Völkermord durch Vernachlässigung

Robert L. Hilliard über den Überlebenskampf jüdischer 'Displaced Persons'

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Europa schätzungsweise sieben bis neun Millionen Menschen durch den Krieg heimatlos geworden. Bis Ende 1945 hatten die alliierten Mächte über sechs Millionen Menschen in ihre Heimatländer zurückgeschickt; in Deutschland waren etwa eineinhalb bis zwei Millionen sog. "Displaced persons" (DPs) verblieben, die nicht in ihre frühere Heimat zurückkehren wollten oder dort Vergeltung oder Verfolgung befürchten mußten. Am 8. Mai 1945 befanden sich unter diesen DPs etwa 200.000 Juden, die Zwangsarbeits-, Konzentrations-, Vernichtsungslager und vor allem die Todesmärsche quer durch das deutsche Reichsgebiet überlebt hatten. Viele jüdische Überlebende waren nicht bereit, in Osteuropa zu leben, wo der Antisemitismus nach Kriegsende keineswegs verschwunden war. Die meisten von ihnen, die nicht im Rahmen des Repatriierungsprogramms der Alliierten in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt oder bereits früh nach Palästina ausgewandert waren, sammelten sich in Lagern für vertriebene und entwurzelte Menschen innerhalb der alliierten Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs, vor allem in der britischen Zone in Norddeutschland und der amerikanischen Zone in Süddeutschland, und organisierten sich bald als Gruppe mit eigenen politischen Zielen, z. B. der Absicht, aus Europa zu emigrieren.

Bei Kriegsende lebten die meisten jüdischen DPs in überfüllten Arbeits-und Konzentrationslagern, zusammen mit nichtjüdischen DPs. Robert L. Hilliard, Professor für Kommunikationswissenschaft am Emerson College in Boston, war unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat in Deutschland stationiert. Im Auftrag seiner Armeezeitung besuchte er das St. Ottilien-Konvent bei München, wo ehemalige KZ-Häftlinge ein Befreiungskonzert gaben. Dort begegneten ihm ausgemergelte Gestalten in zerlumpter KZ-Kleidung, die bewacht wurden und einer demütigenden Behandlung, zeitweise auch antisemitischen Übergriffen, ausgesetzt waren. Die Ernährung, die hygienischen Bedingungen und die Unterkünfte in den Lagern waren meist schlecht. Bei Kriegsende trug die Armee der Vereinigten Staaten die Hauptlast bei der Betreuung der DPs, wobei das Militär davon ausging, die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die als administrative und untergeordnete Dienststelle des Militärs arbeitete, werde die Versorgung der DPs übernehmen. Eine unklare Politik, unangemessene Überwachung, unkoordinierte Programme, eine im allgemeinen schlechte Verwaltung sowie Konflikte mit dem Militär brachten die Arbeit der UNRRA fast zum Erlahmen.

Die Nachrichten über die Probleme in den Sammelzentren, formuliert als offene Briefe an die amerikanische Bevölkerung, erreichten bald die amerikanische und britische Regierung. Besonders jüdische Führungspersönlichkeiten beschwerten sich über die Situation der jüdischen DPs in den Lagern. Tausende Juden in den Vereinigten Staaten fühlten sich moralisch verpflichtet, für die Rehabilitierung und Wiederansiedlung der Überlebenden der Judenvernichtung in Europa finanziell Sorge zu tragen. Im Sommer 1945 ernannte daraufhin der amerikanische Präsident Truman Earl D. Harrison zum Sonderbotschafter, um die Situation der Juden in den Lagern der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland zu untersuchen. Harrison sah die einzige Lösung des Problems in der Auswanderung der jüdischen Lagerinsassen nach Palästina. Die Harrison-Mission stellte einen entscheidenden Wendepunkt dar, sowohl wegen ihrer Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der DPs, die sich nicht zuletzt deshalb beträchtlich verbesserten, weil die jüdischen DPs die Anerkennung als eigenständige ethnische Gruppe erhielten, als auch, weil sie Truman dazu veranlaßte, sich am Kampf für die Öffnung Palästinas zu beteiligen. Zudem konnten auch die großen jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen in den Vereinigten Staaten, deren problematische Rolle Hilliard sehr gut herausarbeitet, ihre anfangs zögerliche Tätigkeiten nun ausdehnen. Bei der amerikanischen Militärregierung wurde ein besonderer Berater für jüdische Angelegenheiten ernannt; für die Grundbedürfnisse sorgte nun vornehmlich die UNRRA.

Detailliert schildert Hilliard die Gründung einer Organisation der Überlebenden in der amerikanischen Zone, die von den Betroffenen mit Unterstützung amerikanischer Armeerabbiner und Soldaten der Jüdischen Brigade vorangetrieben wurde. Ziel war es, alle DPs unter einer einzigen Dachorganisation zu vereinen. Am 20. Juni 1945 wurde dann in einer Kaserne der erste Kongreß der Zionisten in Bayern abgehalten, bei dem die Statuten des Verbandes der jüdischen Überlebenden in der amerikanischen Zone Bayern angenommen wurde. Am 25. Juli 1945 folgte schließlich eine koordinierende Konferenz jüdischer Überlebender in St. Ottilien. Mit dem schnellen Anwachsen der Zahl der Juden in der amerikanischen Zone entwickelte sich das neugegründete DP-Zentralkomitee zur wichtigsten Vertretung der DPs und wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1946 von den Amerikanern als offizielle Vertretung der Juden in der amerikanischen Zone anerkannt.

Zwischen 1945 und 1952 nahmen die Vereinigten Staaten etwa 400.000 DPs auf, darunter etwa 20 Prozent Juden, Großbritannien ließ etwa 100.000 Menschen einwandern und schätzungsweise 136.000 jüdische DPs gingen nach Israel. Dass dieser sieben Jahre währende Überlebenskampf der Befreiten, die sowohl mit der Gleichgültigkeit der Alliierten als auch mit dem Antisemitismus vieler amerikanischer Soldaten zu kämpfen hatten, eine entsetzliche Zeit für die Überlebenden des Nazi-Terrors war, unterstreicht der Bericht Earl Harrisons, der mit den Worten endet: "Wir scheinen die Juden ebenso zu behandeln, wie die Nazis sie behandelt haben - nur daß wir sie nicht vernichten." Robert Hilliard liefert mit seinem Buch einen ergreifenden Augenzeugenbericht, der mit einem auch und gerade für die Zeit 'nach Auschwitz' immer wieder zu unterstreichenden anamnetischen Imperativ endet: "Die Welt vergisst. Jene von uns, die sich erinnern oder sich darum sorgen, was wir aus dem Holocaust gelernt haben, müssen ihr Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass der Rest der Welt nicht vergisst, und dass Völkermord - ob vorsätzlich oder durch Vernachlässigung - nie wieder geschieht: an niemandem, zu keiner Zeit, nirgendwo."

Titelbild

Robert L. Hilliard: Von den Befreiern vergessen.
Campus Verlag, Frankfurt 2000.
240 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3593363976

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