Kristallisation der Kulturen

Ein beachtliches Debüt: Olga Grjasnowa hat mit „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ einen Roman geschrieben, der auf der Höhe der Zeit nicht weniger als alles verhandelt

Von Andreas ThammRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Thamm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es klingt ein bisschen nach Kalkül, und sicher ist es wahr, dass der Hanser Verlag einen guten Fang gemacht hat. Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer der Birken liebt“ hat alles, was der potentielle Verkaufsschlager oder zumindest Kritikerliebling 2012 braucht: Eine junge Literaturinstitutsabsolventin mit Migrationshintergrund, einen unaufgeregten Realismus, eine Baumart im Titel und den höchst gegenwärtigen Kosmopolitismus – und einen Plot, der in Baku, Frankfurt und Tel Aviv spielt.

Die 1984 in Baku, Aserbaidschan, geborene Olga Grjasnowa lässt keine Wünsche offen: Ihr Debüt ist politisch ohne zu plärren, um Israel und Palästina kommt sie im Endeffekt nicht herum, und die blutige Vergangenheit ihrer Heimatstadt Baku wird zum richtigen Zeitpunkt literarisch angeschnitten. Die Hauptstadt Aserbaidschans rückt in den Fokus des Feuilletons, denn dort wird der kommende Eurovision Song Contest ausgetragen – und auch die heutige Regierung hat Blut an den Fingern.

Dass Grjasnowa in ihrem ersten Buch so viele Themen anschneiden kann, ohne zu straucheln, ohne zu viele Klischees zu bemühen, ohne abgebrüht zu wirken, ist einer Tatsache geschuldet: Sie kann schreiben. Und wie: Grjasnowas Heldin Mascha – aus Baku nach Deutschland geflüchtet, multilingual, angehende Dolmetscherin, Jüdin – gerät in einer hochkomplexen Welt ins tiefste persönliche Trauma, flieht nach Israel, lebt an der Grenze zum Zusammenbruch. Der Stoff könnte 800 Seiten füllen. Grjasnowa hat es bei 284 belassen. Sie beherrscht die Kunst der Auslassung, versteckt große Dramen zwischen den Kapiteln.

Mascha ist der moderne Kristallisationspunkt der Kulturen. Als Kind erlebt sie in Aserbaidschan die Unruhen um den Konflikt in Bergkarabach, ein bis heute zwischen Armeniern und Aserbaidschanern umstrittenes Gebiet. Das Baku ihrer Erinnerung ist kaum lebenswert: „Ein sechzehnjähriges jüdisches Mädchen, wurde in ihrem Wohnzimmer erschossen, weil ihr Schatten im Fenster zu sehen gewesen war. Sie verblutete auf einem Wohnzimmerteppich mit einer für den Kaukasus typischen Ornamentik und Färbung.“

In der Gegenwart hat Mascha diese Erfahrung scheinbar überwunden. Sie ist die ausgestellte, hochintelligente Kosmopolitin, ein Bindeglied zwischen Ost und West, spricht Russisch, Arabisch, Französisch und Deutsch. Der erste Teil des Romans spielt in Frankfurt am Main, wo Mascha mit ihrem Freund Elias lebt, wo ihr libanesischer Exfreund, Sami, und der türkische beste Freund, Cem, Beistand leisten. Elias erleidet beim Fußballspielen eine Oberschenkelverletzung. Was zunächst relativ harmlos aussieht, wächst sich zu einer tödlichen Lungenembolie aus. Das Realitätskonstrukt der bodenständigen, selbstbewussten jungen Frau bricht auf einen Schlag zusammen.

Das ist das eine Feld, auf dem der Roman stattfindet, das persönliche Schicksal. Dass Mascha Jüdin ist, ihr Exfreund Sami ein Araber, macht einen zusätzlichen, übergeordneten Konfliktraum auf. Mascha muss sich Vorwürfen und Selbstzweifeln aussetzen und sucht nach dem eigenen Ort auf dem Globus. Grjasnowa wird über all dem nicht theatralisch. Stattdessen erzählt sie so unaufgeregt, dass es streckenweise fast lakonisch wird: „Ihren ersten Winter in Israel verbrachten meine Verwandten in Schutzbunkern und mit Gasmasken.“ Ihr gelingt eine grenzübergreifende Vernetzung von Geschichte, ohne dass „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ dadurch überladen gerät.

„Meine Trauer war keine Krankheit und Israel kein Sanatorium.“ Die geografische Flucht vorm Trauma muss zwangsläufig scheitern. Mascha lernt in Tel Aviv einen entfernten Zweig ihrer Familie kennen, hat einen Job, der sie unterfordert und stürzt sich in eine diffuse Beziehung zur früheren Elitesoldatin Tal. Die Orientierung im neuen Land macht ihr dabei weniger zu schaffen, als die Orientierung zwischen den Haltungen, denen sie sich nicht anschließen kann. Die aserbaidschanisch-deutsche Jüdin lernt im gelobten Land Zynismus: „Würde es keinen Krieg mehr geben, wären wir alle von heute auf morgen arbeitslos und wir könnten nicht mehr in den Bars von New York, London, Paris oder Berlin vor unseren potentiellen Sexualpartnern damit prahlen, dass wir in einem Kriegsgebiet lebten.“

Mascha in Tel Aviv ist eine andere, ein kaputtere als in Frankfurt, doch das liegt nicht an Tel Aviv und Frankfurt, sondern am Verlust, der sie verfolgt und nicht loslässt und nicht zu verarbeiten ist. „Ich wollte bleiben, mich häppchenweise verlieren und nie wieder aufsammeln“, sagt Mascha, denn aus der Ferne versucht Cem, sie zurück in die Heimat zu locken. Er und Sami haben sie zu einer Dolmetscherprüfung der UN angemeldet. Mascha ist nicht bereit dafür und gerät immer tiefer in den Sog ihrer Neurosen, ihrer neuen Desorientierung. Die Figur Mascha hat die denkbar größte Fallhöhe, aber sie fällt authentisch.

„Der Russe ist einer, der Birken liebt“ ist eine politische Lehrstunde für die Leser. Zum Glück verfällt Grjsnowa nur höchst selten der Versuchung, tatsächlich dezidiert politisch zu werden. Dass sie beispielsweise Cems Vater ganz erstaunt und empört von einer Versammlung der CDU zurückkehren lässt – das ist so programmatisch und plump, dass es nicht zu diesem eleganten Roman gehören will. Die Stärke des Buches ist, dass es der Autorin über weite Strecken gelingt, Multikulti nicht als naives Utopia hinauszuplärren, sondern als alltäglichen status quo zu manifestieren.

„Saddam war tot. Elischa war tot. Die Tage des Schlachtens.“ Es ist ein epischer Sonnenuntergang am Ende dieses beachtlichen Debüts. Aber er ist nicht ohne die Hoffnung, auf einen erneuten Aufgang. Das Mantra von Maschas Großmutter, einer KZ-Überlebenden, schwingt jedoch bedrohlich im Hintergrund: „Alles wiederholt sich. Alles wiederholt sich. Alles wiederholt sich.“

Titelbild

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
285 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238541

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