Kein Kampf den Artfremden!

Warum wir eine Ethik der Alterität entwickeln müssen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Ganz offen darf in Deutschland seit Jahren rassistisch gegen Fremde gehetzt und deren physische Vernichtung gefordert werden! Dabei sind es keineswegs nur private Organisationen, die massiv gegen die Invasion „Artfremder“ hetzen: solche Stimmungsmache findet nachhaltige Unterstützung durch ein in Bonn und Leipzig tätiges Bundesamt, das einem Bundesministerium – derzeit geleitet von einer CSU-Ministerin – untergeordnet ist!

Die Warnungen dieses Amtes, das per Gesetz dem vehementen Schutz der Eingeborenen verpflichtet ist, lauten so – wenn auch ein wenig redigiert: „Im Gegensatz zu den einheimischen (indigenen), von Natur aus bei uns vorkommenden Arten, sind gebietsfremde Arten zu uns gekommen. Dies kann beabsichtigt oder unbeabsichtigt erfolgen. Seit dem Beginn der Jungsteinzeit haben Einbringung und Etablierung Gebietsfremder in Mitteleuropa in unterschiedlich starkem Umfang stattgefunden. Dabei spielen die Zunahme von Handel und Verkehr eine so wichtige Rolle, dass die Entdeckung Amerikas 1492 zur Abgrenzung dient: Arten, die vorher – z. B. durch die Römer in der Antike – eingebracht wurden, werden als Archäozoen und Archäophyten bezeichnet, nach 1492 eingeführte Arten als Neozoen und Neophyten.“ Bei diesen „gebietsfremden Arten“ gibt es nun einige, die ganz besonders gefährlich sind, die sogenannten „invasiven Arten“, vor denen das Bundesamt folgendermaßen warnt: „Die meisten gebietsfremden Arten stellen kein Problem dar und werden teilweise sogar als Bereicherung empfunden. Nur wenige gebietsfremde Arten gefährden in ihrer neuen Heimat die Vielfalt und werden daher als ‚invasiv‘ bezeichnet. Invasive Arten können z. B. in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen zu einheimischen Arten treten und diese verdrängen, Krankheiten übertragen oder durch Kreuzung mit einheimischen Arten den Genpool verändern. Gebietsfremde Arten [können] aber auch ökonomische oder gesundheitliche Probleme verursachen.“

Das derart besorgte Bundesamt rät zu folgenden Strategien zum Umgang mit invasiven Arten: „[Es] wird international empfohlen, Regelungen zu invasiven Arten auf einen dreistufigen Ansatz aufzubauen: Im Sinne des Vorsorgeprinzips soll primär die Einbringung weiterer Arten verhindert werden, neue invasive Arten sollen durch ein Frühwarnsystem rechtzeitig erkannt und ihre Etablierung und Ausbreitung – solange dies noch machbar und finanzierbar ist – durch Sofortmaßnahmen verhindert werden. Ist dies nicht möglich oder die invasive Art schon lange bei uns und weit verbreitet, sollen ihre Auswirkungen je nach Einzelfall gemindert werden.“

Das alles klingt schon bedrohlich genug. Um die derart amtlich beschworenen Gefahren noch ein wenig plastischer zu machen, lasen die Menschen, die im Monat März in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn saßen, folgende Schilderung, – erneut ein wenig stilistisch verändert: „Wenn es dunkel wird, kommen die Räuber. Sie streifen um die Häuser, klettern über Gartenzäune und kippen Mülltonnen um. Ob Hannover oder Hamburg, Münster oder Mönchengladbach: Deutschland hat ein Problem. Natürlich gehören die nächtlichen Räuber nicht in die Stadt, genau genommen gehören sie gar nicht nach Deutschland. Ursprünglich stammen sie aus Nordamerika. Die fremden Räuber stehen für ein weltweites Phänomen: sie werden aus anderen Ländern eingeschleppt und siedeln sich dauerhaft an. Doch zuwandernde Arten – Neobiota genannt – sind keine Bereicherung der regionalen Arten. Sie verändern oft die natürlichen Systeme und können sie sogar gefährden. ‚Das sind dann sogenannte invasive Arten‘, erklärt der Artenschutzexperte. ‚Sie haben unerwünschte Auswirkungen auf andere Arten und das ganze Biotop.‘“

Alles nur zu unserem Schutz!

