„Die Welt ist ein formloses weißes Tosen.“

Wie die Tränen der Engel die Welt bedecken und wir alle deshalb nicht wissen, was unter uns ist: Über Jón Kalman Stéfanssons Roman „Der Schmerz der Engel“

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Magret Atwood 1972 die erste Literaturgeschichte Kanadas schrieb, identifizierte sie das Motiv des „Survival“ als grundlegend für die kanadische Literatur. Das schiere Überleben in einer harschen und kargen Umwelt, ebenso wie das Überleben einer eher kleineren Nationalliteratur bildete nach Atwood den allgemeinen Grundtenor für die literarischen Stimmen des ganzen Landes. Es wäre naheliegend, für die isländische Literatur ähnliches zu vermuten: das Überleben auf einer unwirtlichen Vulkaninsel und die Selbstbehauptung ihrer Literatur. Der Blick in die isländische Literaturwelt zeigt allerdings einen anderen, eigenen roten Faden: die Suche, die Sehnsucht, das Finden eines kleinen Stücks Wärme und Geborgenheit. Im wörtlichen und übertragenen Sinne: Auf dieser Suche befinden sich auch die beiden Hauptfiguren in Jón Kalman Stéfanssons Roman „Der Schmerz der Engel“.

Jens, Landpostbote fernab der Hauptstadt Reykjavik, kämpft sich bei Schnee und Eis kurz vor Frühjahrsanbruch durch die weiße Landschaft, um Post zuzustellen. Begleitet wird er von dem namenlosen Jungen, der bereits in Stefánssons Roman „Himmel und Hölle“ seinen ersten Auftritt hatte. Ihre Reise durch die Schneelandschaften ist kein Stürzen durchs Gebirge, hier werden die Figuren nicht wahnsinnig an sich selbst und in der Landschaft. Der isländische Winter und die Massen an Schnee, die als „Tränen der Engel“ alles in eine weiße Unendlichkeit verwandeln, stellen eine Entität dar, die größer ist als jede der Figuren. Sie ringen nicht gegen die Kälte, den Schnee, die Gebirge oder das Meer, um diese Naturkraft zu besiegen – die Reisenden versuchen ihren Weg zurück in die Wärme zu finden. „Lichter sind Botschaften, die das Leben schickt.“ Und diesen Lichtern folgen die beiden, so mäandernd ihr Weg auch manchmal wird: Weil diese Lichter Geborgenheit verheißen, sei es in Form von einer dampfenden Tasse Kaffee oder von zwischenmenschlicher Wärme. Die Natur kann dabei ohnehin niemand bezwingen. Sich in ihrem Toben aber einen Schutz, eine Nische zu suchen, in der man sie für kurze Zeit vergessen kann – dies gelingt den Figuren auf ganz unterschiedliche Weise.

„Er lässt den Blick über die Regale mit all den Büchern schweifen, die angefüllt sind mit Worten, die völlig neue Welten öffnen könnten und neue Himmel, aber Kjartan starrt hinaus in die Nacht. Wie es in einem Menschen aussieht, erkennst du daran, wo er hinschaut.“

Während Jens, der Postbote, seinen Blick eher auf der weiblichen Kundschaft ruhen lässt, sind es für den Jungen immer wieder die Bücher, die ihm neue Welten verheißen. Er findet diese Zufluchten in den meisten Häusern – Islands literarischer Reichtum wird in diesem Roman auf mehr als einer Ebene deutlich. So ist da zum Beispiel der Schulleiter, der niemals das Haus verlässt, „ohne gegen die Langeweile der Welt mindestens ein Buch einzustecken“. So sind aber ebenso die Bezüge und Auseinandersetzungen mit der isländischen Literaturgeschichte. Auch die Figuren selbst nehmen ihren Platz darin ein: „Jens ist zwar kein Schiff, das von der Sonne ferner Länder beschienen wurde, aber er ist der Faden, der uns in den langen Wintermonaten mit der Außenwelt verbindet, wenn uns nur die Sterne Gesellschaft leisten, die Finsternis zwischen den Sternen und der helle Mond.“

Das Motto der Frankfurter Buchmesse 2011, „Sagenhaftes Island“, spielte auf diese reiche Tradition an. Im Isländischen meint „saga“ schlicht „Geschichte“; im deutschen Sprachgebrauch klingt in „Saga“ Ewigkeit, Alterehrwürdiges und Mythos mit. Was für die moderne, deutsche Literatur ein unauflösbares Gegensatzpaar ist, funktioniert in der isländischen Literatur: zeitgenössisches Erzählen mit dem Klang einer uralten Sagenwelt. Das liegt natürlich an der Unverändertheit der isländischen Sprache. Aber auch an ihren zeitlosen Bildern und Motiven. In diese Ahnenreihe fügt sich Stefánssons Roman mühelos ein. Das Buch ist mit seiner ebenso eleganten wie intensiven Erzählweise eine hervorragende Erweiterung des isländischen Horizontes, an dem auch ohne Buchmesse hoffentlich weiterhin solcher Entdeckungen zu machen sind.

Titelbild

Jon Kalman Stefansson: Der Schmerz der Engel. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper Verlag, München 2011.
343 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492053907

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