - die Begeisterung für Germanentum, heiligen Hain und Bardengesänge deutet Blitz als Kompensation von Modernisierungserfahrungen.

Genauso behutsam wie in seinen Interpretationen geht Blitz da vor, wo er Schlussfolgerungen zieht. Zu Recht betont er, dass trotz partiell gleicher ideologischer Entwürfe der Vaterlandsdiskurs des 18. Jahrhunderts noch weit von dem der beiden folgenden entfernt war. Er war nicht kontinuierlich ausgeprägt, sondern trat kurzfristig an politischen oder generationsspezifischen Umschlagpunkten auf. Auch erreichte er noch nicht die Masse der Bevölkerung.

Vorsichtig ist Blitz auch, wenn er auf der Basis seiner Ergebnisse eine Neubewertung des Patriotismus im 18. Jahrhundert versucht. Er will nicht das einseitige Bild vom 18. Jahrhundert als einer weltbürgerlichen Epoche durch die entgegengesetzte Verabsolutierung ersetzen. Im Gegenteil, er betont abschließend die "Janusköpfigkeit" der Nation, das "Nebeneinander von Emanzipation und Gewalt, kollektiv-freiheitlicher Selbstbestimmung und aggressiver Abgrenzung".

Das klingt nun allerdings beruhigender, als die vorangehenden Analysen es nahelegten. Ein "Nebeneinander" nämlich deutet an, dass das Unangenehme einfach hätte wegfallen können, dass im 18. Jahrhundert auch eine bessere Nationalisierung angelegt war, als sie sich dann vollzog. Doch vielleicht ist gerade dies nicht der Fall. Vielleicht geht schon früh in Deutschland die wenn auch behutsame Wendung gegen die Despotie der Fürsten einher mit Ideologien, deren völkischer Gehalt zumindest im Rückblick deutlich wird. Blitz betont ein Andererseits gegen das gewohnte Einerseits; möglicherweise jedoch ist beides identisch.

Die zuweilen mehr und häufig weniger aufgeklärten Despotien, die die Patrioten mit guten Gründen reformieren wollten, wären dann immer noch humaner gewesen als die vaterländischen Demokratismen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wüteten und nach 1990 in Osteuropa eine zum Teil blutige Renaissance erleben durften. Und den Rechtsintellektuellen heute, die Nation wollen und vorgeblich oder sogar wirklich sich von "Exzessen" des Nationalismus in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts distanzieren, wäre die Frage entgegenzuhalten: Wann eigentlich es die kosmopolitische Nation, auf die sie sich berufen, gab - und sei es nur in der Vorstellung. Blitz liefert Material gegen diese Illusion; und allein dadurch, was ablehnende Rezensionen wie die Harro Zimmermanns in der "Zeit" belegen, provoziert er den Konsens der Forschung. Die aktualisierende Frage, ob denn heute ein "normales" Nationalbewusstsein möglich sei, das von aggressiver Überspitzung nicht mehr berührt sei, lässt sich ohne Simplifizierung allein anhand historischen Materials sicher nicht beantworten. Wenn jedoch sogar das patriotische Vorzeigejahrhundert gegenwärtiger Normalisierer sich als bereits widersprüchlich erweist, ist Misstrauen angebracht. Insofern ist Blitz' Arbeit wertvoll nicht nur als historischer Beitrag, sondern auch als einer zur Debatte über die Zukunft: zum Stellenwert der Nationen in Europa, oder selbst einer europäischen Nation, die, anfangs kosmopolitisch gedacht, zum kulturalistischen Ausschluss führen könnte.

Titelbild

Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert.
Hamburger Edition, Hamburg 2000.
436 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3930908565

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