Die ersten Zitate stammen aus Dokumenten des „Bundesamts für Naturschutz“ (BfN), der wissenschaftlichen Behörde des Bundes für den nationalen und internationalen Naturschutz. Seiner Selbstdarstellung zufolge ist es eine der zahlreichen Ressortforschungseinrichtungen des Bundes und gehört zum Geschäftsbereich des Bundesumweltministeriums, das es fachlich und wissenschaftlich in Fragen des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie bei der internationalen Zusammenarbeit unterstützt. Zur Erfüllung seiner Aufgaben betreibt das BfN wissenschaftliche Forschung auf diesen Gebieten und setzt verschiedene Förderprogramme um. Das BfN nimmt zudem wichtige Aufgaben beim Vollzug des internationalen Artenschutzes, des Meeresnaturschutzes, des Antarktis-Abkommens und des Gentechnikgesetzes wahr.

Nach dem geltenden Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) ist das Ansiedeln gebietsfremder Arten in der freien Landschaft von den Bundesländern zu genehmigen, sofern dies nicht im Rahmen von Land- und Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei oder biologischem Pflanzenschutz erfolgt. Die Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) enthält aktuell Besitz- und Vermarktungsverbote für vier Tierarten: Amerikanischer Biber, Grauhörnchen, Geier- und Schnappschildkröte. Das also sind solche „invasiven Arten“, von denen die Rede war.

Das zweite Zitat stammt aus einem eindrucksvoll bebilderten Text in der März-Ausgabe von „mobil“, dem Magazin der Deutschen Bahn. (http://mobil.deutschebahn.com/was-bleibt/die-stille-invasion-2/) Bedrohlich starren den Betrachter die dunklen Augen des nordamerikanischen Waschbärs an, der Text macht deutlich, dass es keineswegs allein um die artfremden Mülltonnen-Räuber geht: „Dass sich in unserer Umgebung etwas verändert, kann man überall beobachten: Kanada- und Nilgänse schwimmen in Parks auf Teichen und Seen. Rotbraune Nacktschnecken kriechen über den Waldweg, gelbe Marienkäfer schwirren durch die Luft, und große graue Eichhörnchen turnen in den Bäumen herum. Am Wiesenrand wächst der Riesenbärenklau. Doch diese idyllischen Szenerien trügen. Denn hier finden elementare Verdrängungsprozesse statt, die für schwächere Arten das Ende bedeuten können.“

Und wer ist schuld an dieser fürchterlichen Entwicklung? Die Deutsche Bahn AG weiß die Antwort: „Wenn eine neue Art auftaucht, steckt sehr oft der Mensch dahinter, denn die biologische Wanderung wird fast immer von natürlichen Grenzen wie Bergen, Wasserläufen, Bodenbeschaffenheit und Klimazonen gestoppt. […] Der Transport von Arten in neue Regionen nahm seit Kolumbus’ Zeit und der beginnenden Entdeckungs-, Eroberungs- und bald auch Handelsreisen sprunghaft zu.“

Doch nicht nur die nordamerikanischen Waschbären, die chinesischen Wollhandkrabben, die spanischen Wegschnecken, die Kanada- und Nilgänse und die grauen Eichhörnchen verbreiten sich in unseren heimischen Gefilden und gefährden unsere heimischen Arten. Noch viel schlimmere Auswirkungen hat die Ansiedlung fremder Pflanzenarten, vor denen nicht nur das Bundesamt für Naturschutz, sondern auch der BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.), der NABU (Naturschutzbund Deutschland e.V.) und der World Wildlife Fund (WWF Deutschland) in teilweise dramatisierter Manier warnen.

