„Walden“ in Island

Gyrðir Elíasson liefert in seinem Roman „Am Sandfluss“ eindringliche Momentaufnahmen aus der Waldeinsamkeit

Von Kristy HuszRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristy Husz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte.“ Dies sind die viel zitierten Worte Henry David Thoreaus – man denke nur an den Film „Der Club der toten Dichter“, in welchem sie bei jeder Sitzungseröffnung des Clubs feierlich beschworen werden –, die Gyrðir Elíasson dem zweiten Kapitel seines jüngsten Buches nicht zufällig voranstellt. Ein Mann bezieht eine Blockhütte unter Bäumen, um ein genügsames, unabhängiges Leben zu führen, um über Natur und Gesellschaft zu meditieren, um das Erfahrene zu einem Kunstwerk zu verarbeiten: Das Grundgerüst von Thoreaus „Walden oder Leben in den Wäldern“ schimmert sachte durch Elíassons „Am Sandfluss“, mag auch amerikanischer Idealismus isländischer Schwermut, die Blockhütte zwei Wohnwagen gewichen sein.

„Seit Beginn des Frühjahrs bin ich nicht mehr in der Stadt gewesen, und ich vermisse sie auch nicht. Die Stadt war noch nie mein Ort, und ich habe dort auch nie sonderlich gut malen können“, bekennt ein namenloser Ich-Erzähler, der sich in zwei Caravans am Rande eines Campingplatzes im Südwesten Islands niedergelassen hat – den einen benutzt er zum Schlafen, Kochen, Wohnen, im anderen befindet sich sein Atelier. Viel erlebt er hier nicht; er bricht hin und wieder zu Naturwanderungen auf, studiert die Gletscher, „die da am Horizont thronen wie Sahneeis auf der Festtagstafel des Schöpfers“, versucht sich an Baumgemälden, notiert seine Träume, liest Schriften Marc Chagalls und Vincent van Goghs, sinnt über die Einsamkeit und seine „selbstauferlegte Verbannung“ nach oder geht fischen. Nennenswerte Vorfälle gibt es in den zweiundzwanzig atmosphärisch dichten Prosaskizzen kaum: Einmal brennt es, ein andermal bebt schwach die Erde, die Stippvisite des fremd gewordenen Sohnes – vom Vater „getrennt durch mehr als nur das schmale Tischchen hier in diesem Wohnwagen“ – sorgt kurz für Unbehagen. Aufregender ist für den Maler die Beobachtung einer mysteriösen Unbekannten, wie sie mal einen roten Regenmantel trägt, mal in olivgrüner Kleidung mit der Umgebung verschmilzt, mal nackt durch den Fluss schwimmt.

Die Sandá, der titelgebende, sich unterhalb der Caravansiedlung durch die Landschaft windende „Sandfluss“, ist eng mit dem Schicksal des Erzählers verbunden, dessen bisheriges Leben „wie ein sandiger Fluss gewesen ist, karg und verweht wie dürres Ödland in einem schneelosen Winter.“ Daran wird sich wenig ändern. Im Verlauf der „Sommer“ und „Herbst“ überschriebenen Kapitel soll sich Misserfolg um Misserfolg auf das Dasein des Mannes häufen, der sich wünscht, wie der russische Maler Iwan Schischkin „das sichtbare und verborgene Leben der Bäume“ auf Papier bannen zu können. Doch der geheime Pakt, den man dazu offenbar mit den Pflanzen schließen muss, will diesem „einsame[n] Waldwolf, der durch das unwegsame Dickicht seines Lebens streift“, nicht recht gelingen. Glaubte er anfangs noch, die teils menschlich anmutende Natur würde ihn gütig aufnehmen, inspirieren, „mit ihren grünen Zweigen umarmen“ und überdies „von allem Seelenkummer heilen“, so stellt er bald fest: „Über Bäume und ihre verschiedenen Unterarten weiß ich, trotz eingehender Lektüre zu diesem Thema, im Grunde nicht Bescheid“ und „malen kann ich sie eigentlich auch nicht.“

Leicht hat man es mit der Sehnsucht nach Waldeinsamkeit „in einem Land, in dem Wälder selten und die vorhandenen klein sind“, nicht. Der dünn besiedelte Inselstaat am Polarkreis wuchert mit anderen Pfunden. Er ist bekannt für seine hohe Autorendichte und lange Tradition des Geschichtenerzählens und war noch vor wenigen Monaten Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Im August 2011 wurde die Hauptstadt Reykjavík zur ersten UNESCO-Literaturstadt außerhalb des englischen Sprachraumes ernannt. Gyrðir Elíasson, 1961 in Reykjavík geboren, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller des literaturaffinen Landes. Seit 1983 hat er zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Gedichtsammlungen veröffentlicht; im vergangenen Jahr wurde ihm der Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen, die wichtigste Auszeichnung für skandinavische Autoren. Sein Werk, das leider erst zu einem Bruchteil ins Deutsche übersetzt ist, besteht aus so kompakten wie zarten Texten, die häufig das Verhältnis von Mensch und Natur umkreisen, die Grenze zwischen dem Logischen und dem Fantastischen bröckeln lassen und Melancholie zum intensivsten Gemütszustand erkoren haben. Der sparsame, sorgfältige Umgang mit Worten ist Elíassons Begeisterung für die Gattung der Novelle sowie seiner nach eigenen Angaben fehlenden Technik und Ausdauer zum Schreiben umfangreicher Bücher geschuldet. Die kleine Form beherrscht er dagegen meisterhaft: Auch „Am Sandfluss“ ist eher Novelle als Roman, überzeugt durch erfrischende Knappheit, einen leisen Galgenhumor, eindringliche Momentaufnahmen.

