Was vom Schreiben übrig blieb

Ein Tagungsband erhebt das „Schreiben und Streichen“ zu einem „Moment produktiver Negativität“

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen“, spottete Mark Twain. Er wäre demnach ein „Kopfstreicher“, ein „mentaler Streicher“, ein Autor, der seinen Text „avant-la-lettre“ löscht. Doch auch wenn das falsche Wort schon dasteht, gibt es ein Zurück. Es kann getilgt werden, durchgestrichen, überschrieben, geschwärzt, überklebt, umgeschrieben, weggeschnitten, neugeschrieben. Was bleibt, sind Schreibspuren, die auf den Produktionsprozess verweisen, im Endprodukt aber fehlen. Die vorliegende Aufsatzsammlung befasst sich mit diesen textgenetischen Indizien des literarischen Handwerks.

Die Forschungsrichtung der Textgenese, nach ihrem französischen Ursprung aus den 1970er-Jahren auch ‚critique génetique‘, beschäftigt sich mit dem Verlauf des Schreibens und mit den Spuren, die während dieses Vorgangs entstehen und Auskunft geben können über die individuelle Arbeitsweise des Autors, die Entstehungsgeschichte und die Produktionsbedingungen des einzelnen Textes. Im Gegensatz zur Rezeptionsästhetik steht dabei nicht der fertige Text im Fokus, sondern der Weg dahin, sofern er sich in überlieferten Schreibspuren, den Manuskripten und anderen Zeugnissen, abzeichnet. Eine spezielle Form der Schreibspur ist das Streichen, das jedoch, wie die Autoren des Bandes übereinstimmend feststellen, bislang kaum systematisch erforscht ist. Erste Ansätze einer Theorie lieferte in den 1990er-Jahren Almuth Grésillon, die drei Grundformen des Streichens ausmachte. Sie unterschied Streichungen, die das Gestrichene entweder lesbar ließen oder unlesbar machten. Als dritte Form benannte sie die immaterielle Streichung, die das Verworfene ungestrichen lässt, an dessen Stelle jedoch einen neuen Text setzt. Diese drei Streichungsmodi waren der Ausgangspunkt eigener Differenzierungen und Begriffserweiterungen durch die Autoren des Bandes. Als Gegenstände dienten ihnen dabei die Schreibspuren von Literaten des 19. und 20. Jahrhunderts wie Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich Heine, Robert Walser, Robert Musil, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Friedrich Dürrenmatt. Die Streichungspraxis bei Wilhelm Raabe, Hans Morgenthaler und Friedrich Glauser beziehungsweise Josef Halperin wird insbesondere hinsichtlich ihrer Produktionsbedingungen thematisiert.

Als ein „Weglasser“ wie der anfangs zitierte Mark Twain erscheint auch Friedrich Hölderlin, dessen Nicht-Schreiben sich als grafische Lücke oder in drei Auslassungspunkten manifestiert. Das Problem des Spekulativen, das sich aus der Deutung des Nicht-Schreibens Hölderlins und des Streichens überhaupt ergibt, benennt Marcel Lepper. Dieser Gefahr, die aus der kognitiven und intentionalen Ungewissheit des Schreibprozesses resultiert, setzt er eine problembezogene Analyse der Schreibspuren entgegen. Damit würden keine erschöpfend ausformulierbaren Intentionen eingeholt, sondern konkrete propositionale und performative Problem- und Lösungsansätze, die sich aus den Prozessspuren plausibel belegen ließen. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes belegen jene Aufsätze des Bandes, die eine akzentuierte Befragung der individuellen Schreibspuren unternehmen.

Neben dem jungen Hölderlin, der vor dem Hintergrund des Geniekultes zwischen dem Triumph der originalen Reinschrift und dem Scheitern der totalen Schraffur pendelt, stehen Literaten, deren Wort- und Textsuche ungültige Sequenzen produziert, die in den hinterlassenen Manuskripten Zeugnisse des Gestaltungsprozesses sind. Diese Sub-, Hyper- und Hypotexte stehen, gestrichen oder ungestrichen, als Alternativen zum finalen Text. Ihr Verhältnis zueinander ist Thema der einzelnen Aufsätze, die jeweils auch immer theoretische Fragestellungen zum Streichungsbegriff reflektieren. Neben der Textnegierung als Impuls poetischer und poetologischer Exegese wird die Streichung als grafische, funktionale oder intentionale Äußerung behandelt und in Kategorien wie Autorenstreichung sowie autorisierte, nicht-autorisierte und delegierte Fremdstreichung eingeordnet. Der Bogen spannt sich dabei von der abstrakten Theorie, die bei Hubert Thüring in der kulturhistorischen These von der produktiven Negativität als „Modus des modernen Macht-Wissens“ gipfelt, über die historisch-poetologische Perspektive bis hin zur Streichung als dezidiert künstlerisches Ausdrucksmittel, wie es in den Palimpsesten Erica Pedrettis als „Schrift über der Schrift über der Schrift“ erscheint.

Die 18 Aufsätze des Bandes basieren auf den Ergebnissen einer Tagung, die 2009 in Neuchâtel stattfand, und markieren in ihrer Breite, Vielfalt und Fülle erste Eckpunkte einer wissenschaftlichen Erkundung des Streichens, die nicht nur aus editionswissenschaftlicher Sicht, sondern auch für die philologische Erschließung der „Vortexte“ von großem Nutzen sein könnte. Für die in dem Band versammelten Einzeluntersuchungen erscheint es geradezu als Vorteil, dass noch kein umfassenderes festes Paradigma existiert, dem die individuellen Streichungsbefunde zuzuordnen wären. So zeugen die Ergebnisse von heuristischer Offenheit, die dem individuellen Schreib- und Streichmodus ihrer Gegenstände entsprechen.

Titelbild

Lucas Marco Gisi / Hubert Thüring / Irmgard M. Wirtz (Hg.): Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
290 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308503

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