So hat sich das Drüsige Springkraut – 1839 aus dem Himalaja nach England und 1920 nach Deutschland gebracht – seither bei uns unaufhaltsam ausgebreitet, der Riesenbärenklau kann sogar für den Menschen gefährlich werden. Auch viele Tierarten können Krankheiten wie zum Beispiel Malaria verbreiten, die es bislang bei uns noch nicht gibt.

Es ist einfach schrecklich! Die indigenen Arten, nein, wir alle sind bedroht durch die Fremden! Magnus Wessel, als Artenschutzexperte vom NABU in dem Bahn-Magazin zitiert, weiß diesen Rat: „Gartenbesitzer können statt exotischer Pflanzen heimische Arten wählen und so deren Lebensräume stabilisieren helfen. Und unbekannte Pflanzen oder Pflanzenteile gehören in den Müll, nicht auf den Kompost.“

Bin ich allein überempfindlich, wenn ich solche und ähnliche Texte lese? Mir jedenfalls wird einigermaßen unwohl zumute, bei solchen Texten, die von Verdrängungsprozessen, von bedrohten Lebensräumen, von Gebietsfremden, von Ausleseprozessen, vom Kampf um Lebensraum, von gesundheitlichen Bedrohungen durch die Artfremden und von eigenem Artenverlust handeln. Vor allem dann, wenn sie dazu aufrufen, alles das Fremde „in den Müll“ zu geben und keineswegs in den Kompost: „Denn sonst könnten Vögel dort Samenkörner aufnehmen, in der Umgebung verbreiten und so der stillen Invasion erneut Vorschub leisten.“

Seit dem Jahr 1500 ist Deutschland das Ziel von Einwanderern: Zu seinem Vorteil

Von Oktober 2005 bis Februar 2006 zeigte das Deutsche Historische Museum in Berlin zwei beeindruckende Ausstellungen zum Thema „Zuwanderungsland Deutschland“: die eine – konzipiert von Sabine Beneke – befasste sich mit den Hugenotten, die andere – konzipiert von Rosmarie Beier-de Haan – dokumentierte die Migrationen nach Deutschland.

Mit dem programmatischen „Vorwort“ der beiden überaus lesenswerten Kataloge machten die Ausstellungsmacherinnen deutlich, worum es ihnen zu tun war: „Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wird dieser Tatsache politisch Rechnung getragen. Damit hat die Diskussion um Zuwanderungsfragen einen vorläufigen rechtlichen Abschluss gefunden, indes in ihrer politischen Bedeutung kaum an Aktualität verloren. Nur selten reicht dabei der Blick zurück über die letzten Jahrzehnte hinaus. Mit den beiden zeitgleichen und ineinander verschränkten Ausstellungen […] möchte das Deutsche Historische Museum das Bewusstsein dafür schärfen, dass Zuwanderung nach Deutschland alles andere als ein neues Phänomen ist, sondern vielmehr eine lange und wenig bekannte Geschichte hat.“

Die Ausstellung „Migrationen 1500-2005“ spannte einen Bogen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart und stellte dabei die politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhänge von Zuwanderung nach Deutschland heraus. Die Darstellung ging von einem recht weiten Migrationsbegriff aus: Sie zeigte Wanderhandel und temporäre Arbeitsmigration ebenso wie dauerhafte Einwanderung, Flucht aus religiösen und politischen Motiven wie auch die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts. Die staatliche Regulierung dieser Bewegungen war ein Schwerpunkt der Ausstellungen und bearbeitete Fragen wie diese: Unter welchen politischen Prämissen erfolgten Einschluss und Ausschluss? Welchen Gruppen wurden die Einreise, der befristete Aufenthalt oder aber die vollen Bürgerrechte gewährt?

