Annäherungen an die Angst

Ein von Corinna Waffender und Regina Nössler herausgegebenes „konkursbuch“ erkundet die verschiedenen Facetten eines allgegenwärtigen Gefühls

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie nähert man sich einem Phänomen, das gleichzeitig bestens erforscht und doch schwierig zu fassen ist? Das ganz universal jedem bekannt ist, sich aber ganz individuell bei jedem unterschiedlich äußert? Das Wissenschaft und Kunst über alle disziplinären Grenzen hinweg gleichermaßen beschäftigt? Am besten nähert man sich solch einem Phänomen von ganz vielen verschiedenen Seiten – und genau dieses ist das Prinzip der sogenannten „konkursbücher“ aus dem kleinen gleichnamigen Tübinger Verlag.

Mit der „Angst“ haben sich die beiden Herausgeberinnen Corinna Waffender und Regina Nössler dieses Mal eines Themas angenommen, das sich bei aller psychologischen und kulturellen Faszination vor allem körperlich manifestiert. Der Angst kann man sich sprachlich allenfalls annähern. Wirklich erfahrbar wird sie nur im Moment des Schreckens, im Moment der Konfrontation, also im Bild. Es ist deshalb nur konsequent, dass sich in diesem Buch neben literarischen und literaturwissenschaftlichen Artikeln, neben psychologischen Erfahrungsberichten und biologische Erläuterungen auch immer wieder Fotografien und Bilder mit dem Thema beschäftigen.

Am eindrucksvollsten wird der Angst sogar dort nachgespürt, wo sich Sprache und Bilder verbinden, wie etwa in den Bildern und Haikus von Saori Kaneko und Corinna Waffender. Amorphe Gestalten, Krallen und Zähne, dunkle Hintergründe und scharfkantige Farbsplitter vermitteln im Zusammenhang mit einfachen, symbolisch aufgeladenen Versen noch am ehesten einen intersubjektiv nachvollziehbaren Eindruck von psychischer Bedrohung und körperlicher Belastung.

Generell ist es mit der Lyrik jene literarische Gattung, die Gefühl und Ausdruck, Sprache und Sprachlosigkeit am engsten miteinander verwebt, die dem irrationalen Moment der Angst einen passenden literarischen Ausdruck verleiht.

„dein eifersüchtiger schatten
schleicht um meine angst

er küsst
er leckt
er geistert zweifelnd durch die wälder wilden wahns“

heißt es im Gedicht „schatten“ von Maria Popp. Die beängstigende Nähe von Liebe, Eifersucht und Irrsinn wird hier beinahe körperlich spürbar und die Leerstellen des Gedichtes fungieren als Einfallstore für subjektive Erfahrungen und Ängste. In der beredten Prosa erhält dasselbe Thema schnell plakative und reißerische Züge, wie etwa in dem anonym veröffentlichten „Tagebuch der Angst“: „Er kommt auf mich zu, biegt mir den Arm nach hinten. Entreißt mir die Kleine. Ich habe Angst um die Kinder. Rede ruhig auf ihn ein. Er schreit. Schweiß auf seiner Stirn. Hass. Wut. Aggression.“

Die naturwissenschaftlichen Aspekte des Phänomens „Angst“ erläutert der Biologe Ross Sinclair. Sein Aufsatz trägt den Titel „Die Hosen voll“, obwohl er in ihm doch gerade erläutert, warum es evolutionsbiologisch betrachtet zwar durchaus sinnvoll ist, seine Blase, nicht aber seinen Darm unter Angst zu entleeren: Während eine gefüllte Blase eine nötige Flucht in jedem Fall erschwere, konnten unsere Vorfahren aus den Nahrungsresten im Verdauungstrakt die für Extremsituationen nötige Energie gewinnen. „Außerdem waren in den letzten fünfhundert Jahren unsere Hauptfeinde wahrscheinlich Säugetiere mit einem gut ausgeprägten Geruchssinn – es wäre also eine außerordentlich schlechte Idee gewesen, sich ausgerechnet in seinem Versteck zu entleeren.“ Das ist unterhaltsam und flüssig geschrieben, gute Unterhaltung im Stile populärer Sachbücher.

