Verharren zwischen Ambition und Oberfläche

Benjamin Steins neuer Roman ist ein „Replay“ bekannter Zukunftsvisionen

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benjamin Steins neuer Roman „Replay“ ist die Geschichte von Ed Rosen, einem promovierten Softwarespezialisten, der in einem IT-Unternehmen, dem Thinktank des Biologen Prof. Matana, einen Job annimmt und sich als erster Proband für einen in die Stirn implantierten Chip – das sogenannte ‚UniCom‘ – zur Verfügung stellt. „Keine Erinnerung geht mir verloren, die ich nicht selbst verloren gebe. Das UniCom sieht und hört, was ich sehe und höre, und bewahrt es für mich auf.“ Rosen kann Erinnerungen abrufen und wieder sehen: „So gern ich sehe, was ich sehe, weiß ich doch: Es ist nicht real, sondern lediglich eine Erinnerung.“ Welchen Stellenwert hat die Erinnerung gegenüber dem Hier und Jetzt? Schon bald verschwimmen die Grenzen. „Die Welt ist, was wir wahrnehmen“, postuliert Matana. Rosen zieht sich häufig in seine Erinnerungswelt zurück, gibt sich den positiven Erlebnissen hin. Doch Matana warnt: „Wenn du ein System allein über positive Rückkoppelung steuern willst, schaukelt es sich auf bis zur Katastrophe.“ Und genau das passiert. Rosen erwacht und sieht einen Ziegenfuß an der Stelle seines Beines. In seine ‚UniCom-Erinnerungen‘ fügt er gehörnte Pan-Figuren ein, um sie noch von der Gegenwart unterscheiden zu können. Doch es gelingt ihm zunehmend schlechter, Rosen verfängt sich in der Replay-Endlosschleife: „Ich wusste nicht, ob das Geheul, das ich hörte, mein eigenes Schreien war oder das irre Lachen Pans, der auf meinem Rücken einen Tanz vollführte.“ Mit dem Chip, dem künstlichen Sehsinn, befindet sich Rosen „nun auch in einer künstlichen Welt“.

Die Idee des UniCom, das es zunächst als Brille zu kaufen gibt, bis es schließlich implantiert werden kann, ist nicht neu. „Star Trek“-Lieutenant Commander Geordi La Forge, der Chefingenieur des Raumschiffs „Enterprise“, trug in der Fernsehserie (Produktionsjahre 1987 bis 1994) einen direkt an das Gehirn angeschlossenen, brillenähnlichen „VISOR“, der dem von Geburt an Blinden das Sehen sowie verschiedene Analysen des Gesehenen ermöglichte. Später wurde La Forges „VISOR“ – im Kinofilm „Der erste Kontakt“ – durch Augenimplantate ersetzt. Ähnlich der Spektralanalysen oder der Infrarotbilder, die La Forges Wahrnehmung erweitern, kann Ed Rosen in Steins Roman Erinnerungen mit Bilduntertiteln versehen, Figuren wie Wasserzeichen einfügen und somit Gespeichertes manipulieren.

Wenn bei der Erinnerungsmanipulation auch der futuroperfekte Aspekt hinzukommt, bewegt sich Steins Zukunftsvision schnell auf Philip K. Dicks „Minority Report“ zu. Ähnlich der „Precrime“-Einheit der Polizei überwacht die UniComs das „Security Department“. Die Iris-Scans zum Registrieren der Bevölkerung sind ebenfalls aus dem Film zur Kurzgeschichte „Minority Report“ (2002) bekannt. Ausgerechnet WikiLeaks-Aktivist Julian Assange bekommt in Steins Roman einen Gastauftritt und darf die totale Überwachung kritisieren: „Assange […] greift tief in die rhetorische Trickkiste, beschwört Orwell, bezeichnet die Corporation als Big Brother Trust“. Der direkte Hinweis auf George Orwells Dystopie „1984“ durfte in diesem Buch einfach nicht fehlen, so scheint es. Ed Rosen bekümmert zum Schluss der Geschichte, dass er „nichts Neues mehr erleben“ wird und „auf ewig im Kreis (s)einer Erinnerungen“ treibt. Das sind fast schon Zitate aus Jonathan Mostows „Surrogates“ (2009).

Die Anzahl der Anspielungen auf literarische und cineastische Science Fiction-Klassiker in Benjamin Steins Roman ist beachtlich, sodass sich der Autor genötigt sah, im Epilog „den Autoren und Regisseuren, deren Werke in Ed Rosens Replay Spuren hinterlassen haben“, für ihre Inspiration zu danken. „Replay“ versucht, Vieles in sich zu vereinigen und so an Bedeutung zu gewinnen; dabei geht leider oft die klare Handlungslinie verloren. Zwar schafft Stein beispielsweise im Symbol des Wattschen Dampfreglers eine geschickte Verbindung zwischen Maschinenwelt und menschlichem Verhalten, indem die Bewegungen des Dampfreglers mit den rhythmischen Bewegungen eines Schoßes beim Akt sowie das zugrundeliegende Prinzip der Rückkoppelung als notwendiger Bestandteil entwicklungsfähiger Systeme begriffen wird. Die Erläuterung dieser Koppelung bedingt aber einen mehrseitigen Exkurs, der bis zu Fliehkraftreglern in Mühlen des 16. Jahrhunderts führt. Oder: Die Vorstellung Ed Rosens und seiner Biografie, seiner Vorlieben und dem Einstieg in die Firma Matanas ist so zerfasert, dass stellenweise verwirrende Langeweile zu entstehen droht, vor allem, wenn jeder Zug eines Schachspiels genau beschrieben wird und Rosen ausführt, dass er einen Algorithmus entwickelt habe, der es ermöglicht, „den Spielstand einer Schachpartie in ein Array von Ganzzahlen zu codieren“. Oder: Der beginnende Realitätsverlust Ed Rosens während grenzenloser sexueller Gier- und Lusterfahrungen, die ihm das UniCom ermöglicht, ist so detailverliebt geschildert, dass der Schlussteil des Romans einem erotischen Schmuddelheftchen gleicht. Immer wieder entgleitet die Aufmerksamkeit in Nebenschauplätze.

Wenn die langatmigen Teile von Steins „Replay“ gestrafft worden wären, hätte die Geschichte gewonnen. Wenn dann der Blick auf die Auswirkungen des UniComs abseits von Tickermeldungen und Kurznachrichten zum Protest Julian Assanges geschärft worden wäre, dann hätte sich mancher Leser sicher über den faszinierenden und beängstigenden Realitätsbezug des Buches gefreut. Doch die spannenden Themen werden nur angerissen, es sind flüchtige Blicke auf die Gesellschaftsvision, die in dem Roman kreiert wird; frei nach Robert Musil wird der „Möglichkeitssinn“ nicht ausreichend genutzt. Das ist durchaus bedauerlich, denn ein Blick auf die Biografie des Autors, der für Computerzeitschriften schreibt, Unternehmensberater für Kommunikationstechnologie ist und einen Blog betreibt, zeigt, dass er weiß, was er schreibt, wenn er die Facebook-Generation vor dem Weg zum transparenten, gläsernen Menschen warnt – „permanent auf Empfang […], verbunden mit der gesamten digitalen Welt“. Benjamin Stein verharrt leider zwischen Ambition und Oberfläche und schafft es nicht, den Konflikt zwischen Realität und virtueller Realität ausreichend zu vertiefen.

Titelbild

Benjamin Stein: Replay. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
173 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783406630057

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