Entgegen der landläufigen Vorstellungen von einer statischen vormodernen Gesellschaft war schon Alt-Europa ständig „in Bewegung“ (Klaus J. Bade). Die Ausstellung betrachtete somit auch die Migrantengruppen der Vormoderne: Bekannt sind etwa die protestantischen Glaubensflüchtlinge, wie die Hugenotten – denen wir Max Weber wie Thomas de Maizière verdanken. Heute eher unbekannt sind viele andere Gruppen, wie zum Beispiel die oberitalienischen Wanderhändler, die seit dem 17. Jahrhundert nach Deutschland kamen. Zugleich zeigte die Ausstellung, dass in der vornationalstaatlichen Epoche weitere große Migrantengruppen sich zwischen den deutschen Partikularstaaten bewegten: Das waren erwünschte Gruppen wie die wandernden Handwerksgesellen oder das städtische beziehungsweise ländliche Gesinde auf der einen Seite, unerwünschte Gruppen wie die Bettler oder das „Fahrende Volk“ auf der anderen Seite.

Auch nach der Neuordnung Europas 1815 blieb Deutschland ein Land mit vielen Einzel-Staaten, zwischen denen viel Wanderungsbewegungen stattfanden: Für die Zeit vor der Reichsgründung 1871 stellte die Ausstellung exemplarisch zwei Gruppen vor, die im Ausland – und das meinte zu dieser Zeit immer auch die anderen deutschen Staaten – Arbeit suchten. Viele erwerbsfähige Menschen aus dem Eichsfeld etwa mussten im Sommer nach Sachsen oder Hannover wandern, um in der Landwirtschaft oder in Zuckerfabriken zu arbeiten; andere zogen als Wanderhändler durchs Land.

Im Kaiserreich wandelte Deutschland sich zum „Arbeitseinfuhrland“. Dabei gab es in der staatlichen Migrationspolitik Konflikte um solche erwünschte, weil wirtschaftlich notwendige Arbeitseinwanderungen auf Zeit und um unerwünschte Einwanderungen auf Dauer. Beispielhaft zeigte die Ausstellung dies an den russisch-polnischen Saisonarbeitern und den russischen Juden seit den 1880er-Jahren. Die Migrationen des 20. Jahrhunderts waren geprägt durch Kriege, Flucht und Vertreibung. Wegen des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels warb das Deutsche Reich zivile Arbeitskräfte aus dem Ausland an, andere wurden unter Zwang nach Deutschland gebracht.

Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg kamen Hunderttausende aus den abgetretenen deutschen Gebieten ins Deutsche Reich. Gleichzeitig flohen viele Juden vor Pogromen aus Osteuropa. Sie waren als „lästige Ostjuden“ in der Weimarer Republik unerwünscht. Die Nationalsozialisten setzten ihre unmenschliche Bevölkerungspolitik durch, die sowohl der Rassenideologie als auch kriegswirtschaftlichen Interessen folgte. Im Zuge dieser Politik wurden deutsche Volksgruppen umgesiedelt, während „rassisch Unerwünschte“ vertrieben und millionenfach in Vernichtungslagern ermordet wurden. Das „Dritte Reich“ perfektionierte das System der Verschleppung von Menschen zur Zwangsarbeit und der Ausbeutung von Kriegsgefangenen bis zum Tod. Zu jener Zeit wurden umstandslos jene Formeln gebraucht, die oben zitiert worden sind!

Die Ausstellung zur Nachkriegszeit begann mit den großen Fluchtbewegungen in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Der unterschiedliche Umgang mit den Vertriebenen in West- und Ostdeutschland war ein Element des Kalten Krieges: Die DDR und die Bundesrepublik behandelten auch in der Folge Zu- und Eingewanderte in unterschiedlicher Weise. Die DDR warb ausländische Arbeiter an, um ihren mit der Abwanderung nach Westen gestiegenen Arbeitskräftemangel zu decken, als Beispiel wurden in der Ausstellung vietnamesische Textilarbeiterinnen vorgestellt. Migranten in der DDR wurden von Einheimischen ferngehalten und begegneten oft Fremdenfeindlichkeit– trotz des offiziell propagierten Internationalismus.