Überhaupt sind es eher die Beiträge von nichtprofessionellen Schreibern, die aus diesem Sammelband herausragen. Eine Berliner Zahnärztin beispielsweise berichtet aus ihrem Praxisalltag, der sie wohl so oft und so intensiv wie bei kaum einem anderen Beruf mit den Ängsten ihrer Mitmenschen konfrontiert. Dass die Selbstmordrate unter Zahnärzten aufgrund der „absorbierten Angst“ ihrer Patienten überdurchschnittlich hoch sei, verweist sie in das Reich der Fabeln. Vielmehr als ängstliche Patienten ließen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwischen Krankenversicherung, Praxisleitung und Konkurrenz viele Ärzte an ihrem Beruf zweifeln. Und da spielt die Schmerzangst der Patienten dann doch noch eine wichtige Rolle, denn der emotionale und zeitliche Mehraufwand mit einem Angstpatienten wird den Zahnärzten nur von der privaten Versicherung erstattet. Verängstigte Kassenpatienten bedeuten hingegen neben zusätzlichem Stress auch finanzielle Einbußen.

Ein wenig banal kommen dagegen einige literarische Arbeiten daher. Die Berliner Autorin Tanja Dückers etwa berichtet von ihrer Furcht vor Buchmessen und besonders Buchmessebesuchern. Diese erwarten von der jungen Schriftstellerin anscheinend nicht nur Lebenserfahrung und Weisheit im Überfluss, sondern auch noch die Bereitschaft, beides willig mit ihnen zu teilen. Nach Angst allerdings klingt das weniger. Eher nach ein bisschen Koketterie mit der eigenen Bekanntschaft.

Literarisch überzeugender ist da schon der Auszug aus Kathrin Rögglas 2010 erschienem Erzählungsband „die alarmbereiten“. Röggla nimmt sich die mediale Panikmache vor allen erdenkbaren Katastrophen zum Anlass, Untergangslust und Untergangsüberdruss in einem kurzen Text zusammenzuführen. In einem von indirekter Rede und atemlos hektischen Konjunktivketten geprägten Monolog verdeutlicht sie eine bis in die Syntax spürbare Panik: „ich solle erst mal luft holen. also erst mal luft holen, bevor ich weiterredete. man könne mich gar nicht verstehen, man verstehen ja gar nicht, was ich sagen wolle.“ Hier wird der panischen Angst der einen mit dem rationalen Unglauben der anderen geantwortet, bis die Katastrophe sich – beinah wie nebenbei – doch noch ereignet: „dass sie auch gleich aus dem fenster 23 stockwerke nach unten sehen werde, dass sie sich bereits in den rahmen gestellt habe und 23 stockwerke nach unten fallen werde, das werde ich ihr doch nicht sagen […]. Das werde ich ihr doch nicht sagen wollen, dass das ihr letzter satz gewesen sei.“

So bleibt man nach der Lektüre des Bandes ein wenig ratlos zurück. Die Angst nämlich, wie der Titel sie behauptet, scheint es gar nicht zu geben. Es dürfte sogar schon schwer fallen, aus den verschiedenen Beiträgen so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer existenziellen Eigenschaften herauslesen zu können. Viel eher präsentiert der Sammelband eine enorme Vielfalt von Reaktionen auf eine enorme Vielfalt von verschiedenen Ängsten – und vielleicht sollte man gerade darin seine Stärke sehen: er präsentiert ein diffuses Gefühl auf angemessen diffuse Art und Weise.

Titelbild

Corinna Waffender / Regina Nössler (Hg.): Konkursbuch 46 "Angst". Literarische, journalistische und wissenschaftliche Texte und Bilder.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2007.
256 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783887692469

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