Letztere führt Elíasson auf seine seit Kindertagen bestehende Beeinflussung durch die Kunst zurück. Sein Großvater, dem er in der Erzählung ein Denkmal setzt aus Spänen, „die um ihn herumwirbelten wie kurzflügelige Holzschmetterlinge“, war Zimmermann; der Vater, dem das Buch gewidmet ist, Künstler. Den gleichen Weg schlug der Bruder ein und hätte Elíasson, wie er einmal gesagt hat, selbst eingeschlagen, wäre er sich nicht früh eines Mangels an Talent bewusst geworden. Stattdessen wurde er Dichter und lässt seinen Protagonisten den passenden Schluss daraus ziehen: „Wahrscheinlich besteht kaum ein Unterschied zwischen den Wörtern einer Geschichte und den Pinselstrichen eines Gemäldes.“

Wie schon der ebenfalls bei WALDE+GRAF erschienene Debütroman „Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft“ ist „Am Sandfluss“ kunstvoll gestaltet, was umso mehr erfreut, wenn man weiß, dass Aussehen und Beschaffenheit eines Buches für Elíasson von zentraler Bedeutung sind. Das besondere, mit dem Inhalt korrespondierende Design sei deshalb kurz vorgestellt: Den Buchblock umrahmt, wie als Vorbote des bewaldeten Handlungsortes, tannengrünes Vorsatzpapier. Einige hilfreiche Anmerkungen der Übersetzerin Betty Wahl beschließen den Text, filigrane Zeichnungen der Illustratorin Laura Jurt durchsetzen ihn und rücken manches erwähnte Objekt in ein neues Licht. Eine Tasse, eine Pinselrolle, ein Blatt wirken hier nur auf den ersten Blick alltäglich – bei genauerem Hinsehen entpuppen sich magische Details. Und selbst die Paginierung erweist dem Inhalt Reverenz; im Kapitel „Sommer“ sind die Seitenzahlen in der oberen Hälfte des Außensteges zu finden und fett gesetzt, im Kapitel „Herbst“ hingegen, wenn es mit den Temperaturen und der Stimmung des Erzählers bergab geht, zieren sie, in normaler Schriftstärke, die untere Hälfte.

Verwoben mit Reflexionen über Kunst und Natur, schildert die anfangs so beschaulich daherkommende, zweiteilige „Pastoralsonate“, wie der kleine Roman vielleicht als Anspielung auf Ludwig van Beethovens beziehungsweise André Gides „Pastoralsymphonie“ untertitelt ist, nämlich auch die Geschichte einer klinischen Depression. Elíassons Maler ist gezeichnet von einem tiefen seelischen Leiden, er krankt an sich selbst, an der Welt und seiner Verlassenheit darin, an seiner zunehmenden Unfähigkeit, eine gelungene Naturstudie hervorzubringen, an dem Gefühl, dass niemand an in glaubt. Obwohl das Fehlen menschlicher Nähe, das jede abgekapselte Künstlerexistenz mit sich bringt, ihn quält, ist er außerstande, etwas dagegen zu unternehmen, denn in Wahrheit ist für ihn „das meiste inzwischen belanglos geworden.“ Jedes Wort, jede Andeutung über die sonderbare Verzweiflung, die den Erzähler gepackt hat, liefert behutsame Einblicke in eine zerrüttete Seele.

Im Spätherbst, als dem Mann selbst die geliebte Natur trostlos erscheint, hat er einen Traum. Die schöne Fremde, auf die er im Sommer ein Auge warf, begleitet ihn auf seinem Weg durch den Wald, hinunter an den silbrig glänzenden Sandfluss. Zwischen ihnen entspinnt sich ein metaphysisches Gespräch: „‚Ist das wirklich ein Traum?‘, frage ich und hoffe, dass die Antwort nein ist. ‚Ja‘, sagt sie. ‚Ganz sicher.‘ ‚Und wenn der Traum zu Ende ist?‘, frage ich. ‚Was wird dann aus uns?‘ Sie antwortet nicht.“

Ein Bild der Sandá wird sein letztes Werk sein.

Titelbild

Gyrðir Elíasson: Am Sandfluss. Pastoralsonate.
Mit Illustrationen von Laura Jurt.
Übersetzt aus dem Isländischen von Betty Wahl.
Walde + Graf Verlag, Zürich 2011.
144 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783037740392

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