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland schloss 1955 den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab, denn im „Wirtschaftswunderland“ drohte Arbeitskräftemangel trotz des Zustroms aus der DDR bis 1961. Den Italienern folgten Griechen, Türken und Jugoslawen. Heute sind die „Gastarbeiter“ vielfach Einwanderer und leben in der zweiten und dritten Generation in Deutschland, auch wenn ihre Integration jahrzehntelang nicht aktiv politisch begleitet wurde, was Thilo Sarrazin und seine Gesinnungsfolger zu ihren Thesen ermutigt, die sich auch zuweilen eines ausschließenden Vokabulars bedienen.

Mit der Öffnung der Grenzen in Osteuropa 1988/1989 sah sich die Bundesrepublik erneut mit Zuwanderungen neuen Ausmaßes konfrontiert: DDR-Übersiedler, Aussiedler/Spätaussiedler und Flüchtlinge kamen in großer Zahl ins Land. Die Zahl temporärer Arbeitsmigranten nimmt nicht erst seit der Einführung der „Green Card“ im Jahr 2000 wieder zu, schon seit den 1990er-Jahren warb die Bundesregierung gezielt Arbeitskräfte an.

Mit dem Zusammenwachsen Europas wächst seine Abgrenzung nach außen. Das wirft die Frage von Einschluss und Ausschluss besonders in Bezug auf Flüchtlinge und Asylsuchende neu auf. Der Einschränkung des deutschen Asylrechts und der zunehmenden Schließung der EU-Außengrenzen wurden in der DHM-Ausstellung einzelne Schicksale von Asylbewerbern und von illegal in Deutschland lebenden Menschen gegenüber gestellt.

Lässt man diese lange Einwanderungsgeschichte vor dem inneren Auge Revue passieren, so muss man anerkennen, dass die deutsche Gesellschaft von allen diesen Menschen, die auf deutsches Territorium kamen, gewonnen hat, – unabhängig davon, ob sie erwünscht oder unerwünscht waren.

Es braucht eine Ethik der Alterität

Es bleibt dennoch ein ewig heikles Verhältnis, dasjenige zwischen Innen und Außen, zwischen Indigenen und Fremden, zwischen Ortsansässigen und Einwanderern. Wie kann man als Soziologe vernünftig mit diesen Fragen umgehen, wenn man sich nicht von Angst vor den „Artfremden“ einschüchtern lassen will? Und wenn dabei als erste Prämisse zu gelten hat, dass es keine Parallelen zwischen Waschbären und menschlichen Einwanderern geben darf.

Wer sich einen klaren Kopf bewahren möchte, dem seien die Arbeiten des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman (Jahrgang 1925) ganz besonders ans Herz gelegt. In seinem Buch „Legislators and Interpreters“ von 1987 formulierte dieser seine grundlegende Einschätzung der Soziologie als einer „emanzipatorischen Wissenschaft“. Das ursprüngliche Anliegen einer „emanzipatorischen Wissenschaft“ genannt Soziologie wurde zuerst im Gedanken gesellschaftlicher Planung, Gestaltung und Kontrolle konkretisiert. Zygmunt Bauman ist jedoch aufgrund seiner Erfahrungen im marxistischen Polen skeptisch gegenüber den Möglichkeiten der planenden Vernunft und kennt die immanenten Grenzen von Planungsprozessen und die Schwierigkeiten ihrer Implementation. Die Soziologie hat, historisch betrachtet, das Konzept der planenden Vernunft für die Gesellschaft fruchtbar gemacht, um Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenhang zu ermöglichen. Sie hat dabei, so Baumans Interpretation, übersehen, dass Planung letztlich freiheitseinschränkend ist. Dies kommt in seinem Vorwurf an die klassische Soziologie deutlich zum Ausdruck, sie sei auch eine Wissenschaft der Unfreiheit gewesen.

