Der Krieg muß beendet und Hitler gehängt werden

Die Familie Jünger in Wolf Jobst Siedlers Autobiographie

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den wichtigsten Zeitzeugen, die aus nächster Nähe die Familie Jünger beobachten konnten, gehört Wolf Jobst Siedler. Siedler, am 17. Januar 1926 in Berlin als Sohn eines ehemals kaiserlichen Diplomaten und späteren Industriesyndikus geboren, wurde im Januar 1944, zusammen mit Jüngers Sohn Ernstel, wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und angeklagt.

Ernst und Gretha Jüngers erstgeborener Sohn Ernstel und der spätere Publizist und Verleger Wolf Jobst Siedler waren damals gerade 17 und 18 Jahre alt. Aufgewachsen in Elternhäusern, die - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - der Hitlerei ablehnend gegenüber standen, hatten sie sich im Kameradenkreis mit regimekritischen Äußerungen exponiert und waren denunziert worden. Erst am 12. Februar erfuhr Ernst Jünger in Paris von der Verhaftung seines Sohnes, ließ sich beurlauben und fuhr nach Berlin, um bei den zuständigen Behörden vorzusprechen. Am 21. Februar besuchte Gretha Jünger ihren Sohn Ernstel (genannt Atel) im Wilhelmshavener Arrest und berichtete in ihrem Tagebuch: "Da wir allein sind, erfahre ich rasch, um was es geht. Abhören fremder Sender, politischer Widerstandskreis innerhalb der Klassenkameraden, von denen der eine sich zum Spitzel hergab. Atels Äußerung: `Der Krieg muß beendet und Hitler gehängt werden!´ Sie gab den Ausschlag des Pendels."

In seinen Memoiren bekennt Wolf Jobst Siedler, daß er sich an die Festnahme, die Verhöre durch die Marinejustiz, den Prozess auf der Insel Wangerooge und die Haftanstalt Wilhelmshaven kaum noch erinnern könne. Ihre "Verfehlungen" mochten widerspiegeln, was in ihren Elternhäusern über das NS-Regime und die Kriegsaussichten gedacht wurde, doch hätten sie sich nie als "Widerstandsbewegung" verstanden. In Berlin hatte sich inzwischen Siedlers Vater der Angelegenheit angenommen. Er riet Ernst Jünger ab, bei Großadmiral von Dönitz vorzusprechen, dies würde die Sache nur verschlimmern. Indessen gelang es Siedlers Schwiegervater, die Vernehmungsprotokolle und die Urteilsbegründung vom 17. Februar 1944 aus der "Marinegerichts-Auffangstelle Mürwik" zu bekommen, die Kopien sind noch heute im Besitz des Autors. Aus diesen Unterlagen, die Siedler in seiner Autobiographie zitiert bzw. paraphrasiert, geht klar hervor, daß die beiden Angeklagten bereits 1943 das Ende des Hitler-Regimes für gekommen hielten: "Der Krieg sei überall verloren, darin waren wir uns einig, er werde nur noch fortgeführt, um das Regime zu verlängern." Siedler hatte zudem erklärt, daß die NSdAP "nur noch kurze Zeit bestehen" werde und dass er andernfalls auswandern wolle, weil es "in Deutschland keine Freiheit" gebe. Schwerer wog für den Beisitzer, einen Korvettenkapitän und überzeugten Nazi, Ernstels Satz, daß Hitler "gehängt" werden müsse; die Bereitschaft von Jüngers Sohn, "mit am Strick zu ziehen", empörte besonders.

Ernst Jünger und Wolf Jobst Siedler hatten Glück, dass in ihrem Falle das ansonsten rücksichtslose Marinefeldgericht ein Einsehen zeigte und versuchte, die defaitistischen Äußerungen der Angeklagten auf die erste Hälfte des Jahres 1943 zu datieren: zu diesem Zeitpunkt waren beide noch minderjährig und konnten nach dem Jugendstraftrecht verurteilt werden; und es waren Fälle bekannt, in denen weit harmlosere Äußerungen zu Todesurteilen geführt hatten. Den Marinerichtern gelang es, Jüngers Sohn und seinen Freund Wolf der Nazijustiz zu entziehen, auch der hitlertreue Dönitz forderte keine Revision des Verfahrens. Die beiden Angeklagten wurden zu Festungshaft verurteilt, zur "Frontbewährung" begnadigt und kamen im September 1944 frei. Am 29. November 1944 wurde Ernstel Jünger "durch Kopfschuß bei einer Spähtruppbegegnung im Marmorgebirge von Carrara" getötet. Erst im Januar 1945 erhielten die Eltern in Kirchhorst die schreckliche Nachricht.

Lange war Ernst Jünger im Zweifel darüber, ob sein Sohn "gefallen" oder "ermordet" worden sei. Wolf Jobst Siedler berichtet, daß er Jahre später die sterblichen Überreste des Sohnes exhumieren und nach Wilflingen überführen ließ, nachdem er in der ehemaligen Oberförsterei der Familie Stauffenberg Wohnung genommen hatte: "Noch kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag", berichtet Siedler weiter, "als wir den Neunzigsten seines alten Freundes Martin v. Katte in dem Schloss der Stauffenbergs feierten, sagte Ernst Jünger plötzlich zu mir: `Sie wollen gewiss Ihren Freund besuchen.´ Wir gingen dann zusammen auf den kleinen Friedhof, wo Ernst und inzwischen auch seine Mutter unter den anderen Toten lagen. Er blieb lange, fast überlange in Gedanken stehen, so dass mich die Situation bedrückte."

Ernst und Gretha Jüngers Tagebücher, der Briefwechsel mit Carl Schmitt und jetzt die Memoiren von Wolf Jobst Siedler - sie zusammen ergeben ein wohl recht genaues Bild jener Schicksalsjahre. Siedler freilich führt seine Erinnerungen bis in die Gegenwart fort. Er berichtet von der Verleihung des Goethe-Preises an Ernst Jünger, die 1982 in Protesten und Tumulten unterzugehen drohte. Ernst Jünger überlebte auch seinen zweiten Sohn, Carl Alexander, den Patensohn Carl Schmitts, der sich in Berlin das Leben nahm: "Mein Mann hat sich ein wenig zurückgezogen", sagte Lieselotte Jünger, die zweite Ehefrau, "es ist ja bedrückend für einen Vater, beiden Söhnen ins Grab nachschauen zu müssen."

Titelbild

Wolf Jobst Siedler: Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern.
Verlag?, Berlin 2000.
400 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3886807045

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