Anders jedoch als in der jüngeren Tradition der Kritischen Theorie, wie etwa bei Jürgen Habermas, wird das normative Fundament einer „emanzipatorischen Soziologie“ nicht auf einem Diskurs gegründet, sondern unter Rückgriff auf die Tradition eines naturalistisch interpretierten Humanismus. Das Modell der Sozialwissenschaften als Gesetzgeber der sozialen Realität verweist im Moment seines Scheiterns bereits auf ein anderes Modell: das der Sozialwissenschaft als einer hermeneutischen Wissenschaft und als einer Entwicklerin von unterschiedlichen Interpretationsangeboten. In beiden Modellen – sowohl im emanzipatorischen als auch im hermeneutischen – finden sich emanzipatorische Potentiale, allerdings nach Bauman nur im zweiten auf jene Weise, die der individuellen Befreiung dienlich ist. Der Zusammenhang zwischen beiden Modellen lässt sich als Übergang von der Idee der „Emanzipation durch Gestaltung“ zur Idee der „Emanzipation durch Reflexion“ beschreiben. Erst durch Reflexion wird das Individuum frei, weil es nun eine Wahl zwischen unterschiedlichen Interpretationsangeboten treffen kann.

Mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne, den Bauman in Anlehnung an Jean-François Lyotard mit dem Einsetzen des erkenntnistheoretischen Zweifels an den großen Metaerzählungen gegeben sieht, ist die Emanzipation der Soziologie von ihrer Rolle als „Gesetzgeberin“ – wie ursprünglich bei Auguste Comte vorgesehen – möglich und die Realisierbarkeit einer emanzipatorischen Sozialwissenschaft denkbar geworden, weil sie das Ende einer über Deutungsmacht erzeugten eindeutigen kulturellen Ordnung der Orientierung betont. Diese Zurücknahme monopolartiger Deutungsansprüche zugunsten der Entwicklung einer Vielfalt von Interpretationsangeboten ist für Bauman der Schritt der Befreiung der Soziologie aus dem selbstgewählten Diktat als Planungswissenschaft.

Dieser erste Zugang zu einer emanzipatorischen Wissenschaft Soziologie wurde in den vergangenen Jahren vor allem durch die Auseinandersetzung Baumans mit dem Holocaust und mit der inneren Struktur der Moderne weiter entwickelt. Wenn es einen Übergang von der Moderne zur Postmoderne gegeben hat, dann stellt sich die historisch interessante Frage: Wie geht die Moderne unter der Bedingung ihrer Infragestellung mit ihrem eigenen Ordnungsanspruch um? Denn dass der machtgestützte Ordnungs- und Deutungsanspruch der Moderne ohne Auseinandersetzung, Kampf, Konflikt, wenn nicht gar Krieg aufgegeben wird, ist unwahrscheinlich. Nicht nur, weil das Deutungssystem Stabilität der Orientierung verspricht, sondern vor allem, weil dessen Ordnung bestimmten Interessen dient. So etwa dem Interesse des Nationalstaates, der sich erst entfalten kann, wenn sein Ordnungsanspruch innerhalb eines bestimmten Territoriums nicht in Frage gestellt werden kann.

Diese Einsicht führt Bauman – unter Rückgriff auf biografische Erfahrungen seiner Frau im Ghetto von Warschau – zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der historischen Diskussion um die Einschätzung des Holocaust. Diese bewegt sich zwischen der Vermutung, dass der Holocaust ein Unfall der Geschichte war bis hin zur These, dass der Holocaust eine Konsequenz des deutschen „Sonderwegs“ gewesen sei. Beide Deutungen verwirft Bauman vor dem Hintergrund seiner Thesen über die Moderne als einer Kultur, die über die Erzwingung kultureller Eindeutigkeit Ordnung herzustellen sucht. Und genau diese Eindeutigkeit der Ordnung ist es, die eine Einrichtung wie das Bundesamt für Naturschutz herzustellen versucht, mit seinen Unterscheidungen von „gebietsfremden“ und „einheimischen“ Arten.

In seiner mit dem Amalfi-Preis ausgezeichneten Schrift „Modernity and the Holocaust“ von 1989 sucht Bauman zu zeigen, dass der Holocaust eine in der Struktur der Moderne angelegte Möglichkeit war und ist, die sich – sofern die Strukturen der Moderne beibehalten werden – jederzeit wieder entfalten kann. Der Holocaust ist in den Augen Baumans als ein verzweifelter Versuch der Moderne zu verstehen, Unordnung und Uneindeutigkeit aus der Kultur zu entfernen. Im Holocaust geschah dies, indem die jüdische Bevölkerungsgruppe der offenen Verfolgung ausgesetzt wurde, weil sie im Ordnungsschema der Moderne nicht klassifiziert werden konnten – Bauman formuliert dies selbst so: „Jews mean the impossibility of order“ – und insofern ein beständiges Manko der Ordnungsfähigkeit der Moderne darstellten. Bauman zeigt in seinen Studien, wie das Instrumentarium der gesetzgebenden Vernunft – Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, Distanzierung von den Objekten, ein stark bürokratisch geprägtes verwaltungstechnisches Denken – eingesetzt wurde, um die Juden als Rasse auszurotten, damit der Ordnungsanspruch der Moderne doch noch durchgesetzt werden konnte.

Mit „Modernity and the Holocaust“ zeigte Bauman zum ersten Mal die sozialgeschichtliche Kraft seiner Grundüberlegungen. Er demonstrierte, wie die Geschichte der Kultur als eine Geschichte der Erzwingung von Ordnung, der Erzwingung einer eindeutigen kulturellen Ordnung geschrieben und wie gerade erst im Rahmen dieser Geschichtsschreibung der Holocaust sinnvoll interpretiert werden kann. In diesem Buch wurde der Grundstein gelegt, um den Charakter der Moderne als einer Kultur der Ordnung offen zu legen. Gleichzeitig kann sozialgeschichtlich wie auch sozialtheoretisch gezeigt werden, dass es innerhalb der Moderne einen verzweifelten Kampf um die Erzeugung einer einheitlich eindeutigen Ordnung gibt und dass dieser Kampf – und das ist Baumans Pointe – von Anfang an verloren ist. Denn eindeutige Ordnungen basieren darauf, dass alles in hinreichender Weise klassifiziert werden kann, es darf nichts Unklassifizierbares zurückbleiben. Nach Baumans normativer Position ist gerade das aber unmöglich. Denn es gäbe mindestens zwei soziale Phänomene, die auf die Grenzen jeder auf Klassifikation beruhenden kulturellen Ordnung hinweisen: der Fremde und der Jude, die beide der binären Klassifikationsordnung von Freund/Feind nicht eingefügt werden können beziehungsweise dürfen. Bereits Georg Simmels Analysen zum Fremden haben gezeigt, dass der Fremde, obwohl er in einem sozialen Bezugssystem verortet wird, nicht zu diesem sozialen Bezugssystem gehört. Selbiges gilt nach Bauman auch für den Juden. Juden und Fremde sprengen das klassifikatorische System der Klarheit der Orientierung, welches der Kultur der Moderne vorausliegt.

Dies führt Bauman direkt dazu, den Kern der Kultur der Moderne als einen beständigen Kampf gegen die Ambivalenz, gegen das Uneindeutige, das nicht Klassifizierbare zu verstehen. Ambivalenz ist der innere Feind der Moderne, in dessen Bekämpfung sich die Moderne überhaupt erst konstituiert und die deren besondere Gewaltsamkeit erzeugt. Soziale Verhältnisse müssen geordnet sein, und zwar geordnet durch eine klare Klassifikation. Aber die Kultur der Moderne kann den Kampf gegen die Ambivalenz nicht gewinnen, weil sie unausrottbar ist. Ambivalenz ist jeder sprachlichen Ordnungsstruktur inhärent, weil es keine perfekte Ordnungsstruktur geben kann. Die Moderne als ein kulturelles Projekt wird sich ihres Versagens angesichts des beständigen Scheiterns im Kampf gegen die Ambivalenz bewusst und in dem Moment, in dem die Ambivalenz als eine produktive Kraft der Entfaltung von Freiheitschancen gesehen wird – in diesem Moment setzt für Bauman der Übergang von der Moderne zur Postmoderne ein. Ambivalenz, Toleranz und Freiheit sind in den Augen von Bauman Chancen der Postmoderne, die über die Möglichkeit der ordnungserzwingenden Moderne hinausgehen.

Baumans letzte Arbeiten eröffnen erste Pfade hin zu einer „Ethik der Alterität“, einer Ethik der Verantwortlichkeit, die er in „Postmodern Ethics“ von 1993 und „Life in Fragments“ von 1995 expliziert. Ausgehend von einer Kritik der für typisch modern gehaltenen Ethik Kants, als einer formalen und an einem universalistischen Gesetzbegriff orientierten ethischen Maxime, zeigt Bauman, dass der Kategorische Imperativ auf der Idee der gesetzgebenden Vernunft beruht, aber unter postmodernen Bedingungen – allerdings auch unter allen anderen Bedingungen – nicht funktionieren kann. Denn er wird der Realität des menschlichen Daseins nicht gerecht, die durch Ambivalenz, Irrationalität und eine unüberschaubare Menge an Konsequenzen einzelner Handlungsentscheidungen ausgezeichnet ist, was dazu führt, dass ethisches Räsonieren in Form des Kategorischen Imperativs der Komplexität ethischer Entscheidungssituationen nicht genügen kann.

Die von Bauman geforderte Ethik der Alterität dreht im Verhältnis zur typischen Ethik der Moderne die Argumentationsfigur um und spricht nicht mehr von einem allgemeinen ethischen Gesetz, sondern davon, dass man sich der Forderungsstruktur, der individuell an einen herangetragenen ethischen Entscheidungssituation – und das heißt vor allem der ethischen Bedeutsamkeit des Anderen – bewusst werden muss, um eine ethische Entscheidung fällen zu können. Bauman skizziert eindringlich, wie schwierig diese Ethik der Verantwortung zu realisieren ist, weil sie über das Gesellschaftliche hinaus auf Wurzeln verweist, die vor der Gesellschaft liegen: auf einen ein- und angeborenen ethischen Impuls, der durch die gesetzgebende Vernunft zerstört zu werden droht.

In der Stadt, in der ich aktuell lebe, spazieren viele Menschen sehr gerne im Schatten von Platanen – die aus Nordamerika über England und Frankreich erstmals im Jahre 1743 nach Deutschland kamen – und beobachten dabei den schnellen Flug der zahlreichen Halsbandsittiche – die ursprünglich aus Afrika kamen – die sich seit Jahren in diesen Bäumen ihre Höhlen bauen. Sowohl im Kurpark als auch im Schlosspark, in dem diese „gebietsfremden“ Pflanzen und Tiere in großer Zahl leben, erholen sich Menschen, die nach dem amtlichen Ordnungsschema des Einwohnermeldeamtes sehr unterschiedlichen Kategorien angehören. Mir persönlich gefällt die Übersetzung „Neubürger“ für die Bezeichnung „Neozoen“ gut. In seiner ersten Rede vor der Bundesversammlung sagte der neue Bundespräsident, Joachim Gauck, – in Anspielung an den Politikwissenschaftler Dolf Sternberger – dass auch er sich wünsche, ein Bürger zu sein, „nichts weiter, aber auch nichts weniger als das“, und er gab uns allen auf, dafür zu sorgen, dass wir unseren Kindern dieses Land so anvertrauen sollen, dass sie sagen können, dass es auch ihr Land sei. In einer „lebendigen Bürgergesellschaft“ muss und wird auch hinreichend Platz für „Einwanderer“ sein!

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.